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Tucholsky an die Nachwelt
Susanna Böhme-Kuby
Kurt Tucholsky hat sich trotz seiner Skepsis hinsichtlich eigener Wirkungsmöglichkeiten
immer wieder unmittelbar an Nachgeborene gewandt, und zwar ohne Brechts historischen
Optimismus (»An die Nachgeborenen«, 1938) zu teilen, diese würden
bereits nach dem zweiten Weltkriege in weniger finsteren Zeiten leben. Dennoch
schloß er eine solche Möglichkeit expressis verbis nicht aus, teilte
also durchaus – trotz alledem! - die Hoffnung auf Veränderbarkeit
der Grundlagen unseres Daseins: »Ich kann nicht wissen, in was für
einem Zeitalter Sie leben: ob wiederum in einem bürgerlichen, wo die Ausbeuter
Schweiß und Geld aus den Arbeitenden keltern und zur Belohnung dafür
gut leben dürfen – oder aber ob Sie sich schon in einer fortgeschrittenen
Epoche befinden…«
Er richtete seine verschiedenen Adressen an ein Publikum, das er erst gen Ende
des zweiten Jahrtausends ansiedelte: 1984, 1985, 1991, 2000…, an uns Heutige
also, nicht etwa an die unmittelbare Nachkriegsgeneration der Vierziger und
Fünfziger Jahre, von der er seine illusionslose Vorstellung bereits nach
dem ersten Weltkrieg zu Papier gebracht hatte (1920): »Das ist ja das
Traurige, wer da heraufgekommen ist. (…) Schließlich ist Geld ja
eine Waffe, der die Gesellschaft auf die Dauer der Jahre nicht widerstehen kann
– und dann? Dann haben wir die Verpöbelung Deutschlands, nicht nur
in Berlin, in vollem Maße. Denn dieses neue verbrauchte, nicht gute Blut
wird natürlich in der zweiten Generation noch übler werden. (…)
Und es ist nicht einmal das schöne Schauspiel einer Dekadenz: es ist einfach
Schwäche, die sich hinter Frechheit verbirgt.(…) Aber daß wir
in dreißig Jahren eine nette Gesellschaft an der Spitze haben werden –
wo sitzt heute Geld! –: das weiß ich gewiß.«
Offenbar teilte er auch nicht die 1925 von George Grosz formulierte »unausgesprochene
Hoffnung jedes Künstlers, der auf künftige Anerkennung rechnet, daß
die Menschen neue Maßstäbe und Urteile finden werden”, wenn
er uns heute Lebenden nachrief: »Aber besser seid ihr auch nicht als wir
und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine.«
Im hier zitierten »Gruß nach vorn« sprach er von der Schwierigkeit,
ja der Unmöglichkeit, potentielle Leser von 1984 überhaupt zu erreichen.
Und dabei wäre es ihm nicht etwa um posthume Anerkennung in Form von Erfolg
gegangen, den kannte er ja zu Lebzeiten, und der hatte ihm schon damals nicht
genügt, sondern – wenn überhaupt – um politische Wirkung.
Als er deren Ausbleiben am Ende der Zwanziger Jahre definitiv konstatieren mußte,
als nämlich manifest war, daß die ruhelose journalistisch-literarische
Aufklärungsarbeit den Rechtstrend der deutschen Gesellschaft nicht hatte
beeinflussen können – auch weil sie sich auf keinen Rückhalt
in einer demokratisch verfaßten Öffentlichkeit hatte stützen
können –, stellte der »aufgehörte Dichter« sogar
die eigenen formalen und stilistischen Mittel in Frage, mit denen er auf seinem
Schreibklavier, der ihm ja auch ein Schreibpflug war, so überaus produktiv
gewesen war.
Das war nicht einfach nur Resignation eines enttäuschten Idealisten. Tucholsky
hatte nämlich selbst erfahren, wie stark es die Produktivkraft eines Autors
behindert, wenn er keinen Einfluß auf die Zeitungsunternehmen hat. Und
er hatte auch erlebt, daß das Aufzeigen von Mißständen und
Widersprüchen folgenlos bleibt, wenn deren Darlegung den Betroffenen keine
praktischen Möglichkeiten zu deren Aufhebung eröffnet.
Diese Erkenntnis hat ihn letztlich zum Abrücken von seinen langerprobten
Mitteln geführt, aber er hinterließ uns die Aufgabe, das Dilemma
weiterzudenken, das – in verschärfter Form – auch heute Schreibende
existentiell betrifft.
Angesichts inzwischen weltweit operierender Medienkartelle und der auch und
gerade in formaldemokratischen Gesellschaften anwachsenden »Verbreitung
der Ignoranz durch die Technik«, deren Funktion Tucholsky schon in Weimar
beschrieben hatte als »Verschleierung der Wahrheit und Ablenkung vom Wesentlichen«,
stellt sich uns Nachgeborenen die Frage, ob überhaupt und, wenn ja, wie
eine aufklärerische Zielsetzung von Gegeninformation aufrecht zu erhalten
ist. Wie kann man mit literarischen Mitteln gesellschaftliche Widersprüche
noch dort herausarbeiten, wo sie nicht verdeckt sind, sondern sogar offen zutage
liegen und einfach als »gegeben« hingenommen werden? Anders gefragt:
Unter welchen Voraussetzungen gelingt es heute noch, Sprache so zu organisieren,
daß ein Stück gesellschaftlicher Organisation als veränderbar
erkennbar wird?
Die geistiger Produktion abträglichen Bedingungen innerhalb der kapitalistischen
Kulturindustrie haben Adorno und Horkheimer wenige Jahre nach Tucholskys Tod
umfassend dargestellt. Tucholsky war deren Überlegungen vor allem in den
letzten Jahren seines öffentlichen Schweigens beträchtlich nahe gekommen,
wie seine Briefe zeigen. Viele dieser seiner politischen Äußerungen
muten heute wie geistige »Flaschenpost« an uns Nachgeborene an,
ganz im Sinne von Adornos »eingebildetem Zeugen, dem wir es hinterlassen,
damit es doch nicht ganz mit uns untergeht« (Adorno/Horkheimer, »Dialektik
der Aufklärung«).
Wenn Tucholsky in einem Brief an Elisabeth Dunant Anfang November 1935 feststellte,
daß der Faschismus – auf der Ebene der argumentativen sprachlichen
Öffentlichkeit – keine Gegner hat, so nahm er wiederum einen Gedanken
Adornos vorweg: und zwar die Einschätzung des Faschismus als Ausdruck »einer
mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz«, in dessen Sprache
»das fortschwelende Unheil sich so (äußert), als wäre
es das Heil« (Adorno, »Jargon der Eigentlichkeit«). Tucholsky
schrieb: »Polemik allein ist gar nichts – man muß mit etwas
kommen, das genau so stark, genau so rücksichtslos, genau so frech ist
wie der andere. Alles das fehlt (…) Abneigung allein ist nichts. Der Fascismus
hat keine Gegner.«
Die in der formaldemokratischen Spektakelgesellschaft inzwischen überwiegend
zum Geschwätz verkommene öffentliche Sprache erweist deutlich ihre
Resistenz gegen tradierte Formen aufklärerischer Praxis, ein Problem, mit
dem heute die aufklärerische Linke in ganz Europa konfrontiert ist. Schon
Karl Kraus hatte diese Tendenz zu der These verdichtet, die Phrase gebäre
heute die Wirklichkeit.
Die Frage, ob unter solchen Bedingungen von einem Autor wie Tucholsky heute
überhaupt noch eine Wirkung auf die Politik ausgehen kann, ist auch im
tucholskyschen Sinne zu verneinen – nicht zuletzt mangels nennenswerter
gesellschaftlicher Vermittlungsebenen in der neuen »Berliner Republik«.
Dennoch ist offensichtlich, daß nicht nur die Aktualität seines kritischen
Ansatzes, sondern auch vieler seiner Fragestellungen ungebrochen ist. Manches
bei Tucholsky entfaltet sich (ähnlich übrigens wie bei Adorno) erst
im heutigen Neoliberalismus richtig.
»Die Grundverfassung der Gesellschaft hat sich nicht geändert«,
schrieb Adorno nach dem zweiten Weltkrieg. Verändert haben sich im Vergleich
zu den 1920er Jahren die politischen Erscheinungsformen in Deutschland und Europa,
geblieben sind die zugrundeliegenden ökonomisch-sozialen Widersprüche
unserer Gesellschaft; und so gibt es heute – zum Beispiel in Italien,
aber nicht nur dort – viel freudloses Wiedersehen.
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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