Zweiwochenschrift
10/2017 9/2017 8/2017 7/2017 6/2017 5/2017
Archiv
Abonnement
Impressum
Plattform SoPos
|
|
|
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können.
Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror.
Den Aufsatz kommentieren
Neues vom Wegsehen
Monika Köhler
Wo spielt eigentlich das Stück? »In Hamburg natürlich«,
antwortete die Autorin Dea Loher auf die Frage des Dramaturgen. Ihr Stück
»Unschuld« wurde soeben im Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt.
Regie: Andreas Kriegenburg. Viele kleine, voneinander unabhängige Geschichten,
die doch zusammenhängen. Geschichten vom Zusehen oder Wegsehen, von der
Suche nach Glück, von verlorenen Utopien, vom Scheitern und vom Selbstmord.
Auf der Bühne zwei illegale Einwanderer aus dem Sudan. Hinter ihnen laufen
zwei, die ihnen völlig gleichen, den auf einen Vorhang gespiegelten Strand
entlang. Erkennen sie sich? Sie winken sich zu – eine absurde Slapstick-Nummer.
Und sie beobachten, wie eine junge rothaarige Frau sich auszieht – in
dieser Jahreszeit – und ins Wasser geht. Sie sehen und begreifen. Wollen
helfen, dürfen nicht, denn: sie haben keine Papiere und malen sich aus,
was mit ihnen bei Hamburger Behörden geschähe. Das Wegsehen –
lebensnotwendig. Fadoul und Elisio wohnen in einem Abbruchhaus, einer Asbestruine,
einem Selbstmörder-Hochhaus. Elisio (Christoph Bantzer), nur er kann schwimmen,
fühlt eine Schuld, die ihn nicht schlafen läßt. Fadoul (Hans
Löw), dem Leben zugewandt, findet etwas, eine alte Tüte, in der kein
Abfall, sondern sehr viel Geld steckt.
Das blinde Mädchen mit dem Namen Absolut hat etwas verloren, einen Schirm
und ein Buch in Blindenschrift: »Von der Unzuverlässigkeit der Welt«.
Das einzige Werk, das die alternde Philosophin Ella nicht verbrannt hat wie
ihre anderen Bücher, den großen Weltveränderungsentwurf, die
utopische Gesellschaftstheorie –«verbrannt, bevor es andere tun,
weil sie nichts mehr mit Ideen anfangen können«.
Das Mädchen Absolut lernt Fadoul kennen, der sich als von Gott gesandt
fühlt, ja selbst als Gott, als Gott durch die Tüte. Er will, daß
die Blinde, die ihr Geld im »Blauen Planeten« als Nackttänzerin
verdient, mit Hilfe der Wissenschaft sehend wird. Die ständig betrunkene
Philosophin wird vorgeführt in einem Glashaus, abgeschottet von der Welt
– der Fernseher draußen erinnert sie an Demos, früher. Ihr
Ehemann Helmut feilt verbissen an Ringen (um etwas Beständiges zu schaffen?),
sieht nie auf, reagiert nicht auf ihr Lamento, ist genauso eingekapselt wie
sie.
Fadoul und Elisio, die schwarzen Immigranten, die aus einem Land kommen, wo
die Menschen »wie die Fliegen sterben«, sich nicht umbringen müssen,
erleben in ihrem Abbruch-Hochhaus Selbstmorde. Zwei junge Männer springen
– es ist wie ein Ausprobieren, nicht traurig, vorgeführt als Glanznummer,
das Fliegen, das Ankommen. Sie haben Glück, weil sich Franz ihrer annimmt,
der endlich einen Job gefunden hat als Leichenbestatter. Er wäscht die
Toten hingebungsvoll in der kleinen Wohnung auf dem einzigen Bett – hat
keinen Blick für Rosa, seine Frau, die ein Kind will. Der andere Störfaktor
ist seine Schwiegermutter, Frau Zucker, die sich bei ihnen einquartiert. Sie
hat Diabetes und nur noch ein Bein und einen Satz auf den Lippen: »Wenn
ich ein Tankwart wäre, genügte eine Zigarette…« Und überall
taucht Frau Habersatt auf, stellt sich als Mutter eines Täters vor, bittet
um Vergebung für ihren Sohn, der sogar Gedichte schrieb. Doch sie ist Mutter
von niemandem. Eine lächerliche Figur, die von Schuld spricht, weil sie
Absolution ersehnt, nicht nur für sich.
Andreas Kriegenburg gelingt es, die Balance zu halten zwischen Tragik und Komik,
die Ambivalenzen der Figuren zu zeigen und in mehr als drei Stunden Dauer nicht
zu langweilen. Viele Szenen sind wie vom Stummfilm entlehnt, nie Klamauk. An
Pina Bauschs Tanztheater denkt, wer den Chor der Überlebenden eines Amokläufers
hört und sieht oder die Autofahrergemeinde, die warten muß und ungeduldig
wird, weil einer springen will, von einer Brücke – und zu lange verharrt.
»Das kann noch Stunden dauern, also spring doch!« Fadoul als Gott?
Die Operation, die Licht schenken soll, mißlingt. Weil Absolut nicht glaubt,
nicht betet, sagt Fadoul. Elisio erinnert sich an seine Zeit in einer dunklen
Zelle: »Ich wollte, daß das Licht aufhört, daß die Farben
aufhören, daß die Bilder aufhören«. Auch die Bilder von
einer rothaarigen jungen Frau, die er nicht rettete, lassen ihn nicht los. In
dem kleinen Zimmer findet Rosa auf dem Bett eine Wasserleiche, sie ist rothaarig
wie sie, sie sieht aus wie sie. Rosa sieht sich selbst, erkennt sich. Der Zeitring
ist geschlossen. Wir sehen die Namenlose, die Rosa ist, wie sie sich langsam
auszieht am Strand und ins Wasser geht. Eine zerbrechende Stimme singt einen
Blues, schreit: »Save me.«
Im selben Theater, auf derselben großen Bühne, als Koproduktion mit
den Salzburger Festspielen Büchners »Woyzeck«. Regisseur Michael
Thalheimer hat »Angst« vor dieser Figur. Zwangsläufig müssen
die Zuschauer miterleben, wie er – erfolgreich – aus dieser Angst
heraus Büchners Woyzeck umbringt, obwohl der als einziger übrig bleibt
in seinem Gehirn-Gefängnis-Käfig. Thalheimer »möchte zwar
nicht behaupten, daß es keine sozialen Unterschiede mehr gibt«.
Aber: »Ich stelle ganz egoistisch die Behauptung auf, daß sie mich
auf der Bühne nicht mehr interessieren.« Und so versetzt er seinen
Woyzeck in einen luftleeren Stahlbunker, den die Mitspieler nur zögernd
betreten. Zu recht, denn alle werden theaterblutig umgebracht, nicht nur Marie.
Woyzeck ist für Thalheimer der Terrorist Atta. Ein Täter, der das
Recht des schwachen Stärkeren für sich in Anspruch nimmt. Die Poesie
des Textes geht in grauenhafter 50er-Jahre-Schlagerberieselung unter, die ein
hinzugedichteter En-tertainer präsentiert. So einer überlebt natürlich
auch. Woyzeck als der neue Mensch, der sich rücksichtslos durchsetzt, nicht
mehr Opfer. Ein Woyzeck 2010.
Thalia – so und so: das Theater des Jahres.
Erschienen in Ossietzky 22/2003
|