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Ungleicher Kampf in Den Haag
Ralph Hartmann
Im Gerichtssaal Nr. 1 des Jugoslawien-Tribunals am Churchillplein Nr. 1 in
Den Haag neigt sich die Phase, in der die Chefanklägerin Carla del Ponte
und ihre Vertreter »Beweise« gegen den Angeklagten Slobodan Milosevic
vorbringen, dem Ende zu. Nach zweimaliger Verlängerung sind an mehr als
250 Verhandlungstagen rund 300 Zeugen der Anklage aufgetreten. Ein teil von
ihnen berichtete über von Serben begangene Greueltaten, doch kein einziger
konnte die Anklage stützen, der langjährige Präsident Serbiens
und Jugoslawiens habe in Kosovo sowie in Kroatien und Bosnien Verbrechen gegen
die Menschlichkeit oder gar Völkermord begangen. In den von Milosevic geführten
Kreuzverhören brachen ihre Anschuldigungen trotz aller Hilfestellungen
des britischen Richters May zusammen, und nicht selten wurden aus Zeugen der
Anklage Zeugen der Verteidigung. Was die Greueltaten anbelangt, so hatte der
Ex-Präsident bereits vor Beginn der Verhandlungen festgestellt, daß
man sich den ganzen Prozeß sparen könne, wenn man beweisen wolle,
daß die Leiden im Krieg gewaltig sind. Niemand wisse das besser als die
Jugoslawen selbst.
Im Spätherbst nun soll der Aufmarsch der Zeugen der Anklage zu Ende gehen.
Dann, nach einer Pause, erhält die Verteidigung das Wort. Milosevic, der
sich bekanntlich selbst verteidigt, sagte schon im April: »Dieses illegale
Gericht erlebt ein tagtägliches Fiasko. Und das in seiner eigenen Halbzeit.
In der Halbzeit, in der seine lügnerische Anklage und seine verlogenen
Zeugen auftreten. Das währt bereits das zweite Jahr. Sie wagen nicht daran
zu denken, wie meine Halbzeit aussehen wird, in der ich sprechen werde und in
der die Zeugen sprechen werden, die ich aufrufe.« Der Angeklagte ist zuversichtlich.
Doch um das fundamentale, selbst im Statut des Tribunals enthaltene Rechtsprinzip
der »Waffengleichheit« zwischen Anklage und Verteidigung ist es
schlecht bestellt.
Der eingekerkerte Milosevic hat Zugang zu Telefon, Fax, einem Computer und einem
Videogerät, um Filmdokumente zu betrachten. Ihm zur Seite stehen zwei juristische
Berater, die sich monatlich ablösen, das »Jugoslawische Komitee für
die Befreiung von Slobodan Milosevic, ›Sloboda‹«, dessen Existenz
nur mittels Spenden mühselig gesichert wird, und ein internationales Solidaritätskomitee
mit zahlreichen nationalen Sektionen, deren Unterstützung vor allem moralischer
Natur ist. Milosevic verfügt über keinerlei finanzielle Fonds. Der
Zugang zu jugoslawischen und serbischen Staatsarchiven ist ihm verwehrt.
Ihm gegenüber steht nicht nur die Chefanklägerin mit ihrem Gefolge,
sondern das gesamte von der NATO initiierte Gericht (der deutsche Ex-Außenminister
Klaus Kinkel rühmt sich persönlich der Urheberschaft) mit seinen 1248
Beschäftigten und seinen unerschöpflichen finanziellen Mitteln –
allein für den Milosevic-Prozeß wurden bisher über 500 Millionen
US-Dollar ausgegeben – sowie die Regierungen der NATO-Staaten mit ihren
öffentlichen und Geheimdiensten. Hinzu kommt die Schützenhilfe, die
die in Belgrad Regierenden ihrem häufigen Gast Carla del Ponte leisten.
Statt dem ehemaligen Staatsoberhaupt materielle und juristische Unterstützung
sowie wenigstens Zugang zu denjenigen Dokumenten aus den Staatsarchiven zu gewähren,
die sie dem Tribunal zur Verfügung stellen, wozu sie nach der Verfassung
verpflichtet wären, üben sie mit Verleumdungen, falschen Beschuldigungen
und Anklagen sowie einer Hexenjagd auf Familienangehörige zusätzlichen
psychischen Druck aus.
In diesem ungleichen Kampf ist es dem Tribunal bisher dennoch nicht gelungen,
die Moral des Angeklagten zu brechen. Kein Wunder also, daß es alle Anstrengungen
unternimmt. dessen Vorbereitungen auf die »zweite Halbzeit« zu erschweren,
wenn nicht gar unmöglich zu machen. Den Antrag von Milosevic, ihm zwei
Jahre einzuräumen, um sich in Freiheit gebührend auf seine Verteidigung
vorbereiten zu können, wurde vom britischen Richter May umgehend abgelehnt,
unter anderem mit der Begründung, daß der Angeklagte das Recht auf
ein schnelles und effektives Verfahren habe.
Das Gericht, dessen Anklagebehörde den Prozeß nahezu zehn Jahre vorbereitet
hat, räumt ihm lediglich drei Monate Vorbereitungszeit ein. In dieser Zeit
soll er unter den Bedingungen der Haft die rund 1 000 000 (in Worten: eine Million)
DIN-A4-Seiten »Beweismaterialien« der Anklage durchsehen, mit denen
die Kammer ihn förmlich zugeschüttet hat. Sie enthalten viele Dokumente
und Niederschriften, die im Verfahren nie zur Sprache gekommen sind. Würde
er täglich 400 Seiten lesen, benötigte er dafür sieben Jahre.
Doch de facto stehen ihm nicht einmal drei Monate, sondern lediglich sechs Wochen
zur Verfügung, denn das Gericht hat festgelegt, daß der Angeklagte
sechs Wochen nach Abschluß der Anklage eine detaillierte Liste der von
ihm benannten Zeugen vorzulegen hat, einschließlich einer Zusammenfassung
des Gegenstandes ihrer Aussagen und Hinweisen darauf, ob der jeweilige Zeuge
persönlich oder durch schriftliche Stellungnahmen aussagen werde. Desweiteren
ist er verpflichtet, Beweisstücke aufzulisten, die er in das Verfahren
einzubringen beabsichtigt, und der Anklägerin del Ponte davon Kopien zur
Verfügung zu stellen. Schließlich behält sich das Gericht vor,
in einer sogenannten Pre-Defence-Conference zu entscheiden, welche Zeugen Milosevic
aufrufen darf und welche nicht.
Mit dieser engen Fristsetzung und den unrealistischen Forderungen wird der Angeklagte
zwangsläufig in eine Streßsituation gebracht, die sich verhängnisvoll
auf seinen angeschlagenen Gesundheitszustand auswirken kann. Bereits im November
vergangenen Jahres hatte ein vom Gericht bestellter niederländischer Kardiologe
diagnostiziert: »Wesentlicher Bluthochdruck mit sekundärem Organschaden:
Erweiterung der linken Herzkammer. (…) In den letzten Wochen während
des Verfahrens erneut steiler Anstieg des Blutdrucks bis zu 220/130 mmHg. (…)
Während der strapaziösen Prozeßverhandlungen befindet sich Herr
Milosevic in einem Zustand, der wie ein Hochdrucknotfall aussieht...«
Aus seinem Bericht geht auch hervor, daß der Druck des Verfahrens zu extremer
Erschöpfung, zu Gehirnschlag, Herzinfarkt und Tod führen kann. Frau
del Ponte, medizinisch offenbar besser bewandert, sieht das anders. In einem
Interview der Neuen Züricher Zeitung vom 18. Juli erklärte sie wörtlich:
»Er (Milosevic) erfreut sich außerordentlich, außerordentlich
guter Gesundheit.« Da sie jedoch weiß, wie es um seine Gesundheit
tatsächlich bestellt ist, hat sie den Antrag erneuert, ihm einen Pflichtverteidiger
aufzuzwingen und die Verhandlungen auch in krankheitsbedingter Abwesenheit des
Angeklagten fortzuführen.
Unermüdlich hat die Chefanklägerin auch dazu beigetragen, den seit
dem 29. Juli 2001 in Scheveningen einsitzenden Ex-Präsidenten weiter zu
isolieren. Seit geraumer Zeit schon kann er weder mit seiner Ehefrau und Mitgliedern
seiner engeren Familie noch mit seinen engsten Mitstreitern und Parteifreunden
zusammentreffen. Durch Gerichtsbeschluß dürfen ihn Mitglieder seiner
Partei, der Sozialistischen Partei Serbiens, und mit ihr »assoziierter
Einheiten« nicht mehr besuchen. Zu letzteren zählt auch das oben
erwähnte serbische Unterstützerkomitee »Sloboda«, ein
Umstand, der seine Vorbereitung auf die »zweite Halbzeit« zusätzlich
außerordentlich erschwert.
Unmittelbar nachdem Milosevic gegen den Willen des jugoslawischen Staatspräsidenten
Kostunica und des Verfassungsgerichtshofs mit US-amerikanischer und britischer
Hilfe aus Belgrad entführt und in den Hochsicherheitstrakt des Scheveninger
Gefängnisses unweit Den Haag eingeliefert worden war, hatte der damalige
Vorsitzende des Jugoslawien-Tribunals, Claude Jorda, erklärt, daß
»der Prozeß fair sein und nach den höchsten Standards geführt«
werde. Nun, nach mehr als zwei Jahren, weiß man, was in Den Haag unter
»fairem Prozeß« verstanden wird und wie die »höchsten
Standards« aussehen.
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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