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Jammernde Rentner und Sozialschmarotzer
Matthias Biskupek
Ein neuer sozialdemokratischer Fachausdruck lautet: Kotzen. Der rotgrüne
Medienkanzler hat ihn in die politische Welt eingeführt, und der sozialliberale
Altkanzler Schmidt, also der Ab-Kanzler, hat ihn schöpferisch angewandt
auf das angebliche Gejammer von Ostrentnern. Nun wollen wir nicht das sprachliche
Feingefühl unserer brachialdemokratischen Volksmeinungsverdreher unter
die Lupe nehmen, sondern das allgemeine deutsche demokratische Rentnerleben.
Wer jammert wo, warum, wann und wie?
Vielleicht gibt es hie und da einen klagenden Ostrentner, dem ein profitorientiertes
Krankheitskassenwesen im Wortsinn an die Nieren geht. Der nicht mit den Zähnen
knirschen kann, weil es ihm an Zuzahlung mangelt. Im allgemeinen sind jene Rentnerinnen
und Rentner, die als junge Leute den Krieg mitmachen mußten, im Trümmerdeutschland
robotteten und später in der DDR jahrzehntelang arbeiteten und nebenbei
Schlange standen, nicht unzufrieden. Das sagt meine durch kein politisches Befragungsinstitut
getrübte Erfahrung; das behaupte ich allein aus der Kenntnis normaler Lebensläufe.
Mir geht’s doch gut, sagt der Normalrentner. Und weil es ihm relativ gut
geht, weil er anspruchslos lebt, hat er auch was übrig für Kinder,
Enkel und Urenkel. Und bedauert diese, weil sie der Arbeit oder der Lehrstelle
wegen mobil sein dürfen, sprich: dem Geld hinterherziehen müssen.
Unmut über die weit entfernte oder arbeitslose Verwandtschaft mögen
die so modern abkotzenden Volksmeinungsverdreher als Gejammer ansehen –
es ist nichts anderes als berechtigte Kritik erfahrener Leute an dieser Gesellschaft:
einer Gesellschaft, die sich den Teufel um Angleichung der Lebensverhältnisse
schert, um angemessene Verteilung von Arbeit, um zwei der drei Ideale der französischen
Revolution: Brüderlichkeit und Gleichheit nämlich. Hauptsache, Waren-
und Geldströme haben alle Freiheit der Welt.
Die meisten der mir bekannten Rentner schreien nicht auf, wenn jetzt eine Renten-Nullrunde
auf sie zukommt. Weil sie wissen: Generationen-Vertrag heißt auch, ich
darf den Reichtum meiner Nachkommen nicht verfrühstücken. Und weil
sie hoffen, daß die Streichung des Inflationsausgleichs, die ihnen zugemutet
wird, wirklich den Nachkommen zugute kommt – was fraglich ist. Die Rentner,
die ich kenne, haben das Wohl von Kindern, Enkeln, Urenkeln im Auge, sie wissen
um das Wort Solidarität. Und wenn eine dieser Rentnerinnen, die eine Minirente
und keine Gattinnenpension, keine Mietzinsen, keine Abfindungen oder Provisionen
bekommt, Solidarität auch für sich einfordert, so ist das kein Jammern,
sondern eine verdammt berechtigter Hinweis – in Ost wie West.
Wo aber erhob sich im Lande ein groß Gejammer? Als der Vorschlag kam,
die Steuerreform, sprich Steuersenkung, zunächst nur auf kleine und mittlere
Einkommen anzuwenden, ei, wie schrie‘n sie da auf, jene, die mit ihrem
Höchststeuersatz hart am Rande der Armut leben, die Chefs der Arbeitverteilerverbände,
die Generäle der wendigen, der unchristlichen und der Brachialdemokraten.
So hat ein Herr der politischen Klasse für zwei Jahre ministerielle Tätigkeit
einen höheren Rentenanspruch als Leute, die 45 Jahre schlicht Häuser
bauten, Lebensmittel verkauften oder Kinder professionell betreuten. Wer, frage
ich, ist hier der Sozialschmarotzer? Ist des einen Lebensleistung wirklich zigmal
mehr wert als die der anderen? Oder ist dieser Zustand, um den moderndemokratischen
Fachausdruck zu nutzen, nicht wirklich zum Kotzen?
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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