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Frechheiten
Werner René Schwab
Eine alte Volksweisheit lautet: »Frechheit siegt.« Nach dieser
Devise handeln in der gegenwärtigen »Reformdebatte« die Umverteiler,
die der großen Mehrheit noch tiefer in den Geldbeutel greifen wollen.
Wer sich einen Rest des Gefühls für soziale Gerechtigkeit bewahrt
hat und es etwa wagt, sich gegen diese Enteignung und Entrechtung zu wehren,
wird mit rüden Beschimpfungen und Diffamierungen überzogen, und die
unmittelbar Betroffenen werden der Maßlosigkeit geziehen und verhöhnt.
Die frechen Enteigner scheuen auch nicht vor falschen Behauptungen zurück.
Franz Josef Strauß (»Ratten und Schmeißfliegen«) hätte
seine helle Freude daran. Einige Beispiele aus den letzten Tagen.
»Sozialromantiker, die grob fahrlässig, unseriös und verantwortungslos
handeln«, nennt Peter Rauen, Bundesvorsitzender der CDU-Mittelstandsvereini-gung,
seine Parteifreunde Norbert Blüm und Heiner Geißler, weil sie Einwände
gegen das »Sozialkonzept« der Herzog-Kommission erheben.
Besonders dreist präsentiert sich, wie schon gewohnt, der grüne »Wirtschaftsexperte«
Oswald Metzger. »Die übersteigerte Volksbeglückung muß
ein Ende haben«, hielt er in einer Fernsehdiskussion dem einstigen SPD-Bundesvorsit-zenden
Oskar Lafontaine entgegen, der die rot-grünen »Reform«-Pläne
unsozial genannt hatte, und setzte dann noch eins drauf: »Das Anspruchsdenken
muß aufhören.« Damit meint der zum Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung
aufgestiegene Metzger selbstverständlich nicht die hohen Managergehälter
(die in den 30 führenden deutschen Industrieunternehmen im Durchschnitt
1,4 Millionen Euro im Jahr betragen) und erst recht nicht die Ansprüche
der ehemaligen Bertelsmann-Jungmanager Andreas von Blottner und Jan Henric Buettner
(einstiges Jahreseinkommen rund zwei Millionen Dollar), die nach ihrem Ausscheiden
ihren ehemaligen Arbeitgeber nun auf fünf Milliarden Dollar Gewinnbeteiligung
verklagen, sondern die normalen Einkommen. Schon als Bundestagsabgeordneter
hatte Metzger den Arbeitslosen »Larmoyanz der Loser« vorgeworfen.
Nicht fehlen darf in dieser Runde der Präsident des Münchner Instituts
für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Für ihn sind die Abhängigen
selbst schuld an der Arbeitslosigkeit und der ganzen Misere, denn: »Die
Quelle allen Übels sind die hohen Löhne.« Also verlangt er,
daß der Lohnanstieg auf Jahre hinaus hinter dem »Produktivitätsfortschritt«
zurückbleibt, die Sozialabgaben der Arbeitgeber ganz auf die Arbeitnehmer
abgewälzt werden, die Beschäftigten ohne Lohnausgleich statt durchschnittlich
38 künftig 42 Stunden pro Woche arbeiten und der Kündigungsschutz
gestrichen wird. Begründung: »Ein Arbeitsverhältnis ist schließlich
keine Ehe.« Der große Wirtschaftsexperte Sinn hat übrigens
vor einigen Jahren verkündet, längere Öffnungszeiten würden
im Einzelhandel 80 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Nach denen sucht man
vergebens.
»Das finde ich zum Kotzen«, raunzt der einstige SPD-Bundeskanzler
Helmut Schmidt, wenn Ostdeutsche »weinerlich« über die Rente
reden. SPD-Fraktions-chef Müntefering nennt den Beschluß der rot-grünen
Regierung, den Rentnern die ganzen Kosten der Pflegeversicherung aufzubürden
und im nächsten Jahr eine »Nullrunde« einzulegen, »sozial
gerecht«.
Mit der Gerechtigkeit bei den Rentnerinnen und Rentnern hat es auch der Hauptgeschäftsführer
des Industrie- und Handeltags, Martin Wansleben. »Gerecht« wären
nach seinem Empfinden drei Nullrunden für sie. Die Grünen-Fraktionschefin
Krista Sager assistiert mit den Worten: »Noch nie ist es einer Rentnergeneration
so gut gegangen wie heute.« Deshalb könne man ihnen Nullrunden und
zusätzliche Belastungen zumuten. (Die Hälfte aller Männer erhält
zur Zeit höchstens 1000 Euro Rente im Monat, bei den Frauen sind es im
Durchschnitt nur 650. Die neuen Beschlüsse nehmen ihnen 20 Euro im Monat.)
Kranke sollten sich endlich folgendes merken: »Die Pflegestation eines
Kreiskrankenhauses ist kein Vier-Sterne-Hotel. Der Bürger muß sein
Anspruchsdenken zurücknehmen.« So redet ihnen zur Rechtfertigung
der von Koalition und Union gebilligten »Gesundheitsreform« der
Präsident des baden-württembergischen Landkreistages, Edgar Wais (CDU),
ins Gewissen. Aber vielleicht malt er doch zu schwarz. Denn zur gleichen Zeit
behauptet das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung in
ganzseitigen Anzeigen: »Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der leistungsfähigsten
der Welt. Und mit der Entscheidung für die Reform wird es noch besser.«
Könnten sich die sogenannten Arbeitgeber und ihre Propagandisten solche
Frechheiten leisten, wenn wir aufhören würden, uns ihre Reden ruhig,
womöglich ehrerbietig anzuhören und nach jeder Rede gehorsam unsere
Gürtel gleich noch etwas enger zu schnallen.
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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