Zweiwochenschrift
10/2017 9/2017 8/2017 7/2017 6/2017 5/2017
Archiv
Abonnement
Impressum
Plattform SoPos
|
|
|
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können.
Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror.
Den Aufsatz kommentieren
Bemerkungen
Ramschware
Trotz intensivster Suche und hohen Aufwandes an Personal hat die Regierung
der USA im Irak keine Massenvernichtungswaffen finden können, weder atomare
oder chemische noch biologische. Was die zuletzt genannte Waffensorte angeht,
so muß man annehmen, daß dem Regime von Saddam Hussein völlig
das Geld ausgegangen war, denn biologisches Kriegsmaterial wäre auf dem
internationalen Markt leicht zu erwerben gewesen, zumindest über Zwischen¬
händ¬ ler, und zwar vom Pentagon. Die Rechnungsprüfungsbehörde
des US-Kongresses hat jetzt herausbekommen, daß vom US-»Verteidigungsministerium«
ausgemusterte Produkte für die biologische Kriegsführung zu Niedrigpreisen
in aller Welt angeboten werden – ohne Überprüfung der Abnehmer,
sozu-sagen frei Hand. Geschäft ist Geschäft – und für die
Warnung vor Bioterrorismus ist eine andere Abteilung der US-Administration zuständig.
Peter Söhren
Gebete an den Kriegsgott
Eine Live-Übertragung der überaus erbaulichen Art bescherte das
Zweite Deutsche Fernsehen seinen Zuschauern an einem September-Sonntagvormittag
des Jahres 2003. Über 45 Minuten lang durfte man Gast sein bei einer Propagandashow
der Bundeswehr unter dem Titel »Katholischer Soldatengottesdienst«.
Gleich vier rot-weiß gekleidete Priester hatte man im oberpfälzischen
Militärstützpunkt Grafenwöhr bei herrlichem Wetter im Freien
aufgeboten, darunter auch einen US-amerikanischen Bündnispfarrer. »Dieser
Gottesdienst verbindet uns deutsche und amerikanische Soldaten vor Gott«,
erklärte Militärbischof Paul Hauser zu Beginn.
Nachdem die gottgefällige Schlachtordnung korrekt eingenommen ist, stellt
der Bischof unter dem Transparent »viribus unitis« (Mit vereinten
Kräften) das Motto des Morgens vor: » ›Ich aber wehrte mich
nicht.‹ So hörten wir in der Lesung aus dem Propheten Jesaja.«
Vor seiner uniformierten Gemeinde unter der deutschen Nationalflagge rückt
der Militärbischof den Propheten zurück ins richtige Glied: »Für
Soldaten ist das fast eine Provokation. Sollen wir uns wirklich alles gefallen
lassen?« Er bringt die Bibel in Ordnung: »Das funktioniert nicht
in der großen Welt. Wie hätte ein Präsident Bush nach dem 11.
September seinem Volk erklären können: ‚Wir wehren uns nicht‘?
Das funktioniert nicht in unserer kleinen Welt. Wo Unrecht geschieht, verteidigen
wir uns.«
Denen im Ausland, die diese unsere Rechtsauffassung nicht kapieren, müssen
wir sie beibringen. Zu diesem Zweck befestigt der Bischof die Truppe im rechten
Glauben: »Das gleiche gilt in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan, in Afrika
und wo sonst Ihre Kameraden im Einsatz sind. Dieser macht nicht nur Sinn, weil
die Politiker es wollen, sondern weil auch Sie an ein gutes Ende glauben.«
Denn Niederlagen wären schädlich für die politische und persönliche
Psyche: »Sie wollen ja Erfolg haben mit Ihrem Einsatz.«
Der Frieden à la BRD und USA wird laut Struck auch am Hindukusch verteidigt.
Ebenso sieht es der Militärbischof, der in seiner bundesweiten Propagandapredigt
das göttliche Einverständnis selbstverständlich voraussetzt:
»Herr, wir bitten Dich für alle, die sich um den Frieden bemühen,
für unsere Soldaten, die im Auslandeinsatz sind, und ihre Familien, die
diesen Einsatz mittragen.« Wenn aber der Sinn des Einsatzes trotzdem nicht
allen einsichtig ist? »Laß uns begreifen, wie wichtig dieser Dienst
am Frieden ist.«
Einige scheinen damit Probleme zu haben. Kriegsdienstverweigerer, Pazifisten
und andere antimilitaristisch Infizierte werden deswegen fürsorglich in
das Gebet an den (Kriegs)Herrn eingeschlossen: »Beten wir für alle,
die Hemmungen haben, sich für andere einzusetzen. Die sich weigern, für
Unglückliche und Unterlegene dazusein. Damit sie erkennen, daß sie
selbst nur Glück und Halt finden, wenn sie anderen Halt geben.«
Daraufhin singt die um Mitleid für diese Ungläubigen bittende Sängerin
und Hauptfeldwebelin Roswitha Müllner, unterstützt vom Heeresmusikkorps
2, die stolz vor der Kamera von ihrem Afghanistan-Einsatz erzählt: »Lasset
zum Herrn uns beten: Herr erbarme Dich, Christus erbarme Dich!«
Hauptfeldwebel Herbert Krauss, ebenfalls Afghanistan-Legionär, darf am
Ende noch am Beispiel seines kleinen Sohnes dem Fernsehpublikum erläutern,
wie frühzeitig Militärpädagogik einsetzen kann: »Timo und
ich waren immer im Glauben und im Feldgottesdienst miteinander verbunden.«
Zufrieden äußert sich der Militärbischof in seinem Schlußwort
an das Fernsehpublikum: »Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir freuen
uns, daß wir heute bei diesem Gottesdienst mit Ihnen verbunden sein konnten.«
Zwecks weiterer Verbindung offeriert er die telefonisch-katholische Militärseelsorge
in der Leopoldkaserne in Amberg.
Diese Werbesendung wurde übrigens – unfreiwillig – von den
Gebührenzahlern des Fernsehens gemeinschaftlich finanziert.
Volker Adam
Standortprobleme
Alles, was dem Kapital und seinen Helfern in Politik, Wissenschaft und Medien
nicht ins Profitkonzept paßt, gefährdet den »Wirtschaftsstandort
Deutschland«. Niemand verkündet das so treuherzig wie die CDU-Bundesvorsitzende
Angela Merkel. Als das Landgericht Düsseldorf eine Anklage gegen den Vorstandsvorsitzenden
der Deutschen Bank, Josef Ackermann, zuließ, erhob sie sofort lautstark
Protest: Diese Entscheidung sei »ein Schlag gegen den Wirtschaftsstandort
Deutschland«. Die Staatsanwaltschaft wirft Ackermann Untreue in einem
besonders schweren Fall vor, weil er als früherer Aufsichtsratsvorsitzender
von Mannesmann anläßlich der Übernahme durch Vodafone Abfindungen
von 57 Millionen Euro gebilligt hatte.
Frau Merkel steht nicht allein. Lange vor ihr hatte der damalige nordrhein-westfälische
Ministerpräsident und heutige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement
(SPD) versucht, das Verfahren zu behindern. Auch er sprach von »negativen
Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland«, wenn je Anklage
gegen Ackermann erhoben werde.
Clement argumentiert überhaupt gern mit dem Standort, wenn es darum geht,
Unternehmer-Interessen zu vertreten. So begründete er vergangenen Monat
seine Absicht, die Fördermittel für Windräder zu kürzen,
unter anderem mit den Worten, Deutschland sei ein »windschwacher Standort«.
Das geschah nur wenige Tage nach dem »Energiegipfel« bei Bundeskanzler
Gerhard Schröder, in dessen Anschluß der Bundesverband der Deutschen
Industrie hatte verlauten lassen, »die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes
Deutschland« sei »gefährdet«, wenn die großen Strom-Unternehmen
weiter durch höhere Preise die Erzeuger erneuerbarer Energie (Solarzellen,
Windräder, Wasserkraft) unterstützen müßten. Diesmal war
keine Rede von den dadurch gefährdeten Arbeitsplätzen in diesem jungen
Industriezweig. Und sogleich sprang ihnen Atom-Lobbyist Erwin Teufel, CDU-Ministerpräsident
in Stuttgart, bei. Er verkündete, daß er sich verstärkt für
die Errichtung neuer Atomkraftwerke einsetzen wolle, weil das den »Energiestand¬ort
Baden-Württemberg sichert«.
Dieser Tage hat der frühere Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie und heutige Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, Olaf Henkel,
eine neue, noch viel größere Gefahr für den »Standort
Deutschland« ausfindig gemacht: »Wir haben sehr viel Solidarität
und sehr viel Gleichheit, aber sehr wenig Freiheit.« Wir verstehen: Wenn
sich die Justiz herausnimmt, den Artikel 3, Absatz 1 des Grundgesetzes (»Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich«) auch auf den Chef der Deutschen
Bank zu beziehen, dann ist das einfach zu viel Gleichheit.
Werner René Schwab
Volkszertreter
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bekommen regelmäßig
ihre Diäten, von denen sie keine Beiträge für die Rente zahlen
müssen. Für Krankenkasse und Arbeitslosenversicherung brauchen sie
auch nichts abzuführen. Nach 15-jähriger Parlamentszugehörigkeit
dürfen sie schon mit 58 Jahren in Rente gehen, und niemand denkt daran,
ihr Rentenalter auf 67 Jahre zu erhöhen.
Sie sind also, wenn sie jetzt immerzu Sozialabbau beschließen, zuverlässig
davor geschützt, ihn selber zu erleiden. Fröhlich können sie
die Armutsgrenze senken, die Kranken und die Rentner schröpfen, trotz Massenarbeitslosigkeit
das Rentenalter erhöhen, die Langzeitarbeitslosen für wenige Cent
zu harter Schmutzarbeit zwingen, obwohl das Grundgesetz Zwangsarbeit verbietet,
den Kommunen die Mittel für soziale Beratung und Hilfe beschneiden und
die Bildungschancen von Kindern aus verarmten Familien einschränken. Nur
feste druff! Sie wissen ja, daß das, was sie beschließen, sie selber
nicht betrifft und kaum je betreffen wird.
Die Volksvertreter haben sich weit von dem Volk entfernt, das sie vertreten
sollen. Ich bezweifle, daß sie es unter diesen Umständen überhaupt
noch vertreten können. Darum stelle ich hiermit den Antrag, daß per
1. Januar 2004 alle Abgeordneten den üblichen Anteil von ihren Einnahmen
in die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenkassen einzahlen und frühestens
mit 65 Jahren Rente beziehen können.
Man könnte mir entgegenhalten, auf die soziale Stellung der Abgeordneten
komme es gar nicht an, weil die wesentlichen Entscheidungen längst nicht
mehr im gewählten Parlament, sondern in Kommissionen fallen, die jenseits
demokratischer Regeln gebildet worden sind. Aber dann sollte bitte mal jemand
nachschauen, wie viele Mitglieder der Hartz-, der Rürup- und der Herzog-Kommission
von den »Reformen« betroffen sind, mit denen sie uns traktieren.
Ich schätze: kein einziges.
Nun hört man von einzelnen Abgeordneten, daß sie diese »Reformen«
eigentlich für falsch halten und daher entgegen den schneidigen Kanzler-Appellen
eigentlich nicht daran mitwirken möchten, aus den Kommissionsbeschlüssen
Gesetze zu machen. Eigentlich. Und dann stimmen sie doch zu – indem sie
sich dem »Fraktionszwang« unterwerfen. Aber warum lassen sie sich
diesen Bruch des Grundgesetz-Artikels 38 gefallen? Warum verteidigen nicht ihre
verfassungsrechtliche Unabhängigkeit? Offenbar ist der Beruf des Abgeordneten,
der ursprünglich nicht als Beruf gedacht war, so lukrativ geworden, daß
sie wegen der eingangs erwähnten sicheren Einkünfte und der sonstigen
Privilegien zu akrobatischsten Verrenkungen ihrer Wahlversprechen und ihres
Gewissens bereit sind. Auch wenn sie Zigmilliarden Euro jährlich fürs
Militär vergeuden, dürfen sie sich in der sicheren Erwartung wiegen,
dafür niemals zur Verantwortung gezogen zu werden.
Da bleibt nur die Frage, wie Lehrer ihren Schülern erklären sollen,
was Demokratie ist.
Brigitte Rothert
Jagd auf »Abweichler«
Sozialdemokratische Parlamentarier, die eine vom Bundeskanzler nicht genehmigte
Meinung öffentlich zum Ausdruck bringen oder dieser gar in ihrem Abstimmungsverhalten
folgen wollen, heißen inzwischen »Abweichler«. Parteiprominente
ließen sich vielerlei einfallen, um diese Spezies von Abgeordneten verbal
zur Strecke zu bringen: In der Politik könne es »nicht zugehen wie
in einer Klosterstube oder in einem Mädchenpensionat«, verkündete
der niedersächsische Ex-Ministerpräsident Sigmar Gabriel; »Demokratie
funktioniert so, daß die Minderheit in der Fraktion mit der Mehrheit stimmt«,
machte Fraktionschef Franz Müntefering klar; und Fraktionsgeschäftsführer
Wilhelm Schmidt offenbarte: »Wenn diejenigen, die unsere Reformen nicht
mitzutragen bereit sind, dementsprechend abstimmen, ist unser aller Karriere
beendet.«
Allerdings: Nach einer Umfrage des demoskopischen Instituts EMNID hielten es
62 Prozent der BundesbürgerInnen für richtig, wenn »Abweichler«
unter den SPD-Parlamentariern ihrem Gewissen folgen würden. Die SPD-Führung
wird sich also, wenn sie an ihrem Verständnis von Parlamentarismus festhalten
will, ein anderes Volk suchen müssen.
Den »Abweichlern« wurde aber von den Jagdherren erst einmal noch
eine Schonfrist eingeräumt: Einige kleine Zugeständnisse des Bundeskanzleramtes
und des Fraktionsvorstandes bei Hartz IV boten ihnen die Gelegenheit, dem sozialen
Abbruchunternehmen nun doch zuzustimmen – mit der Begründung, das
Allerschlimmste sei verhütet worden. In der Sache bedeuten die Konzessionen
der Oberen nichts, denn das Gesetzeswerk muß noch den Bundesrat passieren,
und da wird wieder verändert. Aber erreicht ist so, daß parteiinterne
Kritik von der Grundsubstanz der sogenannten Reform auf Details abgelenkt ist.
Und die »Abweichler« werden, wenn sie ihre mehrheitsbeschaffenden
Dienste abgeleistet haben, zu spüren bekommen, wie die Politik-Chefs mit
denjenigen Untergebenen im Partei- und Parlamentsbetrieb umgehen, die Anfälle
von Aufmüpfigkeit hatten.
Arno Klönne
Kriminelle im Dienste des Staates
Seit dem Scheitern des NPD-Verbots-verfahrens ist es verdächtig ruhig
geworden um die offiziellen Bemühungen, dem Rechtsextremismus entgegenzutreten.
Vom »Aufstand der Anständigen« ist wenig zu spüren. Dabei
ist die neonazistische Gefahr konkret wie eh und je: In München wurden
dreizehn der rechtsextremen Szene zuzuordnende Personen unter dem Verdacht verhaftet,
einen Bombenanschlag bei der Grundsteinlegung der Synagoge vorbereitet zu haben.
Ausgangspunkt der Ermittlungen war nicht etwa erfolgreiche staatliche Überwachung,
sondern die Aussage eines Aussteigers, der von seinen früheren Nazi-Kumpanen
verprügelt worden war und daraufhin auspackte.
Nach dem Prozeßdebakel hätte sofort eine öffentliche Debatte
über die Rolle der Verfassungsschutzbehörden beginnen müssen.
Sie ist bisher ausgeblieben. Dies hat Ossietzky-Mitherausgeber Rolf Gössner
veranlaßt, mit einer kritischen Bestandsaufnahme über das V-Leute-Unwesen
die »bitter nötige« Diskussion zu initiieren und zu fundieren.
Sein »Sachbuch des Monats« befaßt sich mit den V-Leuten dieses
Geheimdienstes, den »Kriminellen im Dienste des Staates«. Es enthält
umfangreiche Fallstudien zu rechtsextremen V-Mann-Karrie-ren, zu ihrer Anwerbung,
Führung und den Straftaten, die sie in Ausübung ihrer staatlich gebilligten
Tätigkeit begehen. Aber über die Dokumentation von V-Mann-Arbeit reicht
Gössners Buch weit hinaus. Es stellt die Rolle des »Verfassungsschutzes«
in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus prinzipiell in Frage.
Gössner sieht im »Verfassungsschutz« ein »ideologisches
Kind des Kalten Krieges«. Das NPD-Verbotsver-fahren bestätige das
Dilemma der sogenannten wehrhaften Demokratie im Kampf gegen rechts. Einerseits
gebiete die deutsche Geschichte besondere Wachsamkeit gegen rechtsextreme Parteien.
Andererseits »kann sich die Fixierung auf den nur schwer kontrollierbaren
Verfassungsschutz rasch als fatal erweisen, weil solche Instrumente selbst demokratischen
Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen und die Grundlagen
des liberal-demokratischen Rechtsstaats unterhöhlen«. Gössner
plädiert für den Aufbau einer offen arbeitenden wissenschaftlichen
Dokumentationsstelle zur Beobachtung, Erforschung und Analyse des Rechtsextremismus.
Das Buch bietet mit umfangreichem, bisher unveröffentlichtem Material über
die V-Mann-Problematik sowie mit einer ausführlichen Schilderung des blamablen
Ablaufs des NPD-Verbotsverfahrens viele neue Informationen, vor allem aber die
kritische Reflexion eines rechtsstaatlichen Skandals und zudem echte Reformvorschläge.
Bürgerrechtliche Aufklärungsarbeit contra staatliches Dunkelmännertum
– wie sie nur Rolf Gössner so präzise, deutlich und überzeugend
leistet.
Ulla Jelpke
Rolf Gössner: »Geheime Informanten«, Knaur-Taschenbuch, 315
Seiten, 12,90
Auf bestem Papier
Im Briefkasten finde ich eine Propagandaschrift, auf bestem Papier gedruckt.
Titel: »Deutschland nach 1945«. Neben Fotos, die das Brandenburger
Tor in Schutt und Asche sowie offenbar einen Flüchtlingstreck zeigen, lese
ich vom »Zusammenbruch des Deutschen Reiches«: Nachdem es »den
Kriegsgegnern Deutschlands« gelungen sei, »die stark geschwächte
Wehrmacht« immer weiter zurückzudrängen und »große
Teile« des Deutschen Reiches zu besetzen, so daß die bedingungslose
Kapitulation unausweichlich geworden sei, habe »von irgendeiner Art geordneten
politischen Lebens … keine Rede mehr« sein können. Und so weiter.
Man könnte den Text für die Fortsetzung des Wehrmachtsberichts vom
9. Mai 1945 halten, der, anders als die Sondermeldungen der vorangegangenen
fünf Jahre, mit getragener Stimme verkündete, daß die »Deutsche
Wehrmacht am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll erlegen« sei.
Doch die vorliegende Propagandaschrift – sie mündet in die Klage:
»Zudem verboten die allierten Streitkräfte in den von ihnen eroberten
Gebieten sofort jeden Postverkehr« – wurde von der Niederlassung
Philatelie der (noch hundertprozentig im Bundesbesitz befindlichen) Deutschen
Post AG an Leute versandt, die sich für Briefmarken interessieren oder
auch nicht. Alles auf den Blättern dreht sich um das Wiederaufleben des
»geordneten politischen Lebens«, vor allem die Neueinführung
von Postwertzeichen, und um die Wiedererlangung der Posthoheit auf dem Gebiet,
das von dem immer kleiner gewordenen, auf seinen Briefmarken aber »großdeutsch«
genannten Reich am Ende übrig geblieben war.
Auch auf solche Weise kann man Geschichte immer wieder neu erfinden. Man muß
sie nur einfach vom Ende her erzählen und alles, was vorausging, tunlichst
weglassen – so den totalen Krieg, dem die totale Niederlage folgte. Dann
kann man solche Historienbeschreibung vielleicht auch dem geplanten »Zentrum
gegen Vertreibung« beifügen.
Immer jedoch sollte Georg Christoph Lichtenbergs kluge Warnung bedacht werden:
»Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig
entstellt.«
Joachim Bennewitz
Unbekannter Osten
Wolfgang Bittner schreibt in Ossietzky 20/03 über Schlesien: »Mir
ist aufgefallen, daß dort die Erinnerung an alles Deutsche fast völlig
eliminiert ist. Auf dem alten Friedhof in dem Dorf, in dem meine Vorfahren lebten...,
stammen die ältesten Sterbedaten von 1946.«
Der Krieg ist seit 58 Jahren, also mehr als ein halbes Jahrhundert vorbei. Es
leben keine Deutschen mehr dort – oder wenn, sind sie polnische Mitbürger
geworden. Was erwartet Bittner dort? Daß die Straßenschilder nach
wie vor in deutsch geschrieben sind oder daß an den Geschäften noch
die deutschen Namen stehen oder was sonst? Und daß die ältesten Sterbedaten
von 1946 sind, was soll das? Hat er erwartet, daß die Polen den deutschen
Friedhof in Ordnung halten? Wenn Sie bei uns ein Kaufgrab haben, dann ist es
auch nach 40 Jahren weg, es sei denn, Sie zahlen wieder neu.
Und dann dieses Gerede von der Unkenntnis der Polen über die Geschichte.
Wenn man hier in Westdeutschland Abiturienten oder auch Studenten fragt, wo
Gleiwitz liegt oder vielleicht Thorn oder Bromberg, dann zeigt sich: Fast niemand
weiß etwas von diesen Orten, außer Nachkommen der 1945 Vertriebenen.
Unsere Kinder im Westen erfahren in der Schule auch fast nichts zum Thema DDR,
die ein Teil Deutschlands war.
Bittner sollte zuerst einmal dafür sorgen, daß dieses Thema bei uns
in die Schulen kommt und die Geschichte aufgearbeitet wird: Wer den Krieg angefangen
hat, wer die Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht hat, wer die Deutschen
aus Wolhynien oder Bessarabien nach Polen geholt, dort die polnischen Besitzer
aus ihren Häusern getrieben und die Deutschen da hinein gesetzt hat. Dies
allein genügt schon, ohne daß man das Thema KZ anschneiden muß.
Letzteres könnte dann das ganze noch vervollständigen. In Poznan im
Archiv liegen die Unterlagen der Ansiedlungskommission. Vielleicht sollte man
diese mal in den Schulen aufarbeiten.
Ich sehe auch, wie arm die Polen im Verhältnis zu Deutschland leben. Ist
es da ein Wunder, daß der eine oder andere solche Reden von sich gibt,
daß es den Kriegsverlierern besser geht als den Gewinnern? Haben die Polen
den Krieg gewonnen?
Hilde Möller
Die Brüder Leder
Mitunter habe ich nach dem Lesen eines Textes den Eindruck, daß ich
dem Verfasser etwas abzugelten hätte. Als das mindeste erscheint mir dann,
daß ich seine Arbeit bekannt machen helfe. So wieder geschehen mit diesem
Buch, erschienen zu Zeiten, in der es Gehirn- und Seelenmassage fertig gebracht
haben, daß, fällt hierzulande das Wort Polen, sofort der Begriff
Vertreibung sich einstellt. Einen anderen, gleichsam unzeitgemäßen
Blick ins östliche Nachbarland öffnet der großformatige, unhandliche,
herausragend gestaltete Band, in dem Witold und Stefan Leder ihre Geschichte
und die ihrer Vorfahren erzählen.
Zur Biographie des Brüderpaares gehört das Wort Vertreibung auch,
waren beide doch an der Vertreibung der deutschen Eroberer aus Osteuropa beteiligt.
Der eine als Militärarzt in der sowjetischen, später der polnischen
Armee, mit der er bis nach Pommern gelangte. Der andere in der Uniform eines
Generalstabsoffiziers der polnischen Streitkräfte. Abenteuerlich –
das erscheint als zu schwaches Wort für das Leben dieser beiden, die heute
im neunten Lebensjahrzehnt stehen. Und für viele ihrer Vorfahren, assimilierte
Juden, die in Russisch-Polen sich der Arbeiterbewegung anschlossen und als Intellektuelle
oder Arbeiter in Warschau und Lódz an den sozialen und antizaristischen
Kämpfen teilnahmen, gilt das auch.
Aus dieser beeindruckenden Reihe ragt der Vater der Brüder heraus, Wladyslaw
Leder, Berufsrevolutionär, spezialisiert auf Arbeiter- und Gewerkschaftsfragen,
Mitstreiter von Luxemburg, Jogiches, Dzierzynski, der die Länder häufiger
wechselte als andere ihre Kleidung, Publizist, nahezu nebenbei während
des ersten Weltkriegs in Lausanne zum Doktor der Rechte promoviert, Verfasser
einer Jogiches-Biographie. Die wird beschlagnahmt, als 1937 das NKWD den Unbeugsamen
in Moskau verhaftet. Ihr Text findet sich 1962 in den Akten wieder, kann 1976
in Polen veröffentlicht werden. Während der Vater 1938 auf dem Wege
in ein Lager nördlich des Polarkreises elend zugrunde geht, muß Witold
die Militär¬ akademie verlassen, Stefan, dem Jüngeren, wird ein
Geschichtsstudium verwehrt, eine Ausbildung zum Arzt gestattet.
Aus zeitlich großer Entfernung, gestützt auf ihr beeindruckendes
Erinnerungsvermögen, haben sich beide in Gemeinschaft mit dem in Polens
Geschichte beschlagenen Gerd Kaiser nun als Historiker betätigt. Eindrücklicher
als Details mögen zwei Zitate einladen, zu dem außergewöhnlichen
Buch zu greifen, Sätze, die zugleich dafür stehen, daß sich
die Autoren die Überprüfung ihrer Lebensentscheidungen nicht ersparen
und nicht leicht machen. Stefan, der in Polen als Mediziner, Forscher, Professor
für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitete: »Es fällt mir
schwer zu akzeptieren, aber ich verstehe, daß es Erlebnisse geben kann,
die einen Menschen zu einer vollständigen ‚Umwälzung’
der bisher bekannten Werte führen. Aber ich denke, daß meistens solche
Umwälzungen das Ergebnis von nicht ausreichendem rationalen Denken sind
oder aber eine völlig andere ‚konjunkturelle’ Begründung
haben. Und so etwas ist für mich inakzeptabel ...« Witold, der einstige
Militär, der unter haltlosen Verdächtigungen aus der Aufklärungsarbeit
im Generalstab in ein polnisches Gefängnis verbracht wurde, später
an verschiedenen Plätzen arbeitete: »Und trotzdem halte ich auch
heute an meiner Überzeugung fest, daß der Kapitalismus nicht im Stande
ist, die grundsätzlichen und sich immer drohender abzeichnenden Probleme
der Menschheit zu lösen ... und daß man weiter nach neuen Ansätzen
für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft suchen muß, falls
man sich nicht in das Mauseloch seiner persönlichen Existenz verkriechen
oder sich auf die Jagd nach einem fetteren Bissen beschränken will. Ich
weiß nicht, ob diese meine Antwort jemanden, vor allem Vertreter der jüngeren
Generationen befriedigen wird. Mir jedenfalls scheint sie, mit allen Dilemmata,
vor denen ich keineswegs die Augen verschließe, die einzige zu sein, die
ich akzeptieren kann.«
Kurt Pätzold
»Unbeirrbar rot. Zeugen und Zeugnisse einer Familie« – Erzählt
und ausgewählt von Stefan und Witold Leder, hg. von Gerd Kaiser, edition
bodoni, 374 Seiten, 26 d
Berthold Auerbach
»Wer mich einen Fremden heißt, mordet mich zehnfach. Ich komme
oft auf dieses Thema. Aber Du weißt nicht, lieber Freiligrath, was ein
Judenkind auf der Welt zu dulden hat.« (Auerbach an Freiligrath, 1843)
– dieses Zitat aus einem Brief stellt Rosemarie Schuder ihrem Buch über
den jüdisch-deutschen Schriftsteller Berthold Auerbach voran. Die Autorin,
im Hauptberuf Romanschriftstellerin, nennt ihr fast 500 Seiten umfassendes biografisches
Werk im Untertitel vorsichtig »Wege zu Berthold Auerbach«. Und das
ist richtig so. Man muß zu diesem Autor einen gangbaren Weg finden, nachdem
viele Spuren verweht, manche Pfade überwuchert, ganze Wälder weggeschlagen
sind.
Berthold Auerbach, eigentlich Moses Baruch Auerbacher (1812-1882), war im 19.
Jahrhundert ein vielgelesener Schriftsteller, gesellschaftlich anerkannt bis
zum königlich-kaiserlichen Hofe in Berlin und andererseits heftig befehdet,
besonders vom gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden rassistischen Antisemitismus
um Marr, Billroth, Stoecker und Treitschke. Sein Werk ist umfangreich. Um nur
einiges zu nennen: »Spinoza. Ein historischer Roman« (1837), dazu
eine fünfbändige Spinoza-Ausgabe, der Roman »Dichter und Kaufmann«
(1840), »Auf der Höhe«, Roman in acht Bänden (1865), »Das
Landhaus am Rhein«, Roman in fünf Bänden (1869), »Waldfried.
Eine vaterländische Familiengeschichte« (1874). Er schrieb Erzählungen
(etwa »Barfüßele«, »Brigitta« oder »Der
Tolpatsch«), Dramen, umfangreiche Publizistik, so¬ wohl anerkennende
wie polemische, besonders gegen Judenfeinde wie den Berliner Hofprediger Adolf
Stoecker; auch Richard Wagner kam nicht gut weg bei ihm. Am bekanntesten wurden
seine »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, er¬ schienen in
vier Bänden von 1843 bis 1853. Im 20. Jahrhundert verblich sein Ruhm schnell,
heute sind Name und Werk nahezu vergessen.
Auch die bestgeschriebenen Bücher mit Zeitanalysen oder Zeitforderungen
können veralten, wenn ihre Zeit vorüber ist. So ist es wohl mit Auerbach
geschehen. Viele seiner Figuren wirken un¬ zeitgemäß und seine
Schreibweisen auch. Doch seine Themen und Gegenstände vielfach nicht, gewiß
nicht seine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.
Rosemarie Schuder, die den heroischen Versuch unternimmt, Auerbach ins Bewußtsein
der Gegenwart zu holen, zeichnet ein Bild jener Zeit zwischen demokratischer
Revolution (1848/49) und imperialer Konterrevolution im Kaiserreich, ein Bild
mannigfacher Widersprüche und Deformationen deutscher Geschichte, und das
kommende Haupt-Opfer – wir Juden – wird deutlich erkennbar, nicht
nur Auerbach allein. Und auch die Hilflosigkeit der demokratischen Opposition.
Der Erzähler Auerbach war dem Realismus verpflichtet – ähnlich
dem ihm wenig wohlgesonnenen Fontane, in dessen Nähe er in Berlin in der
Potsdamer Straße wohnte. Ganz und gar nicht ähnlich waren seine Visionen.
Die bitterste bereits 1848 angesichts der Ermordung des Revolutionärs Robert
Blum: »Wenn man so die Rachgeister alle losbindet, wo bleibt da eine Macht,
die ihnen Einhalt zu thun vermag? Wo wird das enden? Welchen entsetzlichen Gräueln
sehen wir entgegen?«
Jochanan Trilse-Finkelstein
Rosemarie Schuder: »Deutsches Stiefmutterland – Wege zu Berthold
Auerbach«, Hentrich&Hentrich, 492 Seiten, 28 €
Für einen Unermüdlichen
Jetzt ist er 70 Jahre alt, dieser unermüdlich denkend schreibende Heine-Lieb-haber
und -Experte, Theaterkritiker, Philosoph und Autor Jochanan (Christoph) Trilse-Finkelstein.
Besonders schätze ich an ihm seine dauerhafte Mitarbeit im Jüdischen
Kulturverein Berlin e.V., zu dem er kurz nach der Gründung stieß.
Als einer der Aktivsten ist er dabei geblieben.
Man kannte ihn in der DDR, die Aufsätze und Bücher übers Theater
von Christoph Trilse – das war der vom Vater stammende Name, die Mutter
war eine Finkelstein. Aus beiden wurde dann sein weiteres und neues Markenzeichen.
Mit Hingabe kümmerte und kümmert er sich um Kultur und Wissenschaft,
Literatur und Musik des Jüdischen, im Jüdischen, aus dem Jüdischen
und über Jüdisches.
Eine fast altmodisch sorgsame Gründlichkeit zeichnet ihn aus. Erwähnt
werden muß aber auch sein Spaß an guten Gesprächen, an schönen
und noch dazu gereiften und gebildeten weiblichen Gegenstücken, an konstruktivem
Streit, roten Weinen, schmackhafter Küche, am Segeln und an seidenen Halstüchern.
Unverdrossen interessiert ihn weiterhin das Theater, dem er kritisch treu geblieben
ist, das Thema Ökologie und das Reisen in die fernen wie nahen Länder.
Alles in allem kann der am 10. Oktober 1933 in Breslau geborene, in Wien aufgewachsene,
auf Umwegen mit den Eltern nach Jugoslawien zu den Partisanen geflohene, aus
dem Nachkriegs¬ österreich in die DDR übergesiedelte, zum charmanten
Intellektuellen par excellence und zum Genießer herangewachsene Jungsiebziger
auf eine kontrastreiche Biographie zurückschauen, auch seine Werke zeugen
davon. Nicht zuletzt sind da die Texte in Ossietzky und die beliebte Seite 7
in der Jüdischen Korrespondenz, wo er allmonatlich Menschen durch Erinnern
dem Vergessen entreißt. Er hat sich in die Gegenwart eingeschrieben und
wird es ganz sicher weiterhin tun, denn seine Schaffenskraft ist noch lange
nicht ausgeschöpft. Herzlichen Glückwunsch!
Irene Runge
Lawinenwarnung
Vielleicht liegt es am Herbstwetter, daß eine Ausstellung mit dem klimatisch
nicht unbedingt auf die gegenwärtigen Verhältnisse bezogenen Titel
»Die Lawine von morgen und der Schnee von gestern« in der Galerie
im Körnerpark in Berlin von der Presse bisher nicht wahrgenommen wurde.
Obwohl die in Berlin, und nicht nur hier, bestens bekannten Künstler Manfred
Butzmann, Ernst Volland, Henning Wagenbreth, Klaus Staeck und Anke Feuchtenberger
an ihr beteiligt sind, dazu Kerstin Weiberg und Richard Schütz mit einem
Videoprojekt. Obwohl der Bundestagspräsident die Eröffnungsrede hielt
und im Katalog Experten wie Georg Bussmann, Eckart Gillen, Detlev Lücke
und Christoph Tannert schreiben. Es muß wohl am Thema und an den ausgestellten
Werken liegen. Zwar ist gerade das Tabu über die »Kunst in der DDR«
aufgehoben worden, und die Populärkultur der 70er Jahre wird gerade wiederbelebt.
Aber Plakate, auf denen der Grundgesetzartikel »Eigentum verpflichtet«
mit dem wirklichkeitsgetreuen Zusatz »zur Ausbeutung« versehen ist
(Klaus Staeck) oder einem Manager, der gerade seine Business-class-Mahlzeit
verzehrt, ein halb verhungertes afrikanisches Kind durchs Fenster zuschaut (Ernst
Volland) oder ein (Spielzeug-)Gewehr demonstrativ im Abfallkorb landet (Manfred
Butzmann), wurden schon damals in den Medien wenig geschätzt, und seitdem
ist die Wertschätzung gewiß nicht gewachsen. Sie werden in der Ausstellung
konfrontiert mit Arbeiten der Beteiligten aus jüngerer Zeit und mit Arbeiten
der jüngeren Generation (Wagenbreth, Feuchtenberger, Schütz, Weiberg).
Gezeigt werden soll, daß im Laufe der Zeit und im Wechsel der Medien und
Macharten der politische Anspruch erhalten blieb. Und daß die Unterscheidung
zwischen Ostkünstlern (Butzmann, Feuchtenberger, Wagenbreth) und Westkünstlern
(Volland, Staeck) damals wenig und heute gar nicht mehr taugt. Beides gelingt
der Ausstellung.
Am 1. Oktober berichtete Butzmann über den Kampf gegen Zensurversuche der
SED-Oberen, den er listig führte, die (auch finanzielle) Schwierigkeit,
heute noch »im eigenen Auftrag« Plakate zu machen, die Porträts
von Besuchern der Pankower Kneipe »Molle«, die er zeichnet, und
über seine liebevoll dokumentarischen, formal beinahe abstrakt wirkenden
»Abreibungen« von Böden Berliner Hausflure.
Zu einem seiner Plakate erzählte er folgende Geschichte: 1968 sollte er
als Student eine grafische Arbeit zum Karl-Marx-Jahr abliefern, das in der DDR
anläßlich des 150. Marx-Geburtstages ausgerufen worden war. Er entschied
sich für ein Schriftplakat mit der von Marx zitierten Aussage eines englischen
Gewerkschafters, wonach das Kapital bei 50 Prozent Profit »positiv waghalsig«
wird, bei 100 Prozent »alle menschlichen Gesetze« mißachtet
und bei 300 Prozent zu jedem Verbrechen fähig ist. Damals war er nur halb
davon überzeugt. 1993, drei Jahre nach dem Ende der DDR, brachte er seine
Studienarbeit von 1968 noch einmal auf ein Plakat, zum 175. Marx-Geburtstag.
Diesmal, wie Brecht gesagt hätte, von der Wirklichkeit belehrt.
Am 15. Oktober sprach Ernst Volland über seine Arbeit, am 25. Oktober folgen
Anke Feuchtenberger und Henning Wagenbreth (jeweils 19 Uhr). Die Ausstellung
ist noch bis zum 2. November zu sehen.
Reiner Diederich
Heidrun Hegewald
Wie geteilt Berlin immer noch ist – obwohl die Neue Nationalgalerie
im Westen der Stadt nun den Blick auf »Kunst in der DDR« freigegeben
hat (s. Ossietzky 16/03) –, erlebt man in der Ausstellung von Gemälden,
Zeichnungen und Grafiken von Heidrun Hegewald. Selbstverständlich wird
die Ausstellung im Osten gezeigt (Inselgalerie, Torstraße 207), selbstverständlich
findet kaum ein Westberliner den Weg dorthin, selbstverständlich kamen
viele Ostberliner Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, auch Politiker
(nicht der Bundestagspräsident) zur Eröffnung, um einer der Größten
ihres Fachs zu huldigen – von der man im Westen nichts weiß.
Aus Schmerz, dem Heidrun Hegewald erschreckenden, verstörenden Ausdruck
gibt, wächst Trotz. Und Kraft. Bis zum 8. November (außer sonntags
und montags) kann man sich der Wirkung dieser Bilder aussetzen. Am letzten Tag
um 15 Uhr liest Heidrun Hegewald aus ihrem Buch »Frau K. oder Die zwei
Arten zu erbleichen«.
E.S.
Kreuzberger Notizen
Dieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Press-Kohl
Man lasse sich bei gesundheitlichen Schwierigkeiten gegebenenfalls von der
Berliner Zeitung beraten: »Von Seelenklempnern empfohlen: Das Streicheln
von Tieren beseitigt psychische Verstimmungen.«
Hinzugefügt sei: Auch das Streicheln von Igeln beseitigt psychische Verstimmungen.
Das Streicheln von Igeln beseitigt allerdings in erster Linie die psychischen
Verstimmungen von Igeln.
*
Birgit Walter hat sich im oben zitierten Blatt Gedanken über einen Film
und die nazistischen Rassengesetze gemacht. Trotz allem, meint die Journalistin,
bedeuteten manche Einzelheiten der sogenannten Rassengesetze »Schutz für
viele Juden, Schutz durch die Ehe«. Na, na. »Jedenfalls meinten
Tausende Frauen – es waren fast alles Frauen –, daß ihre jüdischen
Ehemänner ein Recht hätten, bei ihnen zu bleiben.«
Da ist die Rede von einer sehr bitteren und ernsten Sache, über die man
keine Witze machen sollte wie Birgit Walter, die uns mitteilt, daß von
Tausenden von Frauen fast alle Frauen waren.
*
»Sepp Herberger sagte einst über Fußball: Der Ball ist rund,
und das Spiel dauert neunzig Minuten. Über den Krimi im deutschen Fernsehen
lassen sich ähnliche Aussagen treffen.«
Treffen sich zwei Aussagen auf der Straße, und da sagt die eine zu der
anderen: »Also der Krimi im deutschen Fernsehen dauert neunzig Minuten.
Ist er auch rund wie ein Fußball?« Dazu wollte sich die andere Aussage
aber vorsichtshalber nicht äußern, weil sie noch darüber nachdachte,
was die Berliner Zeitung über Dieter Pfaff herausgefunden hatte:
»Dieter Pfaff verkörperte den sensiblen, aber hartnäckigen Ermittler
mit beeindruckender Präsenz.«
Na klar doch! Selbst ein großer Schauspieler wie Pfaff könnte, wenn
er selber nicht anwesend wäre, niemanden verkörpern.
Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 21/2003
|