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Nachwort zur Mäuse-Buchmesse
Gerhard Zwerenz
Weil der Mäusepapa keine Lust mehr hatte, den Mäusekindern vorm Einschlafen
Märchen zu erzählen, erfand er erstens die Schrift und zweitens die
Druckerpresse. So konnten Mama, Tante und Onkel den Kleinmäusen vorlesen,
und die größeren Nager lernten selbst das ABC. Der Nachwuchs las
vor allem über die Mäuseliebe, die Psychologie und wie man sich dabei
anstellt. So entstanden ganze Völker, und die klügsten Nager versammelten
sich einmal im Jahr zu Füßen des Taunus-Gebirges, um einander ihre
schönsten Mäusemärchen vorzulesen. Mit der Zeit fanden sich viele
Neugierige ein, die den Mäusedichtern gern zuhörten, applaudierten
und dafür Eintrittsgeld berappten. Soweit vorangeschritten in der zivilisatorischen
Entwicklung, entstand das Bedürfnis, die Märchenbücher mit nach
Hause zu nehmen, und das brachte bald jene Matadore hervor, die sich Verleger
nannten, denen professionelle Händler, Lektoren, Kritiker, Feuilletonisten,
Professoren und Moderatoren folgten. Etwa hundert, wo nicht tausend Jahre lang
lohnte sich das Messegeschäft. Man wählte alljährlich eine Freiheits-
und Friedensmaus, erfand den Goethetaler und lauschte in der einen Kirche, wo
schon einmal die Demokratie der Mäuse gescheitert worden ist, den freiheitlichen
Piepsern der eloquentesten Maus des Jahres, die dafür einige tausend gemauste
Taler erhielt und sich infolgedessen zur stattlichen Vor-Leseratte aufplusterte.
Es kam zur Klassenteilung wie bei den Bienen und Wespen. Auf Kosten der Arbeitsmäuse
vermehrten sich die Vorleseratten, bildeten eine auserwählte Königsrasse,
traten im Fernsehen auf und erregten den Futterneid der kleinen Feld-, Wald-,
Wühl- und Piepsmäuse, die sich klassenkämpferisch zusammenrotteten,
jedoch in mehreren dreißigjährigen Bürgerkriegen besiegt werden
konnten. Die anderen Tiere der Welt sagten sich: So weit spucken können
wir schon lange. Seitdem treten alljährlich zur Mäusemesse auch Schwein,
Hund, Ochse, Giraffe und Löwe auf, die Hyäne nicht zu vergessen. Sowie
der Mäusemessendirektor ruft, strömt alle Kreatur Richtung mainisches
Römerrathaus zu Füßen des Hohen Taunus, wo die amtierende Oberbürgermeisterin
Dr. Micky Mäusezähnchen den Startschuß gibt, was die kreativen
Massen in die Messehallen stürmen läßt, wo das Ereignis programmgemäß
verläuft.
Unsere Mäusebuchmesse entwickelte sich zum kulturellen Event des Erdkreises.
Die lesefreudigen Mäuse aus aller Welt zahlen die infernalisch hohen Eintritts-
und Hotelpreise glatt aus der Westentasche. Natürlich gibt es Zwischenrufe
der ewigen Nörgler: Stinkefinger, eine pensionierte Fußballratte
vom Alpenverein Freier Springmäuse, sei wegen fortgeschrittenem Analphabetismus
zu disqualifizieren, hieß es. Suhr-Kampfmäuse erhielten heimliche
Begünstigungen der öffentlichen Hand, raunte man; statt der Sänger,
Schauspieler und Pornogräfinnen, die zur Messe pünktlich ihre atembetäubenden
Autobiographien vorlegen, sollten ihre GhostwriterInnen ausgezeichnet und in
den TV-Talks ausgestellt werden. Selbstverständlich wurden alle Angriffe
auf die hohe postmoderne Mäusekultur abgeschlagen, notfalls mit Justiz
und Saalschutz. Ob Schwein, Hase, Tiger, Hund, Giraffe, Elefant oder Orang-Utan,
wer zu unserer jährlichen Buchmesse anreist, einen lese- und schreibkundigen
Begleiter zahlen kann und eine ganze Woche lang nicht seinen Nachbarn zertrampelt
oder frißt, der gilt als teilnahmeberechtigte weiße Maus. Wenn wir
da Ausnahmen machten und etwa auch nur einer einzigen Wildsau die Tür wiesen,
erlitte die Buchkultur der Mäuse einen nie wieder gutzumachenden Schaden.
Auf der nächsten Buchmesse soll, wie aus eingeweihten Vorstandskreisen
verlautet, Johann Wolfgang von Goethe endlich den durch Bild und FAZ gemeinsam
gestifteten Dieter-von-Bohlen-Katja-Kessler-Preis erhalten, da beißt die
Maus keinen Faden ab. Dem Einwand, Goethe sei doch schon vor langer Zeit verstorben,
entgegnete der Pressesprecher, man verleihe den Preis auch postum, überdies
seien wahre Dichter unsterblich, wie das Beispiel Dieter von Bohlen zeige. Wir
schlagen dem Mäuse-Bücherrat vor, den Preis je zur Hälfte, aber
in einer gemeinsamen Feierstunde an Goethe und Bohlen zu vergeben.
Allerdings mehren sich bei den Fachhandelsmäusen die Stimmen, die das geschriebene
Wort ganz durch das Bild ersetzen wollen. Das Buch der Zukunft ist der Foto-Band.
Denn erstens nähert sich die Kunst des Entzifferns von Schrift unter den
jungen Mäusen dem Nullpunkt, und zweitens gibt es nicht mehr genug GhostwriterInnen,
um die erschütternden Autobiographien unserer Star- und Supermäuse
zu Papier zu bringen.
Erschienen in Ossietzky 21/2003
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