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Alles auf Anfang
Anne Dessau
Ein leuchtender Herbsttag, Berlin-Schöneweide, Schnellerstraße 104.
Im weiträumigen Foyer grüßt Ernst Busch den Besucher. Als lebensgroßer
Pappkamerad und als »Büste« in Bronze. Ein rabenschwarz lackiertes
Klavier nebst zerhackter Leiche ergänzt das Ambiente. Das bluttriefende
Beil steckt noch in der Tastatur. Blut, markiert mittels roter Stoffbahnen,
tropft aus den Leichenteilen. Daneben glänzt ein Lokus porzellanweiß,
kein Deckel. Ankunft in der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst
Busch«.
Verabredung mit Angelika Waller, namhafte Schauspielerin im Lande Ehemals, heute
Professorin in diesem Haus, dessen Lehrkräfte sie einstens durch die Aufnahmeprüfung
rasseln ließen. Ich werde sie bei ihrer Arbeit mit den »Frischlingen«
begleiten, vom ersten Testtag bis hin zum Intendantenvorsprechen. In loser Folge
will ich vom Weh und Ach einer Gruppe junger Leute berichten, die sich die »Bretter,
die die Welt bedeuten« erobern wollen. Komme, was da wolle.
Test-Tag. An diesem Morgen gleicht das Foyer einer Wartehalle mit Evakuierten.
Etwa 70 junge Frauen und Männer sitzen stumm, reglos, mit Gepäckstücken
zuhauf, als wären sie justament einer Naturkatastrophe entkommen. Die Typologie
reicht vom Romeo bis zum Räuberhauptmann, von Antigone bis Gretchen. Mützen
jeglicher Art, Afrolook und Pferdeschwanz, Pagenkopf oder Zottelmähne,
mit und ohne Gel. Tätowierte, Gepiercte, Gefärbte und Naturbelassene,
Krumme, Gerade, Selbstbewußte, Introvertierte, verknotete Subjekte auch.
Manche der Kandidaten für das Hochamt Schauspiel sind erschöpft von
schlaflos verbrachter Nacht, von langer Anreise. Denn die Hoffnungsvollen kommen
aus allen Teilen Deutschlands, dito der Welt, wallfahren hierher zur Ausbildungsstätte
mit internationalem Ruf, der »Busch«, gegründet vor 52 Jahren.
Klangvolle Namen auf der Bühne, bei Film und Fernsehen kommen aus dieser
Schule. Auch davon wird noch zu erzählen sein.
Von 700 bis 800 Bewerbern jährlich werden 25 bis 27 zugelassen. Bis zum
Ende des Studiums wird, in Zwischenprüfungen, mehrmals die Spreu vom Weizen
getrennt. Es verbleibt eine Gruppe, die hart arbeiten gelernt haben wird, Handwerk,
Körper, Intellekt und emotionales Denken unermüdlich trainieren mußte,
Disziplin als notwendig und hilfreich erkannt haben sollte, um gut gerüstet
auf eben jenen Brettern, die die Welt bedeuten, bestehen zu können.
Probebühne. Ein kahler Raum, schwarz abgehängte Fenster, weiße
Wände, Holzfußboden. Ein Tisch, pro Nase ein Stuhl. Sechs Jungen,
zwei Mädchen sind für die Ausforschung bei Frau Professor Waller und
der Sprecherzieherin Margot Dreves ausgewählt worden. Die Kandidaten müssen
sich in zwei Rollen und einem Lied/Gedicht vorstellen. Umkleiden für den
ersten Auftritt, Biographie mit möglichst wenig Worten. Die Zeit ist knapp
bemessen. Angelika Waller gibt noch die »absoluten Verbote« für
diesen Raum bekannt: Nicht rauchen, nicht spucken, nicht schießen, nicht
onanieren! Alles auf Anfang.
Jens aus Senftenberg, eine Strittmatter-Figur, mit einem guten Rhythmus für
Sprache, führt vor, wie er sich den Ruprecht (Kleists »Der zerbrochene
Krug«) vorstellt: mehr brüllend als stimmgewaltig, mal lärmend,
mal leise. Die Waller unterbricht: »Nicht soviel Dampf. Woher kommen Sie?
Lausitz? Dann bitte noch einmal im Dialekt.« Das kann der sympathische
Jens nicht. Er steckt fest im Vorgeprägten, Improvisation überfordert
ihn. Wird seine Fixierung aufgelöst, bleibt nichts. »Danke, der Nächste.«
Felix aus Bremen. Er lispelt den sensiblen Trebjew aus Tschechows »Möwe«,
skandiert den Text schulmeisterlich mit dem Zeigefinger und hat – außer
des Dichters Worten – wenig mitzuteilen. Ihm folgt Ricardo, der genußvoll
in Moritz Stiefel (Wedekinds »Frühlingserwachen«) eingetaucht
ist, seine Körpersprache signalisiert jedoch heftig eine völlig gefangene
Seele. Den Leib umklammernd mit Armen und Beinen, den Kopf im Schoß verborgen,
bietet er ein Bild des Jammers, jedoch nicht als Figur, als Gestaltung des Moritz,
sondern er selbst ist es, der da steht, Antwort und Hilfe suchend beim Dichter.
Die Ausbildung zum Bühnenschauspieler sollte nicht zum therapeutischen
Hilfsmittel werden, bemerken die Dozentinnen nach seinem Abgang. Weitere Darbietungen:
Saint Just, gebrüllt mit Blähhals und rotem Kopf; Orlando säuselnd
und flott; ein zuckender Beckmann. Die Mädchen sind schwach, verkitscht,
sentimental. Jede/r von ihnen ruft Verzweiflung in die Welt, doch die Botschaften
von Büchner, Shakespeare und Borchert schlagen kaum magische Funken zwischen
Darsteller und Zuschauer, sie verzischen wie der nasse Docht einer Kerze.
Die Kämpfer sind ermattet, die Dozentinnen auch. Fazit: Keine Phantasie,
zu glatt, kein Humor, der grimassiert: kein Raumgefühl, keine Körpersprache;
zu privat, keine Figur entstand; sie lügt, plappert; er ist eitel, ergebnisorientiert
– nichts entwickelt sich. Von acht Kandidaten erhalten sieben ein glattes
»Nein«, einer wird zum zweiten Test geladen. Die Urteilsfindung
wird begründet, besänftigend fügt man hinzu: Die Ansicht der
Dozenten konnte sich nur aus der Befindlichkeit dieses einen Tages herleiten,
wer weiterhin an sich glaubt, dem bleiben landesweit andere Ausbildungsmöglichkeiten.
Scheinbar gefaßt, nehmen die jungen Menschen das Urteil an. »Cool
sein« ist auch hier angesagt.
Frau Waller, Frau Dreves seufzen, hoffen auf den nächsten Test. Talente
sind rar, ist ihre Erfahrung. Alles auf Anfang.
Erschienen in Ossietzky 21/2003
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