Kaufen, was einem die
Kartelle vorwerfen; lesen, was einem die Zensoren erlauben;
glauben, was einem die Kirche und Partei gebieten. Beinkleider
werden zur Zeit mittelweit getragen. Freiheit gar nicht. - Kurt
Tucholsky
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können.
Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror.
Die Frage kam mir erneut in den Sinn, als ich am »Nationalfeiertag«
die klug abgewogenen Antworten auf die Frage »Können wir aus der
Geschichte lernen?« hörte, Antworten auch von Historikern, die aus
der Geschichte gelernt haben.
Zum ersten Mal hatte ich die Frage im Herbst 1989 auf einer Tagung der Historiker-Gesellschaft
der DDR formuliert, als ich mich (als Wirtschaftshistoriker) doch sehr wunderte,
wieso Historiker zwar immer über die »schöpferische Rolle der
Volksmassen in der Geschichte« gepredigt hätten, aber nun, wo die
Massen wirklich eine Rolle spielten und auf die Straße gingen, zutiefst
erschrocken seien über den Sinngehalt ihrer Worte.
Nun könnte man dieses Erschrecken auf ideologische Verblendung, Parteidiktat
oder Heuchelei zurückführen – was auch immer, es ist alles nicht
besonders ehrenwert und zeugt nicht von wissenschaftlicher Geschichtsschreibung.
Jedoch, daß hier wirklich ein Problem liegt, daß nämlich für
viele Historikerinnen und Historiker zwischen der von ihnen untersuchten geschichtlichen
Epoche und der von ihnen gerade ge- und erlebten eine kaum übersteigbare
chinesische Mauer liegen muß, das wurde mir erst im Herbst 1991 deutlich,
als die Akademie der Wissenschaften noch in voller Abwicklung begriffen war.
Eine meiner Mitarbeiterinnen berichtete mir nämlich von einem internationalen
Symposion zur Bankengeschichte 1870-1945, das sie in Wien besucht hatte: Dort
hätten besonders die österreichischen Kollegen ganz ungläubig
und entsetzt vernommen, wie Kultur und Wissenschaft in den »neuen Bundesländern«
abgewickelt würden. Ich wiederum reagierte ziemlich entgeistert, als ich
erfuhr, daß österreichische Historiker – wohlgemerkt: nicht
des Mittelalters, sondern des 20. Jahrhunderts, auch nicht mit weltenfernen
Emanationen des Geistes beschäftigt, sondern mit sozial- und wirtschaftshistorischen
Realien – sich nicht vorstellen konnten, wie Deutsche »nach dem
Anschluß« eine über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Kultur
und Wissenschaft abwickeln.
Seitdem bin ich hellhörig gegenüber der Rede, man könne aus der
Geschichte lernen. Denn wenn schon Historiker nicht aus der Geschichte lernen,
wie sollen das deren Leserinnen und Leser? Gewiß, man kann – wenn
man will. Aber wollen kann man das eigentlich nur, wenn man Geschichte für
die Gegenwart betreibt, und zwar nicht für irgendwelche gegenwärtig
zu erhaschenden Pfründe und Titel, sondern für eine aktive Gestaltung
oder auch Umgestaltung der Gegenwart. Um es ganz antiquiert abzumachen, sei
in die Mottenkiste der Weimarer Klassik gegriffen: »Wem um die Sache zu
tun ist, der muß Partei zu nehmen wissen, sonst verdient er nirgends zu
wirken«, vermerkte Goethe 1798 in der Einleitung zu den Propyläen.
Partei ergreifen, das ist der Horror »postmoderner« Historiker,
die ebenso professionell wie verantwortungslos arbeiten. Ich erlebte das in
der Debatte zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte.
Wie viele Hunderte, inzwischen Tausende Veröffentlichungen zur Sozial-
und Regionalgeschichte der Zwangsarbeit im »Dritten Reich« sind
seit Ulrich Herberts »Fremdarbeiter« (Essen 1985) erschienen, und
wie wenige der Verfasserinnen und Verfasser hielten es für nötig,
sich in die aktuelle Debatte einzubringen, als es nun wirklich darum ging, etwas
ganz konkret für die von ihnen so instruktiv beschriebenen Opfer zu erreichen.
Jenes Zunftmitglied der Universität Bremen brachte wohl mehr als eine persönliche
Meinung zum Ausdruck, als er im Angesicht meines Gutachtens ganz entsetzt (und
selbstredend ebenso unpolitisch wie vorurteilsfrei) ausrief: »Aber wie
kann denn der Herr Kuczynski unserem Herrn Bundeskanzler derart in den Rücken
fallen ...«
Bei den alten Juden hieß es: Entweder arbeiten oder Geld verdienen. Können
Historiker, die aus der Geschichte lernen, damit Geld verdienen? Offenbar nicht
oder jedenfalls kaum (keine Ausnahme ohne Regel). Sonst hätten wir ja nicht
die Ausgangsfrage zu stellen.
Am 3. Oktober, Carl von Ossietzkys Geburtstag, sprachen im Berliner Haus der
Demokratie und Menschenrechte Eleonore Kujawa, Kurt Pätzold, Gerhard Schoenberner
sowie Schülerinnen und Schüler der Carl-von-Ossietzky-Schule Berlin-Kreuzberg
zum Thema »Können wir aus der Geschichte lernen?« Die Texte
erscheinen in den nächsten Tagen in einem Ossietzky-Sonderdruck.