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Vergangenheitsdiskurs
Renate Hennecke
Die Debatte über ein »Zentrum gegen Vertreibungen« hat in
den letzten Wochen hohe Wellen geschlagen. Mit verschiedenen Aufrufen und Erklärungen
versuchen Erika Steinbach, Peter Glotz und der Bund der Vertriebenen (BdV) internationale
Unterstützung für ein »ZgV« in Berlin, der SPD-Abgeordnete
Markus Meckel und sein Umkreis für ein »europäisches Zentrum
gegen Vertreibungen«, über dessen Konzeption und Standort ein europäisch
besetzter Trägerkreis beraten und beschließen soll, zu mobilisieren.
Gegen beide Projekte wendet sich ein von den Historikern Hans Henning Hahn (Institut
für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Präsidiumsmitglied
der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommisson der Historiker und Geographen),
Eva Hahn (ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sudetendeutschen Haus
München) und Tobias Weger (Görlitz) sowie den Sozialwissenschaftlern
Alexandra Kurth und Samuel Salzborn (beide Gießen) initiierter Aufruf,
der kürzlich mit den Unterschriften von 116 Wissenschaftlern, Künstlern
und Politikern aus zwölf Ländern veröffentlicht wurde. Statt
eines »Zentrums« fordert dieser Aufruf »einen kritischen und
aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs«.
Für das BdV-Projekt werben Personen wie der Volksgruppenrechtler Dieter
Blumenwitz (s. Werner Röhrs Beitrag in Ossietzky 20/03) oder Otto Habsburg,
von dem solche drohenden Sätze stammen wie dieser in der Sudetendeutschen
Zeitung: »Wenn man einen dauernden Frieden haben will, muß man sich
den geopolitischen Realitäten anpassen. Es ist daher eine gefährliche
historische Illusion, wenn tschechische Politiker auch heute noch glauben, daß
sie ewig Sieger gegen das mächtige Deutschland sein werden.«
In der Bundestagsdebatte vom 16. Mai 2002 setzte sich der CDU/CSU-Abgeordnete
Norbert Lammert für die BdV-Vorstellungen mit den folgenden Worten ein:
»Die wesentliche Funktion dieses Zentrums … wird darin bestehen,
eine europäische Übereinstimmung in der Wahrnehmung dieses Vorgangs
zum Ausdruck zu bringen, nämlich daß Vertreibungen unschuldiger Menschen
aus ihrer angestammten Heimat – wodurch auch immer sie veranlaßt
gewesen sein mögen – immer Unrecht sind.« Damit verharmloste
er die Eroberungs-, Vertreibungs- und Ausrottungspolitik des Nazi-Regimes zum
»wodurch auch immer« und erklärte die von der Anti-Hitler-Koalition
beschlossenen Maßnahmen zur dauerhaften Befriedung Europas zu immerwährendem
Unrecht.
In derselben Bundestagsdebatte kritisierte Markus Meckel für die SPD-Fraktion
(zu Recht) die nationale Ausrichtung der BdV-Konzeption. Das Zentrum, das ihm
und seinen Unterstützern vorschwebt, soll von Anfang an in europäischer
Zusammenarbeit konzipiert werden und »die Vertreibungen im Europa des
20. Jahrhunderts in ihren verschiedenen Ursachen, Kontexten und Folgen, darunter
die Vertreibung der Deutschen, dokumentieren«. Bedeutet das aber mehr
als ein Bemühen, ein brandgefährliches Vorhaben international akzeptabler
darzustellen? Meckel selbst sprach im Hinblick auf die generelle Verurteilung
von Vertreibungen ohne Rücksicht auf den historischen Kontext von breiter
Übereinstimmung mit den Unterstützern des BdV-Projektes. »Noch
vor wenigen Jahren«, freute er sich, »wäre dieser Konsens in
dieser Breite und Klarheit so nicht möglich gewesen«. Auch er will
ein Zentrum, in dem das Potsdamer Abkommen als Unrecht festgeschrieben wird:
»Es waren im letzten Jahrhundert nicht nur Hitler und Stalin, die Verursacher
von Vertreibungen waren, sondern – wir müssen es zugeben –
auch Demokraten wie Churchill, Roosevelt und Truman akzeptierten Vertreibungen,
indem sie Zwangsumsiedelungen als Teil von Stabilitätspolitik betrachteten
… Dieses Vorgehen kann niemand rechtfertigen.« Erika Steinbach ließ
sich nach Meckels Ausführungen das Wort für eine Kurzintervention
erteilen, um Meckel gerührt zu antworten: »Heute ist ein guter Tag.«
(Zitate lt. Bundestagsprotokoll)
Ich bin froh, daß nun die Erklärung »Für einen kritischen
und aufgeklärten Vergangenheitsdiskurs« vorliegt und auf den Zusammenhang
zwischen der Zentrums-Idee und den seit Jahren in der BRD zu beobachtenden geschichtsrevisionistischen
Tendenzen hinweist.
Die Erklärung wendet sich eingangs gegen die Lüge, »die Verteibung«
sei bisher ein Tabuthema gewesen: »Kaum eines Themas wurde in der Geschichte
der Bundesrepublik so umfassend erinnert und gedacht wie der Flucht und Vertreibung
der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. In fast jeder deutschen Stadt steht
ein Gedenkstein, fast überall erinnern lokale Mahnmale an diesen Teil der
deutschen Geschichte. Die wissenschaftliche Forschung zum Thema war von Beginn
an umfangreich, wie auch die literarische Verarbeitung und die öffentliche
Auseinandersetzung.«
Ihren legitimen Ort habe die Erinnerung an diese Geschehnisse, so die Erklärung,
»im individuellen Gedenken der Menschen, fest verwurzelt in einer pluralen
und kontroversen Erinnerungslandschaft der BRD«. Bei der aktuellen Forderung
nach einem Zentrum gehe es aber um etwas Anderes: »Hier soll ein zentrales
Mahnmal entstehen, mitgetragen aus öffentlichen Mitteln und abgesichert
durch staatliche Weihen. Ein Zentrum, das ein einheitliches Geschichtsbild etablieren
und durchsetzen soll.« Damit sei die große Gefahr »einer staatlich
sanktionierten Umdeutung der Vergangenheit, ja einer Revision der Geschichte
und der Torpedierung eines auf europäischen Dialog angelegten gesellschaftlichen
und politischen Diskurses« verbunden.
»Historisch betrachtet«, so die Erklärung weiter, »droht
eine Entkontextualisierung der Vergangenheit, die Negation des ursächlichen
Zusammenhangs von NS-Volkstums- und Vernichtungspolitik auf der einen und Flucht
und Vertreibung der Deutschen auf der anderen Seite. Die politische Gefahr besteht
insbesondere in der Ethnisierung von gesellschaftlichen Konflikten, also der
Umdeutung von politischen und sozialen Kontroversen in ethnische – und
damit der Zementierung eines völkischen Verständnisses von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft.«
Statt über Details eines Zentrums gegen Vertreibungen zu debattieren, sollte
– so der Schluß – eine »europäische Aufarbeitung
der Vergangenheit sich auf einen pluralen, kritischen und aufgeklärten
Diskurs gründen«.
Ich wünsche mir, daß die Erklärung viele weitere UnterstützerInnen
findet, und das um so mehr, als die Bundestagsmehrheit 2002 nicht explizit die
Errichtung eines Zentrums beschlossen, sondern sich vorsichtigerweise erst einmal
dafür ausgesprochen hat, »einen europäischen Dialog über
die Errichtung eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen zu beginnen«.
Schon der Beginn dieses Dialogs in den letzten Wochen hat zu schweren Belastungen
der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Beziehungen geführt.
Mit deutlichen Stellungnahmen sollten wir es der rot-grünen Koalition erleichtern,
Abstand von einem Projekt mit derartigen Folgen zu nehmen.
Zu den ErstunterzeichnerInnen gehören Miloslav Bednár, Institut
für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik,
Prag; Józef Borzyszkowski, Präsident des Kaschubischen Instituts,
Gda´nsk; Martin Brown, The American International University in London;
Micha Brumlik, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Johann Wolfgang
Goethe Universität Frankfurt a. M.; Werner Buchholz, Lehrstuhl für
die Geschichte Pommerns, Universität Greifswald; Christoph Butterwegge,
Abteilung für Politikwissenschaft, Universität zu Köln; Bronisl´aw
Geremek, Historiker, Warschau; Peter Härtling, Schriftsteller, Mörfelden-Waldorf;
Heiko Haumann, Historiker, Universität Basel; Hans Hautmann, Vorstand des
Instituts für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Johannes Kepler Universität
Linz; Jerzy Holzer, Historiker, Direktor des Instituts für politische Studien
der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau; Gerhard Kraiker, Institut
für Politikwissenschaft, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg;
Adam Michnik, Chefredakteur der Zeitung Gazeta Wyborcza, Warschau; Alvydas Nikzentaitis,
Direktor des Instituts für die Geschichte Litauens, Litauische Akademie
der Wissenschaften, Vilnius; Tore Nyberg, Historiker, Odense; Walter H. Pehle,
Fischer Taschenbuch Verlag, Lektorat Geschichte, Frankfurt a. M; Anton Pelinka,
Institut für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck; Dietrich
Scholze, Direktor des Sorbischen Instituts, Bautzen; OldŠrich Stránsk´y,
Mitglied des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums und Vorsitzender der
Vereinigung befreiter politischer Häftlinge beim Bund der Freiheitskämpfer,
Prag; Robert Traba, Präsident der Gesellschaft »Borussia«,
Olsztyn.
Der vollständige Text mit der Liste der ErstunterzeichnerInnen sind im
Internet unter www.vertreibungszentrum.de abrufbar oder über die Redaktion
der Deutsch-Tschechischen Nachrichten (Schwanthalerstraße 139 Rgb., 80339
München, Telefon 089-507925) erhältlich.
Erschienen in Ossietzky 21/2003
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