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13 Jahre Einheit
Daniela Dahn
Nach 13 Jahren Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute
Hälfte der Befragten Ostdeutschen, darunter viele Rentner, gibt an, ihre
persönliche materielle Situation habe sich im Vergleich zur DDR verbessert.
Das bezieht sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten.
Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber das Wohlwollen
gegenüber Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das heißt,
wachsender Wohlstand zieht im Osten nicht unbedingt wachsendes Wohlbefinden
nach sich. Dem Schulbuch meiner Tochter entnehme ich, daß mit der Demokratie
in Deutschland im Westen 73% eher zufrieden sind, im Osten nur 48%. Dies ist
jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher
Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das
System im Osten übertragen wurde.
Es gibt Fehler, die sind so gravierend, daß sie irreparabel sind. Dazu
gehört das Anzetteln von Eroberungskriegen. Nach dem ersten Weltkrieg sank
die Industrieproduktion Deutschlands auf 60 Prozent. Nach dem zweiten Weltkrieg
sank sie auf 40 Prozent. Auf 30 Prozent sank die Industrieproduktion Ostdeutschlands
nach dem Beitritt. Alle Fachleute hatten dies vorausgesagt. Der Bundesrat machte
seine Zustimmung zum Vertrag über die Währungsunion in einer nie an
die Öffentlichkeit gelangten Entschließung davon abhängig, daß
es unverzüglich zu Neuverhandlungen kommt, »sobald sich zeigt, daß
die DDR auf Dauer zum wirtschaftlichen Notstandsgebiet zu werden droht«.
(Bundestagsprotokoll, II. Wahlperiode, S. 17574) »Die Wirkung der Währungsunion
zu den Bedingungen von Kanzler Kohl war vergleichbar mit einer ökonomischen
Atombombe«, konstatierte der Wirtschaftskolumnist des Guardian knapp ein
Jahr später (April 1991). Doch statt Nachverhandlung kam die Schocktherapie
der Treuen Hand hinzu, die 95 Prozent des Volkseigentums in westliche Hände
übergab.
Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerung in Europa, der am wenigsten
von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt. Immobilien, Betriebe und
Bodenreformland wurden unter Konditionen verkauft, von denen die einstigen DDR-Bürger
weitgehend ausgeschlossen waren. Egon Bahr hat darauf hingewiesen, daß
in Ostdeutschland feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen
wurden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden
worden sind. Die politische Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische
Spaltung auf gewissen Gebieten vertieft.
Das Problem ist beileibe nicht, daß der Osten noch nicht den Wohlstand
des Westens erreicht hat. Der soeben erschienene Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der Deutschen Einheit weist für die neuen Länder ein Bruttoinlandsprodukt
aus, das immer noch unter dem liegt, das selbst die marode DDR am Ende zustande
gebracht hatte. Oder aus der Sicht des 19. Berichts des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung beschrieben: Die Einfuhren nach Ostdeutsch¬
land übertreffen die Ausfuhren auf dramatische Weise. Das jährli¬
che Leistungsbilanzdefizit be¬ trug in den letzten Jahren jeweils 200 Mil¬
liarden Mark. Diese gigantische Summe bedeu¬ tet, daß im Beitrittsge¬
biet jeden Tag Leistungen von etwa 600 Millionen Mark angefordert werden, die
durch eigene Wirtschaftskraft nicht ge¬ deckt sind. Anders ausgedrückt:
Rund ein Drittel des Ver¬ brauchs in den neuen Ländern wird von draußen
finanziert – eine zu DDR-Zeiten undenkbare Disproportion. Es ist freilich
ein Bankrott auf hohem Niveau: Unsere Telekommunikation ist auf dem neusten
Stand und die meisten Straßen sind ausgebaut. Aber all die schöne
Infrastruktur erfüllt hauptsächlich den Zweck, westliche Waren ins
Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.
Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß
eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme
ihr das Letzte.
Natürlich entgeht vielen Ostdeutschen nicht, welchen enormen Belastungen
inzwischen nicht nur die Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern
unterworfen sind. Da die Kosten der gegen jede ökonomische Vernunft organisierten
Einheit leider nicht durch einen Lastenausgleich aufgebracht wurden, sondern
weitgehend den Sozialsystemen aufgebürdet wurden, kann gar nicht übersehen
werden, daß auch jeder Arbeiter und Angestellte, jeder Arbeitslose und
Rentner im Westen von dieser und jener Agenda empfindlich zur Kasse gebeten
wird. »Unser soziales System steht wirklich auf der Kippe«, hat
Exbundespräsident Herzog gerade gesagt. Daß sich inzwischen herumgesprochen
hat, daß auch die Ostdeutschen den Solidaritätsbeitrag zahlen, macht
die Sache nicht besser. Soweit ich es beurteilen kann, sieht man im Osten die
westlichen Leistungen mit Respekt und Mitgefühl. Und mit dem unbehaglichen
Wissen darum, daß die DDR-Wirtschaft am Ende verschlissen war. Sie war
krank, aber nicht tot.
Die gesamten Auslandsschulden betrugen etwa ein Viertel dessen, was jetzt jährlich
an Transfergeldern nötig ist. Unterstellt, die industrielle Ausrüstung
sei ein einziger Schrotthaufen gewesen, bliebe die Frage wie man mit einem Schrotthaufen
1989 immerhin noch ein Bruttosozialprodukt von 354 Milliarden Mark (Statistisches
Jahrbuch der DDR von 1990) erwirtschaften konnte. Angenommen es war ein Schrotthaufen
– was nicht stimmt, aber bleiben wir dabei – so konnten doch die
Immobilien und der schuldenfreie Grund und Boden und vor allem die mitgebrachten,
enormen Absatzmärkte in Osteuropa und Asien nicht wertlos sein. Die sind
nämlich nicht weggebrochen, wie behauptet wird, sondern weggenommen. Schon
nach kurzer Zeit haben westliche Unternehmen diese langjährigen Kunden
der DDR in vollem Umfang beliefert.
Ein Zufall war es nicht, daß zwischen 1989 und 1992 die Zahl der Einkommensmillionäre
in den alten Bundesländern um beinahe 40 Prozent zugenommen hat. Ein Zufall
war es auch nicht, daß 1990 das beste Geschäftsjahr der Deutschen
Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte war. Im Spiegel (10/94 S.55) konnte
man dazu lesen:
»Für westliche Geldhändler hat es einen
dickeren Fang wohl nie gegeben: Das komplette Bankensystem eines ganzen Staates,
rund 80 Milliarden Mark Spareinlagen und die Schulden auf der anderen Bilanzseite,
war im Supermarkt der deutschen Einheit billig zu haben. Fast alle bedeutenden
Kreditinstitute griffen zu.«
Wenn man bedenkt, daß Kredite in der DDR für einen Zinssatz zwischen
zwei und fünf Prozent vergeben wurden, die neuen Geldeigner aber für
diese, von ihnen selbst nie vergebenen Kredite plötzlichen einen Zinssatz
von zehn und mehr Prozent forderten, und so allein zwischen 1991 und 1996 einen
Zusatzgewinn von ca. 100 Milliarden D-Mark erzielten, so muß man sich
schon fragen, weshalb nicht auch die Banken einen kleinen Solidarbeitrag zu
zahlen haben ...
Die selbe Frage wäre bei fast allen Treuhandgeschäften angebracht.
»In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm
für Westdeutsche, das es je gegeben hat.« Sagte Henning Voscherau
(4.12.96 in der Welt), damals Hamburgs Regierender Bürgermeister. Für
Westdeutsche, sagte er, nicht für alle Westdeutsche. Für einige, würde
ich denken. Eher einige wenige.
Das statistische Bundesamt veranschlagt den »Vereinigungsgewinn«
für Westdeutschland auf rund 200 Milliarden D-Mark pro Jahr. Weit mehr
also, als der Bruttotransfer in die entgegengesetzte Richtung, der den Ostdeutschen
ständig vorgerechnet wird.
Einen Vereinigungsprozeß, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte
allerdings noch nie gegeben. Der Zusammenschluß verschieden star¬
ker Partner ist immer die Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas
Kaltes zusammenfließen, dann wird das Warme kälter und das Kalte
wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich und Arm vereinen, dann wird das
Reiche reicher und das Arme ärmer. So ist der Mensch.
Als sich die reichen Nordstaaten Amerikas nach dem gewonnenen Bürgerkrieg
1865 entschlossen, den armen Süden aufzubauen, nahm in einem Jahrzehnt
der Wohlstand des Nordens um weitere 50 Prozent zu, während der Lebensstandard
im Süden um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld.
In Fachgutachten über die östliche Million leerstehender Wohnungen
lese ich von »flächendeckendem Abriß der Stadtbrachen«
und, wo auch dafür das Geld fehlt, von Vierteln, die »ausgebucht
und eingemottet« werden. Bewohner, die das gleiche Schicksal vermeiden
wollen, suchen das Weite. So will über die Hälfte der Jugend in Mecklenburg-Vorpommern
mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit wegziehen. (Schweriner Volkszeitung
5.5.02) Kein Wunder bei einer realen Arbeitslosigkeit in dieser Region, die
fünf mal so hoch ist, wie in Bayern. Selbst in der Leuchtburg Dresden steht
bald jede fünfte Wohnung leer. Das Stadtumbauprogramm Ost ist ein rühriger
Versuch der Bundesregierung, das Desaster abzuwenden. Aber die Mittel sind doch
nur ein Tropfen auf den kalten Stein. Wenn sich die Menschen weiterhin in gleichem
Ausmaß genötigt sehen, aus beruflichen Gründen in den Westen
zu ziehen, so werden nach Berechnungen von Demographen schon im Jahre 2020 zwei
Drittel aller Bewohner Ostdeutschlands Rentner sein. Ich wage nicht mir vorzustellen,
welche Folgen allein für das Lebensgefühl das haben wird. Ironie oder
Agonie? Der Aderlaß an Jugend, Kreativität, Bildung, Optimismus und
Lebenslust ist die größte Bedrohung für den Osten.
Die beabsichtigte schöpferische Zerstörung dessen, was einst die überindustrialisierte
DDR war, hat das Gebiet zu einem strukturschwachen Entwicklungsland gemacht,
in dem von fernen Zentralen fremdbestimmte Montagebetriebe einsame Hoffnungsträger
sind. Kein einziges der 190 größten deutschen Unternehmen hat seinen
Sitz im Osten. Den verlängerten Werkbänken aber droht bei abschwächender
Konjunktur als erstes der Abbau. Eine Allianz böser Zungen behauptet, was
dann noch blühe, seien Sondermülldeponien.
Vor wenigen Tagen hat der für den Aufbau Ost zuständige Bundesminister
Manfred Stolpe verkündet, der Traum von einer baldigen Angleichung der
Lebensbedingungen in Ost und West müsse »endgültig beerdigt
werden«. Gleicher Lohn für gleiche Leistung? Nein, siebzig Prozent
Lohn bei gleichen Ausgaben. Erst in 16 Jahren soll das Ziel geschafft sein,
aber nicht etwa, weil begründete Wachstumsprognosen zu dieser Hoffnung
berechtigen, sondern weil dann die Transfergelder auslaufen. Wundersame Genesung
durch in Aussicht gestellten Medikamentenentzug? Andere Fachleute gehen inzwischen
davon aus, es werde 80 Jahre dauern, bis sich der Lebensstandard in beiden Teilen
des Landes angeglichen habe. Setzt sich diese Tendenz fort, wird es wohl niemanden
mehr überraschen, wenn uns demnächst erklärt wird, die Kluft
werde überhaupt nie überwunden werden. Viele sagen: der Osten ist
aufgegeben worden. Von Chefsache ist längst keine Rede mehr. Das ist auch
gut so. Denn die Chefs kommen und gehen, aber der Osten bleibt. Und ein alimentierter
Osten schwächt den Lebensstandard der ganzen Bundesrepublik. Nicht nur
deshalb wünschte ich mir, der Osten würde zur Herzenssache. Bei einer
dramatischen und sozusagen telegenen Katastrophe wie der Flut, ist das eindrucksvoll
gelungen. Die Solidarität war nicht nur herzerwärmend, sondern für
die Betroffenen auch überlebenswichtig.
Aber die schleichende alltägliche Abwärtsbewegung, der Streit darüber,
ob der Osten auf der Kippe steht oder bereits gekippt ist, ist schwer zu vermitteln.
Haben wir deshalb zur Aufmunterung die Ostalgiewelle beschert bekommen?
Vor einem Monat stand ich auf der Autobahn Hamburg – Berlin im Stau. Ich
meine so einen richtigen Stau, wo man aussteigt und Zeit hat, mit den Leuten
ins Gespräch zu kommen. Vor uns in der Schlange stand ein Wagen mit großem
»sat 1«-Logo. Ihm entstieg eine Truppe junger, lustiger Leute, die
an Autos mit Berliner Nummern Einladungen verteilten: zur »Ultimativen
Ostshow« am nächsten Wochenende. Ich nutzte die Gelegenheit mit den
Redakteuren ins Gespräch zu kommen, die, wie sich zeigte, alle Hamburger
waren. Meine Frage, ob sie denn auch einige Ostdeutsche in der Redaktion hätten,
überraschte sie zunächst, schließlich glaubten sie zu wissen,
daß wohl einige zur Beratung hinzugezogen worden seien. Also keine Sorge
– selbst die Ostalgie ist fest in Westhand…
Das wichtigste Freiheitsrecht ist in der Marktwirtschaft das Eigentum. Ludwig
Erhard kannte die Spielregel seines Systems: »Nur Eigentum gewährleistet
persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.« Wenn die
Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Pro-Kopf-Vergleich
zu den Westdeutschen nur noch über ein Viertel des Eigentums verfügen,
auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit.
Und wo kein Haben ist, da ist nach hiesigen Spielregeln auch kein Sagen. Man
kann die Ostdeutschen nicht in Demokratie und soziale Marktwirtschaft einbeziehen
wollen, indem man sie zugleich von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit
und Eigentum, weitgehend ausschließt.
Das allerdings trifft auf Westdeutsche, so sie dieselbe Erfahrung machen, ganz
genauso zu. Dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist
folgende Kluft zu entnehmen: Auf die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte
»entfallen« 42 Prozent des gesamten Privatvermögens. Während
sich die untere Hälfte aller Haushalte 4,5 Prozent der Bestände teilen
muß. Wie lange will sich diese untere Hälfte das eigentlich noch
gefallen lassen?
Die Rechnung für die denkbar teuerste Art der Vereinigung wird den Menschen
auf beiden Seiten untergejubelt. Dabei wird der Reichtum immer unverschämter,
die Armut immer verschämter. Werden wir angesichts eines vor der Tür
stehenden Winters mit vielleicht fünf Millionen Arbeitslosen fragen müssen,
ob wir demnächst im Abschwung vereint seien? Dagegen anzugehen liegt längst
im gemeinsamen Interesse der Betroffenen in Ost und West.
Mögen wir uns dem gütigen Geschick, das uns vor 13 Jahren beschert
wurde, gewachsen erweisen.
Daniela Dahn hielt am 3.Oktober in Ingolstadt eine »Rede zur deutschen
Einheit«.
Erschienen in Ossietzky 21/2003
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