Der Staatsschutz ermittelt

von Lothar Kusche

Als wir am Sonntag, 7. September 2003, einen Morgenspaziergang zu unserm alten und leicht verrosteten S-Bahnhof Berlin-Baumschulenweg machten, hörten wir von einem Zeitungshändler, was dort bei freundlichem Wetter schon in der sogenannten Herrgottsfrühe geschehen war. Später wurde es auch in der Presse gemeldet: "Vier unbekannte Männer überfielen in der Bahnhofshalle einen vierundzwanzigjährigen Iraner und schlugen ihn bewußtlos. Der Angestellte einer Bäckerei-Kette erlitt schwere Kopfverletzungen und andere Blessuren; er mußte mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus überführt werden. Die Täter hatten Morddrohungen gegen ihr Opfer ausgestoßen und konnten unerkannt flüchten."

Kein Wunder. Wie hätten denn die Schläger, die als "unbekannte Männer" aufgetreten waren, nach ihrem sadistischen Tobsuchtsanfall auch anders als "unerkannt" flüchten können? Wer denn sollte sie erkennen? Der Brot- und Kuchenverkäufer aus dem vorderen Orient, welcher den aggressiven Randalierern Einhalt gebot, als sie Spaß daran fanden, die Kiosk-Glaswand mit den Stiefeln zu zertrümmern? Wäre ein Polizist in der Lage gewesen, die Namen der Rowdys zu notieren? Wir wohnen seit Jahren in Baumschulenweg und haben dennoch auf dem hiesigen Bahnhof, zu welcher Tages- oder Nachtstunde auch immer, noch niemals einen Polizisten gesehen.

Wir wissen nicht einmal, wie der iranische Mensch heißt, der sich in Deutschland vielleicht sicherer fühlte als in seiner Heimat - sicherer fühlte bis zum 7. September 2003.

Aber wir kannten diesen (für uns namenlosen) freundlichen, schlanken und großen jungen Mann seit langem und kauften öfter Kümmelbrötchen bei ihm und staunten, daß er sich so schnell gemerkt hatte, wie braun gebacken gerade jene Kümmelbrötchen sein sollten, die wir gerne essen.

Dabei kann man von einem Studenten der Naturwissenschaften (und das ist seine erste und wichtigste Tätigkeit) nicht ohne weiteres erwarten, daß er sich merkt, wie Kümmelbrötchen beschaffen sein sollen, damit die Mitglieder unserer Familie Geschmack an ihnen finden.

Mit dem Vertrieb dieser Kümmelbrötchen und anderer Backwaren verdiente sich der stud. nat. "ein bißchen Taschengeld", das er aber nicht zum Erwerb von Springerstiefeln, Schlagringen oder für Tätowierungen verbrauchte, sondern zum Kauf wissenschaftlicher Bücher, "die teilweise traurig teuer sind". Einmal sparte er es für einen Billigflug "in die andere Heimat" auf. Er erzählte uns locker und zugleich zurückhaltend vom Wiedersehen mit seinen Leuten und von einer glücklich überstandenen Zwischenprüfung.

Bis zum nächsten Examen bleibt noch etwas Zeit, in der - toi, toi, toi! - seine Knochen zusammenwachsen sollen und sein malträtierter Schädel sich erholen möge.

Zeitungsmeldungen wie die oben zitierte enden fast immer mit dem Satz: "Der Staatsschutz ermittelt." Das klingt bedeutungsvoll, obwohl man nicht weiß, was es bedeuten könnte. Ist das ein Trost oder eine Warnung oder eine bloße Redensart? Wer ist der Staatsschutz? Wie gehen seine Ermittlungen vor sich, falls sie überhaupt stattfinden (nicht nur in Aktennotizen und Leitz-Ordnern)?

Wie die Liebe (so wird gesungen) nur ein Geheimnis ist, so bleibt auch der Staatsschutz eines. Die Staatsschützer legen keinen Wert darauf, daß unsereiner erfährt, was sie tun oder lassen oder tun lassen. Wenn der Bundeskanzler wie ein erschöpfter, aber energischer Geher seine Gänge geht, begleiten ihn hochgewachsene Kleindarsteller (man hat noch nie so große Kleindarsteller gesehen), welche in den Rollen unauffälliger Zivilisten glänzend versagen: die Staatsschützer. Gibt Herr Schröder auf dem Luftschutzdach seiner Behörden ein Interview, so sind seitwärts große Buchsbaumtöpfe aufgestellt, dahinter die Staatsschützer (falls sie ihre eigenen Persönlichkeiten nicht als Buchsbaumtöpfe verkleidet haben). Der Staatsschutz schützt den Staat, die wichtigen Staatsrepräsentanten und sich selber. Man braucht ihn nicht wie die Luft zum Atmen; er bekommt der Lunge und dem Kreislauf nicht besonders, weil er etwas bleihaltig zu sein scheint.

Der Staatsschutz umsorgt Leute, die ihm von höherer Stelle als Persönlichkeiten benannt wurden, aber keine gewöhnlichen Einwohner. Die Einwohner sind für den Staat da, aber dieser nicht für jene. Das einzige, was er für einen in Baumschulenweg nicht ganz ermordeten Iraner tut, ist mitzuteilen, daß er ermittelt. Großartig. Das ist von ähnlich entscheidender sozialer Bedeutung wie der Kraftakt eines gelangweilten Anglers, der in die hohle Hand niest, weil er sein Taschentuch verloren hat.

Erschienen in Ossietzky 19/2003