Zur normalen Fassung

Das freie Spiel des Rechtes

Der globale Kapitalismus schafft sich ein neues Fundament

von Ursula F. und Bernd P.

Begriffe wie "Raubtierkapitalismus" oder "Wild-West-Kapitalismus" sind schon per se irreführend, da sie suggerieren, Kapitalismus sei auch ohne eine rechtliche Grundlage möglich.

Der Vorgang ist keineswegs einmalig: Als die Tochterfirma des US-amerikanischen Bechtel-Konzerns Aguas del Tunari Ende der 90er Jahre die Wasserrechte von Boliviens drittgrößter Stadt Cochabamba erworben hatte, kam es aufgrund der stark gestiegenen Wasserpreise zu heftigem Widerstand der Bevölkerung. Nach gewaltsamen Zusammenstößen, bei denen ein Mensch starb und über hundert verletzt wurden, verhängte die bolivianische Regierung den Ausnahmezustand. Im April 2000 mußte sich Aguas del Tunari von dem Geschäft zurückziehen. Daraufhin verklagte die eigens für die Übernahme der bolivianischen Wasserversorgung gegründete Firma die Republik Bolivien vor dem International Center for the Settlement of Investment Disputes (ICSID) und forderte 25 Millionen US-Dollar als Kompensation für entgangene Gewinne. Im Februar 2003 wies der ICSID eine Petition zurück, in der ein Bündnis internationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen forderte, alle Verhandlungen und Dokumente im Fall Aguas del Tunari versus Bolivien der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Es ist erstaunlich, daß ein juristischer Streitfall mit solch weitreichenden Auswirkungen für die bolivianische Bevölkerung von einem Expertengremium wie dem ICSID (einer Tochterorganisation der Weltbank) verhandelt wird, das unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagt. Noch verwunderlicher ist allerdings, daß dies trotz vereinzelter Proteste wenig Aufsehen erregt. Je mehr die fortschreitende weltwirtschaftliche Verflechtung supranationale Institutionen erforderlich macht, die in der Lage sind, wirtschaftliche Streitfragen zwischen Staaten und/oder transnational agierenden Konzernen zu schlichten, desto eher können rechtsstaatliche Errungenschaften von großen Teilen der Weltöffentlichkeit unbemerkt ausgehöhlt werden. Rechtliche Entscheidungen, die auf das Leben des Einzelnen teilweise schwerwiegendere Auswirkungen haben als die Gesetzgebung der nationalen Parlamente, werden heute zunehmend in Gremien wie dem ICSID entschieden, auf die die betroffenen Menschen keinerlei Einfluß nehmen können und von deren Existenz sie oft nicht einmal wissen.

Führt die Entnationalisierung des Handelsrechts also zu einem globalen Kapitalismus, in dem die rechtlichen Strukturen so unübersichtlich werden, dass am Ende nur noch das Recht des Stärkeren übrig bleibt? Oder führt das Eigeninteresse des Kapitals zu einem "Recht, das sich ähnlich berechnen lässt wie eine Maschine" (Max Weber), also zu einer Vereinheitlichung des internationalen (Handels-)Rechts und seiner Konzentration bei einer Instanz, die über geeignete Machtmittel verfügt, um Urteile nötigenfalls auch gewaltsam gegen die starken wirtschaftlichen Akteure durchzusetzen?

Autonomes Handelsrecht ...

Die Verrechtlichung der globalen Wirtschaftsbeziehungen spielt sich - da internationales Handelsrecht verschiedene Quellen hat - auf unterschiedlichen Ebenen ab. Eine der wichtigsten Rechtsquellen ist das so genannte autonome Handelsrecht (lex mercatoria). Dabei handelt es sich um gewachsenes, nicht von einer bestimmten Institution gesetztes Gewohnheitsrecht. Es ist über lange Zeit hinweg aus der Verfestigung informeller Konventionen und allgemein anerkannter Verfahrensweisen auf dem Gebiet des internationalen Handels hervorgegangenen. Seine Ursprünge liegen im ius mercatorum, einem Spezialrecht für Kaufleute, das im 11. Jahrhundert mit dem Aufleben des Handels entstanden ist, sowie im Handelsrecht der Hanse, die in ihrem Vertragsgebiet das Privileg einer eigenen Rechtsprechung genoß. Der Begriff lex mercatoria wurde erstmals um 1300 erwähnt, als der Englische König Edward I. bei grenzüberschreitenden Streitfällen schnelle Verhandlungen vor einem Gremium zusicherte, das paritätisch mit einheimischen und auswärtigen Kaufleuten besetzt war. Mit dem Merkantilismus des 17. Jahrhunderts und dem Aufkommen der Nationalstaaten verlor das autonome Handelsrecht jedoch an Bedeutung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich dieser Trend um, und es wurden wieder verstärkt Versuche zu seiner Kodifizierung und Vereinheitlichung unternommen.

Heute wird die lex mercatoria von verschiedenen Organisationen als Grundlage der Streitschlichtung zwischen transnational agierenden Unternehmen verwendet. Als wichtigstes dieser im Prinzip privaten Schiedsgerichte hat sich das Schiedsgericht der 1932 gegründeten International Chamber of Commerce (ICC) durchgesetzt. Auch wenn die Teilnahme an einem Schiedsverfahren des ICC formal freiwillig ist und es seine Urteile nicht mit Gewalt durchsetzen kann, verfügt es doch über beachtliche Sanktionsmöglichkeiten wie z.B. schwarze Listen, Boykott und Ausschluß. Seine Schiedssprüche wirken dadurch de facto rechtsetzend.

Früher wurde das autonome Handelsrecht von den nationalen Gerichten nicht als geltendes Recht akzeptiert. Seit ca. 20 Jahren zeichnet sich aber ab, daß nationale Gerichtsbarkeiten es zunehmend anerkennen. Noch Anfang der 80er Jahre versuchten einige Unternehmen dem Spruch der ICC zu entgehen, indem sie Streitfälle vor nationalen Gerichten neu aufrollten. Der österreichische Oberste Gerichtshof beispielsweise entschied aber, bei der lex mercatoria handle es sich um geltendes supranationales Recht, und bestätigte den Spruch der ICC. In Großbritannien, Italien und der Schweiz gab es vergleichbare Entscheidungen.

Beim autonomen Handelsrecht zeigt sich besonders deutlich, daß die Verrechtlichung internationaler Wirtschaftsbeziehungen nicht ein punktuelles Ereignis darstellt, sondern einen kontinuierlichen Prozeß. Der Übergang zwischen informellen Übereinkünften, für deren Nichteinhaltung man schlimmstenfalls mit offener Mißbilligung rechnen muß, und geltendem Recht, dessen Bruch letztlich gewaltsame Sanktionen nach sich zieht, ist gerade in den internationalen Beziehungen fließend.

... versus Völkervertragsrecht

Die zweite, wesentlich jüngere Quelle des internationalen Handelsrechts sind multilaterale völkerrechtliche Verträge, mit denen seit Beginn des 20. Jahrhunderts internationales Recht gesetzt wurde. Wichtige Beispiele sind die Brussels Convention on Bills of Lading von 1924, die den Transport auf See regelt, die Convention on Contracts for the International Sale of Goods, die Geneva Conventions on Bills of Exchange von 1930, die den internationalen Zahlungsverkehr erleichtern soll, oder die Hague Convention von 1955, die eine Angleichung des internationalen Privatrechts zum Ziel hat. Viele Verträge werden im Rahmen von UNO-Institutionen wie UNIDROIT (International Institute for the Unification of Private Law), UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) oder UNCITRAL (United Nations Commission on International Trade Law) geschlossen, die sich eine Harmonisierung des internationalen Handelsrechts zum Ziel gesetzt haben.

In den vergangenen Jahrzehnten scheint es jedoch, als habe es die "legislatorische" Verrechtlichung wirtschaftlicher Beziehungen schwer, mit der lex mercatoria Schritt zu halten. Denn Kompromisse zwischen Staaten sind schwierig und zeitraubend, und auf solche Einigungsprozesse ist das autonome Handelsrecht nicht angewiesen.

Bei den beiden bisher beschriebenen Typen von Handelsrecht handelt es sich um Normen, die die Beziehungen der privaten Wirtschaftssubjekte zueinander regeln. Genauso wichtig wie das private Handelsrecht ist aber die fortschreitende De-Facto-Verrechtlichung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Unternehmen und Staaten und der Staaten untereinander. Die dafür wichtigste Organisation ist neben der EU sicherlich die WTO. Die Verträge, aus denen sie besteht (GATT, GATS und TRIPS, siehe ganz unten Kasten), und ihre zentralen Prinzipien, also unbeschränkter Marktzugang, Inländerbehandlung und Meistbegünstigung, haben von den Mitgliedsstaaten oft größere Veränderungen ihrer Handels- und Zollpolitik erzwungen, als sie freiwillig zu leisten bereit waren. Deshalb mußten quasi-gerichtliche Instanzen eingerichtet werden, die nun Verstöße ahnden und Streitigkeiten beilegen.

Klagen bei der WTO

Der Streitbeilegungsmechanismus der WTO ist mit ihrer Gründung 1995 in Kraft getreten und trug in hohem Maße zur Verrechtlichung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den WTO-Mitgliedsstaaten bei. Er beruht auf einem Dispute Settlement Understanding (DSU) genannten Abkommen und wird vom Dispute Settlement Body (DSB), der sich aus den diplomatischen Vertretungen aller Mitgliedsstaaten zusammensetzt, durchgeführt. Der DSB ist aber keineswegs so demokratisch verfaßt, wie es den Anschein hat, da sich viele Länder der Dritten Welt keine ständige Vertretung in diesem Gremium leisten können. Damit sind sie von Ausschußsitzungen, Arbeitsgruppen und informellen Treffen ausgeschlossen, wo sie für ihre Interessen werben könnten.

Alle WTO-Mitgliedsländer haben das Recht, Klage beim DSB einzureichen. Wenn die bilateralen Konsultationen scheitern, die ein fester Bestandteil des Schiedsverfahrens sind, beauftragt der DSB ein Panel von drei bis fünf Handelsjuristen, deren Identität geheim bleibt und deren Sitzungen nicht öffentlich sind, einen Bericht zu erstellen und Empfehlungen auszusprechen. Die Zusammensetzung des Panels wird den Streitparteien vom WTO-Sekretariat vorgeschlagen; kommt es zu keiner Einigung, wird sie vom Generaldirektor bestimmt. Das Inkrafttreten eines Panel-Beschlusses kann nur durch den Konsens aller 146 WTO-Mitgliedsstaaten verhindert werden - was faktisch ausgeschlossen ist. Durch die Annahme des Berichtes wird dieser zu geltendem Recht und hat Präzedenzwirkung. Im bisherigen GATT-Vertrag von 1947 mußten die Empfehlungen des Panels hingegen im Konsens angenommen werden, um wirksam zu werden. Jedes von einem Schiedsspruch betroffene Land konnte so de facto Veto einlegen. Daß mit dem neuen GATT die Beziehungen der WTO-Mitglieder rechtsförmiger geworden sind, sieht man auch daran, daß die politische Option des Vetos durch die juristische Option der Berufung ersetzt wurde. Dazu wurde eine eigene Berufungsinstanz geschaffen, der Standing Appellate Body (SAP). Sein Spruch ist schon dann rechtskräftig, wenn ihm nur eines der Mitgliedsländer zustimmt.

Trotz des hohen Grades an Verregelung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den WTO-Staaten hängt die Möglichkeit zur Wahrung der eigenen Rechte und Interessen immer noch von der realen Wirtschaftskraft der jeweiligen Staaten ab. Denn nur wer über die nötigen Mittel verfügt, kann es sich leisten, die exorbitanten Anwaltshonorare zu bezahlen, und nur wer in der Lage ist, für eine gewisse Zeit auf Exporteinnahmen zu verzichten oder Importe zu höheren Preisen in Kauf zu nehmen, hat die Macht, seine Interessen nötigenfalls auch gegen die Entscheidung des DSB durchzusetzen oder aber vom DSB nicht autorisierte Handelssanktionen durchzuführen. In den letzten Jahren hat sich das Machtgefälle zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern in der WTO-Arena jedoch etwas reduziert. Die Zahl der auf Initiative von Drittweltstaaten betriebenen Verfahren ist gestiegen, nicht zuletzt, weil 2001 mit dem Advisory Centre on WTO Law eine Art Rechtsbeistand für Entwicklungsländer eingerichtet wurde.

Auch der Weltbank kommt eine wichtige Rolle bei der Verregelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu - insbesondere ihrer 1966 gegründeten Tochterorganisation ICSID. Das ICSID ist in erster Linie ein Forum für die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Staaten und ausländischen Investoren. Die Teilnahme am Schlichtungsverfahren ist freiwillig, allerdings kann sich keine Partei aus einem laufenden Verfahren zurückziehen.

Ein unebenes Spielfeld

Nicht alle Initiativen zur Verrechtlichung internationaler Wirtschaftsbeziehungen sind erfolgreich. So scheiterte beispielsweise Ende der 90er Jahre das MAI (Multilateral Agreement on Investments), mit dem die OECD den "Schutz" ausländischer Investitionen vor Enteignung, zu hoher Besteuerung, Schutzgelderpressung und nationalen Sozial- und Umweltstandards durchsetzen wollte. Dieser Versuch provozierte weltweit den Widerstand von Kommunen, Regionen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und scheiterte letzten Endes daran, daß Frankreich sich von dem Abkommen wieder distanzierte. Seither gibt es jedoch bei der WTO Bemühungen, multinationale Konzerne und andere Investoren vor den Restriktionen nationaler Gesetzgebung (wie z.B. der Einschränkung von Gewinntransfers) zu schützen. Bei der 4. WTO-Ministerkonferenz in Doha wurde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die Vorschläge zu den Fragen ausarbeiten soll, wie man für einen "Interessenausgleich" zwischen den Investoren und den Gastländern sorgen oder wie man die "Diskriminierung" ausländischer Unternehmen und Produkte verhindern könnte. Auf der Basis der Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe sollen nach der 5. Ministerkonferenz in Cancún Verhandlungen zum Thema beginnen.

Ob der weltweite Verrechtlichungsschub im Bereich der wirtschaftlichen Beziehungen langfristig dazu führt, daß die G8-Länder die Globalisierung nicht mehr einseitig zu ihrem Vorteil nutzen können, bleibt offen; eine so asymmetrische Handelsliberalisierung wie bisher wird mit den Prinzipien der WTO und der steigenden juristischen Kompetenz der Drittweltländer in Zukunft wohl kaum mehr möglich sein. Dies bedeutet jedoch keineswegs Wohlstand für alle, wie von den WTO-Ökonomen behauptet. Denn das proklamierte "ebene Spielfeld" wird auf dem gesamten Globus zur Durchdringung aller Lebensbereiche mit kapitalistischen Prinzipien führen. Angesichts des ständig wachsenden Grades an wirtschaftlicher Verflechtung erzwingt das Interesse der Investoren eine schnelle Vereinheitlichung von produktions- und handelsorierientierten Normen. Da aber der Markt sich seit jeher gegen alle inhaltlichen Fixierungen sträubt - gleich ob es sich dabei um Behindertenquoten, Emissionsrichtlinien oder ethische Mindeststandards im Umgang mit Gentechnologie handelt -, wird die "Vereinheitlichung" von Sozial- und Umweltschutzstandards innerhalb der WTO höchstwahrscheinlich auf dem Niveau ihrer "liberalsten" Mitgliedsstaaten stattfinden. Dabei werden sich diejenigen Länder, die in den meisten Normen vor allem abzuschaffende Handelshemmnisse sehen, erfolgreich der quasi-juristischen Normierung des Handelsrechts bedienen.

Der Prozeß der globalen Nivellierung des Handelsrechts und damit der unternehmensfreundlichen Normen für Produktion und Konsumption ist noch lange nicht abgeschlossen. Noch gibt es verschiedene konkurrierende Institutionen und Systeme, welche auf internationaler Ebene Recht setzen. Auf dem Gebiet des autonomen Handelsrechts gibt es private Schiedsgerichte, die dem ICC seine Rolle streitig machen - etwa die American Arbitration Association (AAA). Und auch was die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten und Unternehmen angeht, haben beispielsweise ein US-amerikanischer Investor und ein südamerikanischer Staat derzeit verschiedene Möglichkeiten, ihren Streit schlichten zu lassen. Dabei wäre es derzeit keineswegs verkehrt, von einer Situation zu sprechen, in der allein derjenige sich durchsetzt, der über die meisten rechtlichen Machtmittel verfügt.

In den USA beispielsweise erfreuen sich so genannte mega law firms bei zahlungskräftigen Klienten großer Beliebtheit, weil sie wegen ihrer hochqualifizierten Spezialisten in der Lage sind, die verschiedenen nationalen und internationalen Rechtssysteme zu umgehen oder gegeneinander auszuspielen. Und auch im Bereich des WTO-Rechts kommt es häufig vor, daß Entscheidungen des DSB mißachtet oder nicht sinngemäß umgesetzt werden. Der ‚Bananenstreit' zwischen der EU und den USA ist hierfür ein Beispiel: Mit der Einführung des EU-Binnenmarktes 1993 wurden auch Handelserleichterungen für Bananenimporte aus (ehemaligen) Kolonien der Mitgliedsländer festgeschrieben. Frankreich bezog damals z.B. 60% seiner Bananeneinfuhr aus Martinique und Guadeloupe. Nachdem die USA zusammen mit Mexiko und Honduras gegen diese Verfahrensweise geklagt hatten, entschied der DSB 1997, daß die Quotenregelung der EU nicht mit dem Prinzip der Meistbegünstigung vereinbar sei. Die EU ignorierte jedoch diesen Spruch, woraufhin der Streit eskalierte. Erst bei der Ministerkonferenz in Doha erklärte sich die EU bereit, bis 2006 ein GATT-konformes Zollsystem einzuführen.

Allerdings führen gerade die Probleme, auf die mächtige Akteure bei der Ausnutzung dieser rechtlosen Situation stoßen, wiederum zur Stärkung der unterschiedlichen Rechtsinstrumente. Wie Aguas del Tunari im eingangs angeführten Fall wollen die Multis Verluste einklagen können, wenn ihre Investitionen sich aufgrund von unvorhergesehenen Entwicklungen als Fehlschläge entpuppen. Daher unterstützen sie Schiedsgerichte wie das ICSID und betrachten deren Entscheidungen in der Regel als geltend.

Kein Wilder Westen

Damit beantwortet sich auch die Frage, ob in Zukunft weltweit mit einem rechtlosen System zu rechnen ist, mit nein. Der Verrechtlichungsschub in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen steht nicht im Gegensatz zum "freien Spiel der Kräfte", sondern ist im Gegenteil eine notwendige Bedingung dafür, daß der Marktmechanismus überhaupt global wirksam werden kann. Begriffe wie "Raubtierkapitalismus" oder "Wild-West-Kapitalismus" sind schon per se irreführend, da sie suggerieren, Kapitalismus sei auch ohne eine rechtliche Grundlage möglich. Doch selbst der marktradikalste Laissez-Faire-Kapitalismus kommt nicht ohne institutionelle Basis aus. Schon Max Weber hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das formale römische Recht eine Katalysatorwirkung für die Herausbildung des okzidentalen Kapitalismus hatte.

Normierung und Institutionalisierung finden allerdings nur statt, wenn sie helfen, Transaktionskosten zu sparen und Vertragssicherheit zu gewährleisten, sprich den Ausgang eines Geschäfts vorhersehbar und die entstehenden Kosten kalkulierbar zu machen. Die Internationalisierung des Handelsrechts bedeutet dabei vor allem, daß Entscheidungen von internationalen Expertengremien getroffen werden, die hinter verschlossenen Türen tagen und ihre Ergebnisse in einer auch für die Abgeordneten der nationalen Parlamente unverständlichen Sprache abfassen. Politische Entscheidungen von "Experten" treffen zu lassen bedeutet jedoch immer, daß die optimale Entscheidung schon von vorneherein feststeht. Es bedarf nur noch des geeigneten technischen Wissens, um sie ausfindig zu machen. Der Gesellschaft geht somit die Fähigkeit verloren, selbst Zwecke zu setzen und Mittel zu wählen.


Ursula F. studiert Politikwissenschaft in Köln, Bernd P. Soziologie in Heidelberg. Der Beitrag entstand im Rahmen ihres Praktikums im iz3w.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 271 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.



Pfeiler und Prinzipien der WTO

GATT: Das General Agreement on Tariffs and Trade soll alle Hemmnisse beim Handel mit Waren zwischen den mittlerweile 146 Mitgliedsländern abbauen. Seit seiner Unterzeichnung 1947 sanken weltweit die Einfuhrzölle für Industriegüter von durchschnittlich rund 40 % auf weniger als 3 %.

GATS: Das General Agreement on Trade in Services ist seit 1995 in Kraft und soll den Markt für Dienstleistungen liberalisieren. Selbst zentrale Bereiche der Grundversorgung wie Gesundheit, Bildung oder Wasserversorgung sind davon nicht ausgenommen. Über die Ausweitung der Liberalisierungsverpflichtungen wird derzeit intensiv zwischen den Mitgliedsstaaten verhandelt.

TRIPS: Das Trade Related Intellectual Property Rights regelt den Schutz von Patentrechten und anderem geistigen Eigentum. Alle Hersteller eines geschützten Produktes innerhalb des WTO-Geltungsbereiches sind verpflichtet, Gebühren für die Erteilung einer Lizenz an den Patentinhaber zu zahlen, solange das Patent nicht abgelaufen ist.

Liberalisierung (unbeschränkter Marktzugang): Alle Schranken für den Handel sollen abgebaut werden, und zwar nicht nur Zölle, sondern auch die so genannten nichttarifären Handelshemmnisse. Diese reichen von personell unterbesetzten Zollstationen über die mengenmäßige Kontingentierung von Ein- und Ausfuhr bis hin zu nationalen Umwelt- und Sozialstandards.

Inländerbehandlung: Inländische und ausländische Anbieter sollen die gleichen Wettbewerbschancen haben, ausländischen Unternehmen dürfen daher keine besonderen Auflagen gemacht werden. Subventionen oder Vergünstigungen, die einem gewährt werden, müssen auch für alle anderen gelten. Dabei darf auf die inhaltliche Ausrichtung eines Unternehmens keine Rücksicht genommen werden (Gemeinnützigkeit, Bildungsauftrag etc.).

Meistbegünstigung: Handelspolitische Zugeständnisse, die ein Mitgliedsland einem anderen macht, muß es auch allen übrigen in vollem Umfang gewähren. Dieses Prinzip wirkt wie ein Liberalisierungs-Multiplikator.

Reziprozität: Alle Handelserleichterungen, die sich zwei Mitgliedsstaaten gegenseitig gewähren, sollen monetär gleichwertig sein. Durch das Meistbegünstigungsprinzip übertragen sie sich auf alle anderen Mitgliedsstaaten. Dieses Verfahren benachteiligt Länder mit geringem Handelsvolumen, da sie große Zugeständnisse machen müssen, um verhältnismäßig kleine Vergünstigungen der Handelsgroßmächte zu erlangen.

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sopos 9/2003