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Samtene Sprengkraft

Steht Iran vor einem durchgreifendem Umbruch?

von Ebrahim Towfigh

Die Proteste verfügen weder über die organisatorischen Grundlagen, die es zu einer Demokratisierung braucht, noch ist das Regime mit seinem Latein schon am Ende.

Die Abstinenz des iranischen großstädtischen Wahlvolkes von den kurz vor dem Ausbruch des Irak-Krieges stattgefundenen Kommunalwahlen ist bei den Trägern der theokratischen Herrschaft gründlich mißverstanden worden. Die Klerikalen glaubten, der reformorientierte Teil der Großstadtbevölkerung ziehe sich aufgrund der Enttäuschung über die Hoffnungen, die er in die staatlichen Reformer rund um Staatspräsident Mohammad Khatami gesetzt habe, wieder ins Private zurück. Damit hielten die islamistischen Klerikalen, die oft beschönigend als "Konservative" bezeichnet werden, die Zeit für reif, der von ihnen wenig geliebten "doppelten Herrschaft" von gewählten reformerischen und nicht gewählten klerikalen Staatsapparaten ein Ende zu setzen.

Kurz nach dem Ende des Hussein-Regimes im benachbarten Irak gingen sie zur konzertierten Aktion über: die vom Parlament mit großer Mehrheit der Reformer verabschiedeten Gesetzesvorlagen der Regierung Khatami wurden abgelehnt. Denn das hätte eine Institutionalisierung der "doppelten Herrschaft" bedeutet; die Machtbefugnisse des Präsidenten wären erweitert und die Überwachungsfunktion des Wächterrates eingeschränkt worden. Doch die Ablehnung dieser Reformen war den Konservativen nicht genug: Sie forcierten die schon länger andauernde Welle der Verhaftung von reformorientierten Kräften und dehnten sie über Oppositionelle und Journalisten hinaus auf Künstler aus. Sie versuchten den Zugang zu politischen Websites, die nach der faktischen Ausschaltung der freien Presse immer bedeutender für die Öffentlichkeit geworden waren, zu behindern. Und nicht zuletzt wurden jene Drangsalierungsmethoden reaktiviert, die vor allem die Bewegungsfreiheit von Frauen und Jugendlichen beschnitten.

Nächtelange Straßenschlachten

Mit der so vermeintlich hergestellten Ruhe im Inneren wollte die klerikale Herrschaft der internationalen Gemeinschaft und vor allem den zum unmittelbaren Nachbarn gewordenen USA signalisieren, man sei im Gegenzug zur Anerkennung der faktischen Machtverhältnisse in Iran - sprich der unanfechtbaren Macht der "Konservativen" - zu außenpolitischem Wohlverhalten bereit. Und zwar in allen strittigen Punkten: bei der (Nicht-)Einmischung in den Nachkriegs-Irak, bei der Unterstützung islamistisch-terroristischer Gruppen, beim iranischen Nuklearprogramm sowie beim wiederbelebten Nahost-Friedensprozeß. Die auf repressiver Kontrolle nach Innen und Verhandlungsbereitschaft nach Außen beruhende Machterhaltungsstrategie der theokratischen Herrschaft ist aber mit der unerwarteten Rückmeldung der republikanischen iranischen Opposition zur Makulatur geworden. Die Nachricht über einen studentischen Protestzug gegen die Erhöhung der Studiengebühren und Zulassung von Privatstudenten an den staatlichen Universitäten, die über die in Los Angeles ansässigen Fernsehsender der Monarchisten verbreitet wurde, führte dazu, daß die Teheraner Bevölkerung tausendfach zur Universität marschierte. Sie lieferte sich nächtelang Straßenschlachten mit den für die Verhältnisse in der Islamischen Republik erstaunlich zurückhaltenden Sicherheitskräften und mit den im Gegensatz dazu äußerst brutalen Schlägertrupps der Hisbollah. Die mittlerweile auf andere Großstädte ausgedehnten Proteste lassen Erinnerungen an die letzten Tage des Schah-Regimes wach werden.

So sehr jedoch die Monarchisten - in der Absicht, ihre historische Scharte von damals auszuwetzen - die Bevölkerung zu immer radikaleren Aktionen anstacheln und sich dabei ihren US-amerikanischen Schutzherren als die Alternative nach einem "Regimewechsel" präsentieren, so vermessen ist es zu glauben, der Sturz des islamischen Regimes stünde unmittelbar bevor. Eine solche Interpretation der aktuellen Proteste verkennt ihre Funktion im Kontext der internen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in Iran und zeugt von einem instrumentellen Blick, der Demokratisierung mit staatlicher Machtübernahme verwechselt. Denn diese Proteste verfügen weder über die organisatorischen Grundlagen, die es zu einer Demokratisierung braucht, noch ist das Regime mit seinem Latein schon am Ende.

Es ist für den Repressionsapparat des Regimes ein Leichtes, die schwach organisierten Aufstände ohne größere Gewaltanwendung einzudämmen. Zwar ist nicht auszuschließen, daß die jetzige Situation von den faschistoiden Kräften im Umfeld der theokratischen Herrschaft zum Anlaß genommen wird, durch einen Putsch die Macht an sich zu reißen und die Proteste blutig niederzuschlagen. Die Pläne für eine "chinesische" Lösung des Reform-"Problems" werden in diesen Kreisen offen diskutiert. Wahrscheinlicher ist aber, daß die Proteste der in die Sackgasse geratenen staatlichen Reformpolitik zu neuem Aufschwung verhelfen. Sie könnten die Funktion jenes "Drucks von Unten" ausüben, der gemäß der staatlichen Reformstrategie eingesetzt werden soll, um die theokratische Herrschaft schrittweise zum Rückzug zu bewegen. Von den Wahlakten der letzten sechs Jahre abgesehen, konnte sich dieser Druck noch nie wirksam artikulieren, weil die staatlichen Reformer befürchteten, die Kontrolle zu verlieren. Aus ihrer Strategie des "Druck von Unten, Verhandlungen nach Oben" wurde ein "Zähmen des Unten, Nachgeben nach Oben". Die daraus resultierende Krise des Reformprozesses konnten die "Konservativen" nutzen, um sich wieder zu sammeln und den Schock des 2. Khordads (Datum der Wahl Khatamis zum Staatspräsidenten im Mai 1997) zu überwinden. Mit der Reorganisierung ihrer Repressionsmacht konnten die Klerikalen nicht nur die zivilgesellschaftlichen Träger des "Drucks von Unten" entscheidend schwächen, sondern auch die von Reformern besetzten Staatsapparate jeder Handlungsmöglichkeit berauben.

Radikal und schlecht organisiert

Bereits jetzt deuten Anzeichen auf den Versuch hin, die Proteste für die Wiederbelebung der sterbenden staatlichen Reform zu instrumentalisieren: der erzkonservative Präsident des Wächterrates soll Khatami zugesichert haben, dessen Gesetzesvorlagen doch noch passieren zu lassen. Zugleich werden die radikalen Kräfte zurückgedrängt: Es erfolgte nicht nur eine massive Verhaftungswelle von Khatami-kritischen Radikalreformern, auch einige Anführer der Hizbollah-Schlägertrupps wurden verhaftet.

Doch die Radikalität der Protestaktionen, so schlecht organisiert sie auch sind, läßt zugleich auch die Prognose wagen, daß sich der "Druck von Unten" diesmal nicht so einfach in Khatamis Reformprojekt einer "islamischen Demokratie" pressen läßt. Das gesellschaftliche Klima hat sich grundlegend zugunsten einer säkularen Republik verändert. Die vor sechs Jahren mit Khatamis Wahl ins Rollen gekommene staatskonforme Reformbewegung war hingegen noch von der Idee geleitet, die republikanisch-parlamentarischen Elemente der theokratisch legitimierten Verfassung mit neuem Leben zu füllen. Gestützt auf die gewählte Regierung und das reformorientierte Parlament verfolgte diese Reformbewegung das machtpolitische Ziel, den "Revolutionsführer" Khamenei dazu zu bewegen, jene Schiedsrichterrolle zu übernehmen, die einst Khomeini qua seines Charismas zu spielen imstande war. Ein - wenn auch fragiles - Gleichgewicht zwischen den theokratischen und republikanischen Fraktionen sollte so hergestellt werden. Diese auf der republikanischen Verklärung der Khomeini-Ära beruhende Reformstrategie bestimmte nicht nur die Handlungsweise der islamischen staatlichen wie nichtstaatlichen Träger der Reformbewegung. Sie wurde auch von jenen nichtreligiösen, außersystemischen Kräften getragen, die ihre Hoffnung auf die Reformfähigkeit des islamischen Staates gesetzt hatten.

Wenn jedoch in den Protestaktionen der Tod des "Revolutionsführers" Khamenei gefordert und dem gescheiterten Reformpräsidenten Khatami die Gefolgschaft verweigert wird, wenn mutige junge Frauen ihre Kopftücher, das zentrale Symbol islamistischer Unterdrückung und Erniedrigung, in Brand stecken, wenn die Überwindung des Systems via Referendum verlangt wird, so geschieht dies alles nicht, weil die US-"Befreier" und ihre monarchistischen Handlanger dazu aufrufen. Diese Forderungen sind vielmehr Ausdruck eines Reifungsprozesses der republikanischen Reformbewegung. Diese ist dabei, sich von der Illusion einer "islamischen Demokratie" khomeinistischen Zuschnitts zu verabschieden. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in der Studentenbewegung. Nachdem sie sich in jüngerer Zeit von ihren klientelistischen Bindungen zu den staatlichen Reformern zu lösen begann, hat sie allen Repressionen zum Trotz ihre demokratische Sprengkraft sukzessive entfalten können. Diese erfaßt nun auch andere Bevölkerungsteile.

Wer führt Regie?

Noch ist offen, ob es den radikalreformistischen Kräften gelingt, den derzeitigen zivilen Ungehorsam mit kreativen Organisations- und Aktionsformen zu verstetigen und die reformorientierten Teile des Staatsapparates zu institutionellen Übersetzungsorganen ihrer auf die Überwindung der theokratischen Macht zielenden Forderungen umzufunktionieren. Seit eine radikalreformistische Fraktion im staatlichen Reformlager entstanden ist, die die republikanische Umgestaltung des islamischen Regimes mit einer radikalen Änderung der Verfassung - sprich der faktischen Abschaffung der Theokratie - erreichen will, erscheint diese Option nicht gänzlich unrealistisch. Die Proteste lassen sich somit als Wendepunkt der Reformbewegung deuten. Sie befreit sich nun aus der staatlichen Umklammerung und tritt in die zivilgesellschaftliche Phase einer "samtenen Revolution".

Diese Entwicklung ist aber nicht nur durch die nach wie vor mächtigen faschistoiden Kreise im Staat bedroht. Fraglich ist auch, ob die Bush-Administration sich mit einer Entwicklung abfindet, deren Resultat eine demokratische Regionalmacht Iran sein könnte. Denn diese würde womöglich die US-amerikanische, neoliberal-neokoloniale Strategie zur Neustrukturierung des Nahen Ostens durchkreuzen. So stellt sich die Frage, ob Rumsfeld und Co. nicht versucht sind, eine auf ihre monarchistischen Handlanger gestützte Destabilisierungsstrategie zu fahren, um selbst bei der Neugestaltung des Iran Regie zu führen - etwa durch die permanente Provokation von "Volksaufständen" und nötigenfalls sogar Militäraktionen. Vor diesem Hintergrund ist die demokratische Exilopposition, die sich als eigenständige Kraft gerade erst zu organisieren beginnt, aufgefordert, breit gefächerte Lobby-Arbeit zu leisten und eine internationale Solidaritätsbewegung zu organisieren.


Ebrahim Towfigh ist Iraner und lebt seit 1983 in Deutschland. Er ist Soziologe an der Universität Frankfurt/M.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 271 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3f3c06aadfe84/1.phtml

sopos 8/2003