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Drei Angehörige der Thüringer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, eines besonders draufgängerischen Spezialkommandos, verprügelten am Rande der Demonstration einen 25- und einen 32-Jährigen mit erschreckender Brutalität. Die beiden hatten nichts verbrochen, sie wehrten sich nicht einmal. Das Ungewöhnliche dieser Szene: Die Polizeiopfer waren gar keine Demonstranten, sondern Demonstranten-Darsteller - Polizisten in Zivil, die sich unauffällig unter die Demonstranten gemischt hatten, um sie zu beobachten. Die drei Polizisten rannten auf die beiden verdeckten Ermittler aus Schleswig-Holstein zu und traktierten sie mit ihren Schlagstöcken. Einer der Zivilaufklärer rief immer wieder die Einsatz-Parole "Mondlicht", schrie auch verzweifelt: "Wir sind doch Kollegen!" - aber die Thüringer ließen sich davon nicht beeindrucken und prügelten ungerührt weiter, selbst dann noch, als ihre Kollegen in Zivil längst am Boden lagen. Sie verletzten die beiden dermaßen, daß diese für eine Woche krankgeschrieben werden mußten. Von dem Vorfall wäre wahrscheinlich nicht viel Aufhebens gemacht worden, wären die Opfer ganz normale Demonstranten gewesen. Doch in diesem Fall ermittelte die Hamburger Staatsanwaltschaft ernsthaft gegen die 23, 29 und 30 Jahre alten Bereitschaftspolizisten wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt. Schließlich wurden sie sogar angeklagt. Den mißhandelten Beamten hatte die Staatsanwaltschaft offenbar mehr Glauben geschenkt als echten Demonstrationsteilnehmern. Polizisten rangieren eben ganz oben in der Glaubwürdigkeitshierarchie - auch wenn sie sich als Zivilisten getarnt haben, ihr Geschäft also Täuschung ist. Und tatsächlich kam es im Juli 2003 gegen die mutmaßlichen Täter zu einer Hauptverhandlung vor dem Hamburger Amtsgericht. Doch was sich während des Gerichtsverfahrens abspielte, das hätten offenbar weder Staatsanwalt noch Richter für möglich gehalten - obwohl man doch gerade in Hamburg bereits einschlägige Erfahrungen mit Korpsgeist im Polizeiapparat und der berüchtigten "Mauer des Schweigens" gemacht hatte (s. Ossietzky 16/1998, S. 483 ff.). Die Erfurter Polizeiführung versuchte mit erstaunlicher Dreistigkeit, die Ermittlungen zu behindern, Einfluß auf das Strafverfahren zu nehmen und so die Aufklärung der Ereignisse zu torpedieren - angeblich aus reiner "Fürsorgepflicht" für ihre delinquenten Untergebenen. So erschienen die Angeklagten zunächst nicht zur Gerichtsverhandlung in Hamburg, sondern auf Drängen ihrer Polizeiführung erst beim Gesundheitsamt in Erfurt, und entschuldigten sich dann bei Gericht mit gleichlautenden amtsärztlichen Attesten: Wegen synchroner "psychologischer Beeinträchtigung" waren alle drei angeblich nicht verhandlungsfähig. Der Richter zeigte sich ob dieser "Gefälligkeitsgutachten" fassungslos, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Seine Antwort: Haftbefehle gegen die Polizisten. Diese wurden später gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, weil sich der Thüringer Innenminister höchstpersönlich für das Erscheinen der Angeklagten vor Gericht verbürgte. Zuvor hatte sich Minister Trautvetter jedoch bitterlich über die Haftbefehle beschwert, die er als "unverhältnismäßig" rügte - womit er gegen den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung verstieß. Auch der Chef der Thüringer Bereitschaftspolizei, Leitender Polizeidirektor Roland Richter, mischte sich in das Gerichtsverfahren ein. Er wollte die Verteidiger der Polizisten dazu verleiten, Befangenheitsanträge gegen den Richter zu stellen. Die Angeklagten verweigerten vor Gericht bis zuletzt die Aussage - obwohl sie, so ihre Verteidiger, zum Geständnis bereit gewesen seien. Doch von der Erfurter Polizeiführung seien sie mit der Drohung "Wenn Sie gestehen, fliegen Sie raus" daran gehindert worden. Alle drei Angeklagten wurden am 14. Juli 2003 wegen Körperverletzung im Amt zu je einem Jahr Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Damit verhängte der Amtsrichter bewußt eine Strafe, die ihrer Polizeilaufbahn laut Gesetz ein Ende setzen müßte. Wegen Mißbrauchs des Gewaltmonopols sollten die Prügelpolizisten nicht länger im Staatsdienst verbleiben. Diese Strafe sei schon deshalb nötig, so der Richter, weil die Angeklagten aufgrund des offenkundigen Korpsgeistes in der Thüringer Polizei von der dortigen Führung "keine einschneidenden disziplinarrechtlichen Folgen zu erwarten" hätten. "In welchem Zustand ist eigentlich die Thüringer Polizei, wenn sie Straftäter in ihren eigenen Reihen deckt?" hatte zuvor schon der anklagende Staatsanwalt in seinem Plädoyer gefragt und hinzugefügt, Thüringen habe einen "handfesten Polizeiskandal". Es sei verwunderlich, daß das in Thüringen noch keiner mitbekommen habe. Die Frage des Hamburger Anklägers ist um so berechtigter, als die Thüringer Polizei zwei Todesschüsse aus den Jahren 1999 und 2002 zu verantworten hat, die bis heute ungeklärt sind. Am 28. Juli jährt sich der Todestag von René Bastubbe. Der 30jährige Zimmermann, Vater eines vierjährigen Sohnes, wurde im vorigen Jahr in der thüringischen Stadt Nordhausen erschossen. Getroffen in den Rücken. Von einem Projektil aus der Dienstwaffe eines ebenfalls 30jährigen Polizisten. Angeblich aus Notwehr. Es geschah am frühen Morgen, mitten im Stadtzentrum. Die Polizei war alarmiert worden, weil sich zwei angetrunkene Männer auf dem Heimweg von einer Feier im Jugendclubhaus an einem Zigarettenautomaten zu schaffen machten. Sie wollten Zigaretten ziehen, was ihnen aber nicht gelang, weil der Automat defekt war. Daraufhin sollen sie ihn lautstark mit Steinen bearbeitet haben. Also: mutmaßliche Automatenknacker. Die alarmierte Polizei sei nach ihrem Eintreffen am Tatort ebenfalls mit Steinen bearbeitet worden: mit Pflastersteinen beworfen. So behaupten die beiden Streifenpolizisten, ein Polizeiobermeister und eine Polizeimeisterin. Zwei Brocken seien knapp am Kopf des Obermeisters vorbeigeflogen. Nachdem ein 23 Jahre alter Mann von der Beamtin widerstandslos überwältigt worden war, habe der andere Verdächtige, das spätere Todesopfer, versucht, sich durch Flucht und Steinewerfen der Festnahme zu entziehen. Der Beamte habe sich zunächst mit Pfefferspray zu wehren versucht, allerdings ohne die erhoffte Wirkung. Trotz einer Warnung - Zeugen hörten den Ruf "Halt, stehen bleiben!" - habe sich der Flüchtende erneut nach einem Stein gebückt. Unstreitig ist, daß der Polizeiobermeister dann mit seiner Dienstpistole einen Schuß abfeuerte - aber keinen Warnschuß in die Luft, wie es die Dienstanweisung vorschreibt, sondern in den Rücken des vermeintlichen Zigarettendiebs. Danach ist es totenstill, so eine Anwohnerin später. René Bastubbe bleibt auf dem Pflaster liegen und verblutet innerhalb weniger Minuten - getroffen von einer neuartigen Munition, die in Thüringen wie in anderen Bundesländern seit 2001 von der Polizei eingesetzt wird: "schadstoffreduzierte" Neun-Millimeter-Deformationsgeschosse, die "mannstoppende Wirkung" haben. Sie pilzen beim Eintreten in einen Körper auf, vergrößern sich dabei um ein Drittel und reißen daher große Wunden - viel größere, als die früher verwendeten Vollmantelgeschosse hinterließen, die zuweilen durch den Körper hindurchflogen, ohne den Getroffenen handlungsunfähig zu machen (s. Ossietzky 22/1999, S. 768 ff.). Die Deformationsmunition bewirkt einen Schock, der sofort angriffs- und fluchtunfähig macht, und manchmal wirkt sie tödlich, weil durch die Verformung innere Organe oder Adern zerfetzt werden können. Bei René Bastubbe schlägt das Projektil neben der Wirbelsäule im Rücken ein, zerreißt eine Hauptschlagader und bleibt unterhalb des Schlüsselbeins im Brustkorb stecken. Bastubbe stirbt an den inneren Blutungen. Die beiden beteiligten Polizeibeamten wurden nach diesem Vorfall vom Dienst freigestellt und polizeipsychologisch betreut. Andere Todesschützen wären sofort verhört worden, ohne Möglichkeit, sich untereinander abzusprechen. Die Polizisten stünden unter Schock und seien vernehmungsunfähig, begründeten Polizeisprecher die konsequente Abschottung. Den Angehörigen des Toten wurde indessen keine psychologische Betreuung angeboten. Die Staatsanwaltschaft ging sogleich zugunsten des Todesschützen von einer Notwehrsituation aus - nach einer "vorläufigen juristischen Bewertung", wie es hieß, aber ohne Kenntnis der näheren Umstände, ohne Befragung der beteiligten Polizisten und noch vor der Vernehmung von Zeugen. Und das, obwohl das Opfer in den Rücken getroffen worden war. Dem schießenden Polizeibeamten könne bislang kein Vorwurf gemacht werden, so die vorschnell entlastende Einschätzung der Staatsanwaltschaft. Der stark angetrunkene Bastubbe habe sich im entscheidenden Moment in Bewegung befunden, so daß der Beamte, der den Schuß abgab, mit einem erneuten Steinwurf habe rechnen müssen. Im übrigen sei der "Automatenknacker" bereits polizeibekannt gewesen, unter anderem wegen Körperverletzung, Drogendelikten, Diebstahls und Sachbeschädigung. So wurde der Getötete der Öffentlichkeit als Krimineller präsentiert, der doch irgendwie an seiner Erschießung selbst schuld gewesen sein könnte. Als wäre ein in der Vergangenheit Gestrauchelter vogelfrei. Warum waren zwei Beamte nicht in der Lage, einen Steinewerfer, der ansonsten nicht bewaffnet war, zu bändigen, nachdem der andere Verdächtige bereits festgenommen worden war? Ist das nur mit Waffengewalt möglich, oder hätte es mildere, deeskalierende Mittel gegeben? Warum hat der erfahrene und umfassend ausgebildete Polizist zuvor keinen Warnschuß abgegeben? Warum wurde Bastubbe in den Rücken getroffen? Wurde er womöglich auf der Flucht erschossen? War der Polizeibeamte überfordert? Hat er überreagiert, war die Festnahmeaktion unverhältnismäßig? Warum hat sich die Polizei nicht einfach vorläufig zurückgezogen, etwa um Verstärkung abzuwarten? Fragen über Fragen, die nach einem Jahr noch immer nicht geklärt sind. Ist der Einsatz einer Schußwaffe gegen einen Steinewerfer nicht allemal unprofessionell und unverhältnismäßig, wie die Bundesarbeitgemeinschaft Kritischer Polizisten meint? Liegen die Gründe und Ursachen für den tragischen Ausgang in mangelhafter Ausbildung, am Schießtraining, an der Einsatztaktik in der konkreten Krisensituation oder letztlich auch an der neuen Deformationsmunition? Könnte Bastubbe heute noch leben, wenn eine andere Munition verwendet worden wäre? Gerade diese Frage soll nach dem Willen des Innenministers und der Polizei gar nicht untersucht werden: Es gebe keinen Grund anzunehmen, daß die tödliche Verletzung durch diese Munition verursacht wurde. Selbst wenn sich aufgrund eines Gutachtens herausstellen sollte, daß bei Verwendung der früheren Munition das Verletzungsmuster weniger problematisch gewesen wäre, ändere das nicht das Gesamtergebnis, das für die Verwendung der neuen Munition spreche, sagte der damalige Minister Köckert, Trautvetters Amtsvorgänger, im Innenausschuß des Thüringer Landtags. Die Staatsanwaltschaft, die zunächst ohne nähere Kenntnis der Umstände von Notwehr ausging, versprach, den Vorfall restlos aufzuklären. Nichts werde vertuscht. Angesichts dieser präventiven Beteuerung mutet es verwunderlich an, daß ausgerechnet die Polizeidirektion Nordhausen beauftragt wurde, gegen den beschuldigten Kollegen zu ermitteln - und nicht etwa das Landeskriminalamt oder die Abteilung "Innere Ermittlungen", wie es ein Erlaß des Innenministeriums bei Beschuldigungen gegen Polizeibeamte und besonders nach einem polizeilichen Todesschuß vorschreibt. Kritikern der anfangs auffallend zögerlichen Ermittlungen begegnete die Polizeiführung mit massiven Einschüchterungsversuchen. Die Medien in Thüringen berichteten ausführlich über diesen polizeilichen Todesschuß und befaßten sich auch - mehr oder weniger kritisch - mit seiner widersprüchlichen Aufarbeitung. Doch trotz des öffentlichen Drucks, der so entstand, dauerte es über neun Monate, bis die Staatsanwaltschaft endlich Anklage gegen den beschuldigten Polizeibeamten erhob. "Fahrlässige Tötung als Notwehrexzeß" lautet nun der Vorwurf. Die Annahme einer Notwehrsituation wurde also beibehalten; dem Beschuldigten wird nur angelastet, das Maß einer erforderlichen Abwehr überschritten zu haben: Als ausgebildeter Polizist hätte er erkennen müssen, daß andere, weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten, um den Angriff abzuwehren. Bis zum Abschluß des Verfahrens gilt für den Angeklagten die Unschuldsvermutung. Das bedeutet aber nicht, daß bis dahin jedes kritische Hinterfragen unzulässig wäre - genauso wenig wie im Fall des Wanderers Friedhelm Beate, der 1999 von zwei Thüringer Polizeibeamten an der Tür seines Hotelzimmers erschossen wurde. Es waren Beamte der gleichen Polizeidirektion in Nordhausen. Den Gast eines Hotels in Heldrungen hatten sie für den gesuchten Gewaltverbrecher Zurwehme gehalten (s. Ossietzky 1/2000, S. 2 ff.). Der bundesweit Aufsehen erregende Todesschuß blieb bis heute ohne strafrechtliche Folgen, ein Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizeibeamten wurde bereits zum zweiten Mal eingestellt. Der letzte Einstellungsbescheid vom Februar 2003 stützt sich auf das Gutachten eines Sachverständigen für Sensomotorik, dessen Unvoreingenommenheit bereits nach seiner Beratertätigkeit für das Spezialeinsatzkommando in Niedersachsen umstritten ist. Danach ist nicht auszuschließen, daß die beiden beschuldigten Polizeibeamten "unbewußt" geschossen haben: Der eine Schuß könne sich durch eine unbeabsichtigte Kontraktion des Zeigefingers gelöst haben, der zweite Polizist könne nach dem ersten Schuß aus Schreck einem unbewußten Mitzieheffekt unterlegen sein. Aufgrund dieser Feststellung, so die Staatsanwaltschaft Erfurt, könne eine willentliche Schußabgabe nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden; deshalb werde von einer Anklage abgesehen. Eine kritische Öffentlichkeit ist und bleibt notwendig, damit Ermittlungsverfahren gegen beschuldigte Polizeibeamte nicht gleich im Vorfeld sang- und klanglos eingestellt werden. Denn erst in einem öffentlichen Prozeß kann die Polizeiversion - besonders durch die Nebenkläger - hinterfragt, können die strukturellen Hintergründe der Tat thematisiert werden, auch jenseits individueller Schuld. Zumindest dies muß auch in einem Gerichtsverfahren zur Aufklärung des Todesschusses von Heldrungen noch geschehen. Polizeiliche Prügler und erst recht polizeiliche Todesschützen dürfen nicht schonender behandelt werden als andere mutmaßliche Straftäter. Das geltende Strafrecht fordert sogar genau das Gegenteil: Viele im Dienst begangene Straftaten sollen schwerer bestraft werden. Und es ist nicht hinnehmbar, daß die Exekutive prägenden Einfluß auf die Ermittlungen und auf die anschließenden Strafverfahren nimmt, wie sie es in Thüringen wiederholt versucht hat. Sonst triumphiert immer die Polizeiversion. Rolf Gössner spricht am 28. Juli um 19 Uhr im Erfurter Rathaus anläßlich des Todestages von René Bastubbe zum Thema "Tödliche Polizeischüsse und ihre politischen und juristischen Konsequenzen". Veranstalter ist das Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft.
Erschienen in Ossietzky 15/2003 |
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