Lauter Lügen

von Eckart Spoo

Nein, Scharping brauchte nicht wegen seiner unverschämten Lügen zurückzutreten, mit denen er den Angriffskrieg gegen Jugoslawien hatte rechtfertigen wollen; er stolperte über spendierte Anzüge oder sowas. Schröders Rücktritt wurde gar nicht erst gefordert. Aber in Großbritannien - wo man mit älteren demokratischen Traditionen gesegnet ist - wird jetzt kräftig an Blair gezerrt; einige namhafte Labour-Politiker haben sich bereits von ihm abgewandt. Wird dieser Angriffskrieger, der sein Volk und die Weltöffentlichkeit mit Lügen en gros und en detail über die akute 45-Minuten-Bedrohung durch irakische Massenvernichtungsmittel bekifft hatte (von eigenen ABC-Waffen ist nie die Rede, sie sind so selbstverständlich wie Prinz Philips und Prinz Charles' Poloschläger), nun verdientermaßen stürzen? Dann würde es eng für den Hauptkriegsverbrecher Bush, der lügt, sowie er den Mund aufmacht. Doch die 100 größten US-Unternehmen, darunter Medien-Konzerne, die Bushs ersten Wahlkampf finanziert und schon tüchtig für den zweiten gespendet haben, werden wohl nicht so schnell auf diesen Präsidenten verzichten; seine Lügen haben sie nie gestört. Zudem hat er gründlich vorgesorgt, damit er nicht juristisch belangt werden kann - sowohl im Inland, ähnlich wie sein ehrenwerter Freund Berlusconi in Italien, als auch im Ausland: Ein Staat nach dem anderen hat sich, von Washington erpreßt, dazu verpflichtet, US-amerikanische Staatsterroristen nicht vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen (s. dazu den Beitrag von Ralph Hartmann in diesem Heft). Und Belgien hat schon brav sein Gesetz geändert, mit dem es eigentlich darauf hatte hinarbeiten wollen, Immanuel Kants Idee zu realisieren, der Frieden sei die weltweite Geltung der Menschenrechte. Jetzt ist Belgien gemeinsam mit Frankreich, unterstützt von der deutschen Bundeswehr, wieder in seinem rohstoffreichen ehemaligen afrikanischen Kolonialgebiet damit beschäftigt, militärisch für Recht und Ordnung zu sorgen.

Recht im alten und wiederbelebten imperialistischen Sinne ist einzig dazu da, Widerstand zu brechen. Das versuchen Bushs und Blairs Truppen gegenwärtig den Irakis beizubringen, die noch nicht bereit sind, den Reichtum ihres Landes auszuliefern. Im Gesamtinteresse des Imperialismus läge es, Deutschland jetzt an dem militärischen Terror gegen das Selbstbestimmungsrecht des irakischen Volkes zu beteiligen. Wenn mehr und mehr GI's tot oder verkrüppelt zu ihren Familien zurückkehren, könnte das für Bushs Stellung im eigenen Land gefährlicher werden als jede aufgedeckte Lüge.

Auch der Krieg nach innen wird mit lauter Lügen geführt, gerade in Deutschland, immer wieder, täglich. Die Politiker, die sich soeben darauf verständigt haben, daß wir gleich beim Betreten der Arztpraxis blechen müssen, daß Arme keinen Zahnersatz mehr bekommen und daß die Unternehmer von der Mitfinanzierung des Krankengelds befreit werden sollen, sprechen von sozialer Balance und Ausgewogenheit und setzen dazu die treuherzigsten Mienen auf. Mittlerweile weiß jeder, daß sie lügen. Wer könnte denn auch von ihnen erwarten, daß sie ehrlich zugeben, was sie tun: die Armen ärmer zu machen, um so den Reichen zu helfen, reicher zu werden.

Mich beunruhigt eben dies am meisten: daß wir es alle wissen und uns daran gewöhnen und ruhig bleiben. "Es müßte einer kommen, der dazwischenhaut" - so oder ähnlich hörte ich es in den letzten Tagen mehrmals in Zufallsgesprächen. Eine fatale Hoffnung. Sie wird neue Lügner anspornen, noch autoritärer aufzutreten. Aber welche Alternative gibt es, wenn ehemals linke Parteien aufgehört haben und wenn womöglich sogar Gewerkschaften aufhören, gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu opponieren und zu mobilisieren?

Erschienen in Ossietzky 15/2003