Deutsche Einheit?

Von Bernd C. Hesslein

Zum öffentlichen Gedenken gehört die hohe Kunst des Verdrängens und Schönredens. Bei den staatlich verordneten Feiern dieser Art wird getragene Trauer rhetorik den Opfern von Kriegen und anderen von Menschen gemachten Katastrophen gewidmet, um nicht über eigene Schuld und eigenes Verschulden reden zu müssen. Für den Zweiten Weltkrieg, der von Deutschland ausging und mehr als 50 Millionen Menschen das Leben kostete, gilt vorzugsweise noch immer das inhaltslose "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft". Noch nivellierender ist die lapidare Feststellung: "Auch Täter waren Opfer." Sie stammt aus der Debatte um die Wehrmachtausstellung und verleugnet ihren Zweck nicht. Wo alle tot und gleich sind, so die Logik, erübrigt sich auch das Erschrecken im Nachhinein als mindester Versuch einer Trauerarbeit.

Der 17. Juni 1953, dessen 50. Jahrestag mit großer medialer Begleitung ansteht, gehört zur Kategorie solcher Verdrängungsfeiern. Er war ein von der Rheinrepublik ursurpierter Gedenktag ohne Legitimation. Reich an politischen Krokodilstränen um die Brüder und Schwestern in der Zone und begleitet von der folgenlosen Beschwörung "Die Wiedervereinigung wird kommen", mutierte er vom Staatsfeiertag zum freien Tag, den das arbeitende Volk wie selbstver-ständlich für sich nutzte. Für ein langes Wochenende, wenn es sich so ergab, auch für ein bißchen Schwarzarbeit oder einfach für eine Fahrt ins Grüne. Das Päckchen nach drüben war Ablaß genug.

Die vielen gut gemeinten Reden, darunter so bedenkenswerte wie von Fritz Stern und Erhard Eppler, konnten nicht kaschieren, daß aus dem "Tag der deutschen Einheit" ein Tag der westdeutschen Freizeit geworden war. Damit ist es seit der Vereinigung von BRD und DDR vorbei. Es wäre auch zu peinlich gewesen, die eigentlich Betroffenen bei dieser Farce dabei zu haben.

Mit dem neuen "Tag der deutschen Einheit", dem 3. Oktober, steht es nicht besser. Auch er ein Winkelzug Bonner Strategie. Auch er ohne Platz im politischen Bewußtsein der Bürger. Die zum Beitritt erklärte Vereinnahmung der DDR, ein parlamentarischer hat trick nach Artikel 23 GG, hat den Bürgern beider deutscher Staaten das vom Grundgesetz in Artikel 146 garantierte Recht vorenthalten, gemeinsam über die Verfassung für das vereinte Deutschland zu entscheiden. Der Volksentscheid hätte zu demokratischer Identifikation des Volkes mit dem neuen Gemeinwesen beitragen können. Das Volk zu übergehen, war ein eklatanter Verfassungsbruch.

Auch die obligatorischen Veranstaltungen zum Mauerbau am 13. August 1961 dienen dem Verdrängungsgedenken. In diesem Jahr zum 42. Male. In welcher Rede ist je der Zusammenhang zwischen den Flüchtlingswellen und der Bonner Politik des "Ausblutens" der DDR aufgedeckt worden? Mehr als 3,5 Millionen Menschen, zumeist aus hochqualifizierten Berufen, verließen bis zum Bau der Mauer den zweiten deutschen Staat. Springers Bild meldete Tag für Tag die Flüchtlingszahlen wie Erfolgsberichte. Oder: Welcher Artikel hat in seiner Anklage gegen das SED-Regime auch erwähnt, daß die rigorose, mit Bestechungsgeldern durchgesetzte Nichtanerkennungsdiplomatie der Bundesrepublik die Lage der DDR-Bürger verschärfte? Und welcher westdeutsche Politiker hat je gewagt, öffentlich die diplomatische Anerkennung des zweiten deutschen Staates durch die eigene Regierung zu fordern, um damit der Schießerei an der Demarkationslinie ein Ende zu bereiten?

Es ist noch nicht zusammengewachsen, was zusammengehört, wie Willy Brandt sozialdemokratisch-patriotisch deklamierte. Ost ist Ost und West ist West geblieben. Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste davon ist, daß die Bürger der ehemaligen Bundesrepublik noch nie Rechenschaft darüber abgelegt haben, wie sehr sie einen Kalten Krieg eigener Art gegen die Bürger der DDR geführt haben. Eine Entschuldigung ist fällig.

Erschienen in Ossietzky 12/2003