Terror und Vergeltung

von Bernd C. Hesslein

Es ist wie mit der Henne und dem Ei. Jeder Terror der einen Seite gibt sich als Antwort auf Terror der anderen Seite aus. Von welcher Seite der Terror ursprünglich ausging, läßt sich schwer sagen. Legitimer Widerspruch gegen staatliche Willkür kann zu terroristischer Gewalt herunterkommen, wenn, wie es mit Ulrike Meinhof und der »Roten Armee Fraktion« geschehen ist, eine nur auf Machtdemonstration fixierte Regierung die Spirale von Terror und Gegenterror in Gang setzt. Der Staat, der sich auf sein verfassungsrechtlich begründetes Gewaltmonopol beruft, ist stets in der Gefahr, daß seine so legitimierte Gewalt in Terror umschlägt – wie sich in der letzten Phase des Deutschen Herbstes 1977 zeigte. Die Justizfestung Stammheim und die noch immer nicht gestrichenen oder gemäßigten Paragraphen des politischen Strafrechts sind Beweise dafür, wie nahe wir, die biedermanndeutsche Gesellschaft, damals der unkontrollierbaren Eskalation von Terror und Vergeltung waren. Dem gleichen fatalen Muster von Rechtfertigung und Maßlosigkeit folgen – in anderer Dimension – Terror und Gegenterror im Nahen Osten. Längst ist nicht mehr auszumachen, welcher Terror ursächlich war: der von Hamas und anderen militanten Gruppen des palästinensischen Volkes oder der der israelischen Besatzungsmacht in den autonomen Gebieten und den Flüchtlingslagern. Folglich bietet auch der Begriff Vergeltung keine Rechtfertigung. Er liefert nur eine Scheinlegitimation (die sich deutsche Medien in ihrer Berichterstattung gerne zu eigen machen) und verhindert eine Beendigung des Schreckens. Denn der Aberwitz der einander bedingenden Handlungen kann nur überwunden werden, wenn eine Seite aufhört, ihr vermeintliches Recht auf Gegengewalt geltend zu machen. Ein cordon sanitaire aus UNO-Truppen könnte dabei helfen, unterstützt von Vernunft und gutem Willen beider Seiten. Nicht jedoch Betonmauern (doppelt so hoch wie einst die Berliner Mauer) und Metallzäune, mit denen Israel sich und die jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten zu schützen meint, sich aber nur noch mehr in die eigene Paranoia einschließt. Wie immer man den bewaffneten Kampf staatlicher Macht gegen die heimtückische Gewalt des Terrors nennen und legitimieren will, er ist das am wenigsten geeignete Mittel zur Terrorbekämpfung und gar -verhinderung. Da die Ursachen des Terrors vorwiegend in dem Elend und der Ungerechtigkeit liegen, die westliche Vorherrschaft in zwei Jahrhunderten geschaffen hat, wird die Remedur nur in einer aufgeklärten, mitleidensfähigen Politik zu finden sein. Ein blinder und zielloser, die Freiheit des eigenen Landes zerstörender Kampf gegen den Terrorismus provoziert Terrorismus und ist selber Terrorismus. Ebenso wenig trägt es zum Frieden bei, eroberten und besiegten Ländern das aufzuerlegen, was heute in den USA sich als Demokratie geriert, und der Kultur und Lebensweise dieser Völker mit Unkenntnis und Unverständnis zu begegnen. Die neue Weltordnung, für George Bush senior vor mehr als zehn Jahren nur eine Metapher, von George Bush junior nunmehr hemmungslos angestrebt unter hymnischem »pax americana«-Hofgesang von Publizisten beiderseits des Atlantiks, vollendet diesen Aberwitz. Denn die neue wird die alte sein – weltumspannender, herrschsüchtiger und egoistischer. Der Terror wird wachsen. Und die Vergeltung. Im Westen nichts Neues.

Erschienen in Ossietzky 11/2003