Reform alias Verschlimmbesserung

von Matthias Biskupek

In Berlin gibt es die »Reformbühne Heim und Welt«. Freundliche und grimmige Jungdichterinnen und -dichter, an deren Spitze Wladimir Kaminer agiert, verlesen allwöchentlich dem zahlenden Publikum grimmige und freundliche Manu- 11/2003 373 skripte. Derzeit ist die politische Bundesrepublik eine einzige große »Reformbühne Heim und Welt«. Alltäglich verkünden deutsche Politiker mit Spitzengehältern dem steuerzahlenden Publikum Reformen: einschneidende Reformen, wirkliche Reformen, tiefgreifende Reformen, überlebenswichtige Reformen und vor allem reformierte Reformen, was auf Deutsch zum Stottern führt: ReReform. Früher gab es in allen größeren Orten der auf Gleichheit bedachten DDR sogenannte Reformhäuser »Thalysia«. Ich erinnere mich mit Schrecken daran: Es roch drinnen nach alten Lappen, es gab wäßrigen Joghurt, Haferflocken und Lebertran. Ach ja, und Thrombosestrümpfe waren im Schaufenster gar fürchterlich drapiert. Ist dies nun die Vision für eine künftige Bundesrepublik? Reformhaus »Thalysia«? Im großen Berliner Reformhaus, der Elefantenwaschmaschine Kanzleramt, sitzt und grübelt, wie uns täglich die Zeitung verkündet, der Chef unserer Reformation. Der heißt diesmal nicht Martin Luther, sondern Gerhard Schröder. Der Niedersachse (geboren allerdings in Lippe-Detmold, an welches verschwundene Land die Rose im Wappen von Nordrhein-Westfalen erinnert) ist auch nicht ganz so wortgewaltig wie einst der Kursachse. Ein Kanzler, mitten im Pech der Weltwirtschaftskrise, wie er uns gern glauben macht. Seine besten Kräfte zerren mit an allen Ecken des Reformwesens, aber das Reformwesen – es entwickelt sich nicht! Kassenwart Hans Eichel muß eingestehen, daß die Steuerreform eines nicht schafft: die Staatsschulden einzudämmen. Die Beamten sprechen von einer Reform der Föderation – nur ihre eigenen Ländereien dürfen um Himmels willen nicht verschwinden. Ulla Schmidt, unsere Superkranken- und Rentenministerin, die den Charme von Maggie Thatchers Handtasche noch unterbietet und die dabei ist, die linksrheinische Sprechweise zu einem ähnlich unerwünschten Idiom werden zu lassen, wie es einst das Fistelsächsisch des Walter Ulbricht war, diese Ulla Schmidt erzählt ständig, wie sie dämpfen will – nein, nicht die Kartoffeln, sondern die Kosten. Aber die Kosten machen das, was sie immer machen: Sie explodieren. Hartmut Mehdorn, Oberlokführer, macht eine Bahnpreisreform, mit dem Ergebnis, daß die Bahn drastisch an Fahrgästen verliert, denn zu den kostbaren Gütern dieser Welt werden neben Gold und Edelsteinen derzeit auch deutsche Eisenbahntickets gezählt. Und unsere segensreiche Opposition mit Amerika-Praktikantin Angela Merkel an der Spitze weiß auch nur zu verkünden, daß Reformen sein müssen – wirkliche, tiefgreifende, überlebenswichtige. Und daß wir alle dringend Einschnitte ins soziale Netz brauchen. Ach unsere Politiker! Mit Sprache haben sie eben nicht viel am Hut. Wenn ich in ein Netz schneide, so verliert es seine Funktion. Ein zerschnittenes Netz fängt nichts mehr auf. Dann kann ich es auch abschaffen – das aber trauen sich die Oppositionäre noch nicht zu sagen, denn um das soziale Netz zu zerschneiden und dann wegzuwerfen, müssen sie zunächst erst mal gewählt werden. Auch von denen, die vom Netz aufgefangen werden sollen. Sprache ist verräterisch, und mit der Sprache habe ich mich auf ein Gebiet gerettet, von dem ich vielleicht mehr verstehe als von kranken Reformen. Es gab ja eine konsequent durchgeführte Reform: die Rechtschreibreform. Mit dem Ergebnis, daß die Mitglieder der Akademie für Sprache und Dichtung, die soeben in Jena tagten, und die PEN-Mitglieder, die in Schwerin (vor einer Woche) das Wort führten, diese Rechtschreibreform nicht ernst nehmen. Weil es eben keine Reform, sondern Verschlimmbesserung ist. Die Sprache wird ärmer gemacht, angeblich, damit »das Volk« weniger Fehler machen kann. Die der deutschen Sprache innewohnende Vieldeutigkeit verschwindet, und die Klarheit wird aufgeweicht. Wir sollen verwaschener schreiben, um ungenaues Denken nicht offenkundig werden zu lassen. »Verschlimmbesserung 2010« – eine schöne deutsche Fügung. Sie sollte von den Reformern anstelle der welschen »Agenda 2010« benutzt werden.

Erschienen in Ossietzky 11/2003