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Wie konnte es von der weltoffen diskutierenden Gelehrtenrunde in Max Webers Haus vor dem 1. Weltkrieg zur gewaltsamen Ausgrenzung 1933 kommen? In Heidelberg habilitierte sich 1923 Emil Julius Gumbel, der aber bereits 1932 die Lehrberechtigung verlor - vergessen und verpönt war der ehemalige universitäre Pluralismus. Gumbels Vergehen: Der Statistiker hatte der Weimarer Justiz rechtslastige Terrorsympathien nachgewiesen: Für 318 politische Morde von rechts gab es eine lebenslange Festungshaft und 33 Jahre plus 3 Monate Gefängnis, für 16 politische Morde von links setzte es 8 Todesurteile und 239 Jahre Haft. Anhand von Fakten und Zahlen hatte Gumbel den Weg der Weimarer Republik in die Nazidiktatur analysiert und prognostiziert. Deswegen durfte er am Neckar schon ein Jahr vor Hitlers Machtantritt nicht mehr lehren, Gumbels Buch wurde ein Bestseller, der Autor starb 1966 im amerikanischen Exil. Formal war der Staat eine Demokratie, real in den letzten Jahren bereits ein reaktionäres, rassistisches, militaristisches System. Carl von Ossietzky mußte ins Gefängnis, Gumbel war zum Schweigen verurteilt. Hindenburg und Hitler vollendeten, was Ebert mit Noske begonnen hatte. Plurale Kultur und Politik verschwanden, aus Demokratie erwuchs Diktatur. Heute erleben wir vieles, was an damals erinnert: Massenarbeitslosigkeit, systematische Verbilligung der Arbeitkraft, Sozialabbau durch immer neue "Sparmaßnahmen", zunehmende Gewalt von rechts (wie selbst die geschönten Statistiken der Innenminister zeigen), Aufrüstung zum offen bekundeten Zweck der "Sicherung" von Rohstoffen und Absatzmärkten weltweit, verschärfte Konflikte zwischen imperialistischen Staaten. Und zugleich erleben wir einen analogen Abbau von Pluralität in Medien, Geistes- und Sozialwissenschaften. Nicht Nazismus ist die Gefahr, sondern der schleichende Verlust freiheitlicher Substanz, deutlich erkennbar an einer sich ständig steigernden Diffamierung der Gewerkschaften, des entscheidenden Potentials für die Verteidigung von Recht und Freiheit und Lebenschancen. Wie entscheidend dieses Potential ist, zeigte sich 1933, als die Gewerkschaften den notwendigen Kampf scheuten und damit den Nazis den Weg freigaben. Der Neoliberalismus, der die Gewerkschaften als seinen Gegenpart zu verdrängen versucht, macht allein schon dadurch seine Illiberalität kenntlich. * Im September 1995 trat in San Francisco die Elite der westlichen Welt zusammen. Resultat der Tagung ist das Globalmodell der Zukunft: Nur noch 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung werden einen Broterwerb finden. Oder mit einem Zitat von Jeremy Rifkin, Autor des Buches "Das Ende der Arbeit": "Die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen." Oder auch: "Die haben einfach Pech gehabt", heißt es in "Die Globalisierungsfalle" von Hans-Peter Martin und Harald Schumann. Gegen dieses "Pech" stehen die Gewerkschaften. Seit dem Wegfall des östlichen Gegenmodells funktioniert der rheinische Kapitalismus nicht mehr. Deshalb Schröders "Agenda 2010". Ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren schickt dann einen 57jährigen Entlassenen für fast ein Jahrzehnt in die Sozialhilfe, was seine spätere Rente erheblich mindert. Schröder will Arbeitslose zur Arbeit zwingen. Wie das, wenn für fast fünf Millionen Erwerbslose nur eine halbe Million Arbeitsplätze verfügbar sind? In Sachsen-Anhalt kommen auf 280 000 Frauen und Männer ohne Arbeit ganze 10 000 freie Stellen. Kriegen die restlichen 270 000 vielleicht Beraterverträge? Kirch ist pleite, Kohl nicht. Schröder treibt die SPD in den Bankrott, schreibt Lafontaine in der Bild-Zeitung. Vielleicht bekommt Schröder einen Beratervertrag bei VW - oder sollte man die VW-Viertagewoche fürs ganze Land durchsetzen? Der neue IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters brachte die VW-Viertagewoche mit auf den Weg. Vorwärts, Kollegen, es gibt viel zu tun. Nicht der Rückwärtsgang, sondern der Vorwärtsgang ist gefragt. "Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Verhältnis in der Welt ..." So Georg Büchner. In Deutschland machen höchstens die Reichen noch Revolution, und Professor Baring ist ihr Barrikaden-Tauber. Ich halte nichts von Revolutionen. Es gibt mir schon zu viele davon: die Revolution des Sozialstaates, der Kriegführung, der Rechtschreibung und Mode, die Revolution der Bahntarife, des Verkehrs und Geschlechtsverkehrs, der Talk shows bis hin zum akademisch-analphabetischen Nullpunkt. Und was brachte die friedliche Revolution von 1989 den sanften Revolutionierern? De-Industrialisierung, massenhafte Arbeitslosigkeit, Büro- und Wohnungsleerstand, Abwanderung unzähliger junger Menschen und Angela Merkel an die Spitze der christlich-antipäpstlichen Kriegsfreiwilligen. Die "Agenda 2010" soll eine Reform des Sozialstaates herbeiführen und ist in Wirklichkeit dessen Demontage. Auf der Achse "Kapital und Arbeit" hat das Kapital versagt, nun sollen die Arbeiter dafür bluten. Wenn bei 127 Milliarden Euro Außenhandelsüberschuß die Binnenkonjunktur lahmt, ist der Entzug von Kaufkraft das falsche Mittel. Schrumpft das Wort Reform zum Synonym für Umverteilung von unten nach oben, ist Reformation nötig: Umkehr. Wir brauchen für die Transformation der industriellen Arbeitsgesellschaft ins High-Tech-Zeitalter erstens den Erhalt des bedrohten Pluralismus, zweitens die Rückbesinnung der SPD auf ihre ursprünglichen Ziele sowie der Grünen auf ihre vergessen gemachten ökologischen Alternativen. Die "Agenda 2010" schwächt die Arbeit gegenüber dem Kapital. Dies ist das Ziel des Neoliberalismus. Die Alternative heißt: Heraus aus der Defensive, hinein in die Offensive gegen Kriege, Krisen und einen Raubtierkapitalimus, der nur ein modernisierter Manchesterkapitalismus ist. Die Reformation braucht allerdings revolutionierende Forderungen. Ein Beispiel: Gegen den Krieg zu sein, ist eine Selbstverständlichkeit, aber abstrakt. Das absolute Verbot des Luftkrieges zu verlangen ist konkret, schmerzhaft und revolutionär. Wir Deutschen sind Luftkriegstäter und mit 600 000 zivilen Toten auch Luftkriegsopfer wie die Japaner, Koreaner, Vietnamesen. Schluß also mit den Bomben vom Himmel und sogenannten intelligenten Raketen, sie treffen eh mehr Zivilisten als Soldaten. Wenn ein Bundeskanzler verlangt, den Gürtel enger zu schnallen, soll er bei seinem eigenen damit anfangen. Politiker und Professoren, die das Rentenalter auf 67 Jahre festlegen wollen, sollten sich zugleich verpflichten, das Schicksal der Mehrheit zu teilen, was bedeutete: Mit 50, spätestens 55 Jahren in die Arbeitslosigkeit, 12 oder 18 Monate Stütze beziehen, danach bis 67 den Klacks Sozialhilfe, und bei Verweigerung geringbezahlter Beschäftigung gibt's gar nichts, wie die "Agenda 2010" androht. * Dieses Jahr werden 450 Gedenkfeiern zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 stattfinden. Der richtete sich damals gegen Normenerhöhung und Lohnkürzungen. Fragt sich, warum es in Nazideutschland keinen vergleichbaren Massenprotest gab. Fragt sich, warum die Gewerkschaft 1933 nicht den Generalstreik ausrief. Fragt sich, wie sich die Gewerkschaft angesichts heutiger Leistungsverdichtung in den Betrieben, Reallohnsenkung und Streichung von Sozialleistungen verhält und wie sie reagiert, wenn sie weiterhin als "Plage" beschimpft wird. Wer hat eigentlich die ca. 700 Milliarden Euro Verlust aus dem Schwindel mit der Neuen Ökonomie zu verantworten? Was wäre, wenn der DGB ein Arbeitsbeschaffungsprogramm mit 700 Milliarden Euro gefordert hätte? Das Geld wäre jedenfalls nicht so spurlos vernichtet worden. Professoren, Fachwissenschaftler, Leitartikler und sonstige kapitale Lobredner hatten gar nicht laut genug von der New Economy schwärmen können. 700 Milliarden im Eimer, aber jetzt sollen die Lohnempfänger blechen, und die Gewerkschafter gelten als Betonköpfe. Die Frage Arbeit und Kapital ist weiterhin ungelöst. Georg Büchner sprach einst vom revolutionierenden Unterschied zwischen arm und reich. Heute muß der Kampf um die gerechte Verteilung der Arbeit geführt werden: der Arbeit, aus der allein das Kapital entsteht. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Sartre über Chaplins Filmklassiker "Modern times" und den Wahnsinn totaler Automatisierung inklusive der des Menschen. Zur selben Zeit erregte sich die Welt wegen der ersten vollautomatisierten, absolut menschenleeren japanischen Fabrik. Frage: Ist die automatisierte Arbeit, ist also ein Roboter, der den Arbeiter ersetzt, der Arbeit oder dem Kapital zugehörig? Von der Antwort hängt unser aller Zukunft ab. Gehören die Rationalisierungsprodukte zum Kapital, dann haben wirklich nur noch 20 Prozent der Menschen Arbeit und die anderen eben Pech gehabt. Gehört das Produkt von Rationalisierungen aber zur Arbeit, dann wird die gerechte Verteilung von Arbeit und Kapital ein Menschenrecht und sind die Gewerkschafter Menschenrechtler. Der modischen Ablehnung von Gewerkschaften ist deren erneute menschenrechtliche Legitimierung entgegenzustellen. Die Loyalität des Gewerkschafters gegenüber seiner Gewerkschaft hat Vorrang gegenüber Parteiloyalitäten. Das hat Folgen für die politische Autarkie des Gewerkschafters, auf der er beharren muß, soll ihm nicht wie dem Heidelberger Professor Gumbel im Jahr 1932 die legale Berechtigung zum Vortrag abgesprochen werden.
Erschienen in Ossietzky 10/2003 |
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