Zur normalen Fassung

»Amerika kann uns helfen, nicht regieren«

Die Exil-Iraker Sadik Hassan und Segvan Bammerni über die Zeit nach Saddam Hussein

Interview

Der Krieg gegen den Irak ist vorbei, Saddam Hussein und sein Regime sind entmachtet, nun gilt es, den Wiederaufbau zu organisieren. Eine wichtige Rolle dabei werden die oppositionellen Exil-Iraker spielen. Welche Ziele aber verfolgen diese? Gibt es eine gemeinsame Linie? Kann die Opposition einen föderalen Irak aufbauen oder wird der Staat zerfallen? Der Volks- und Islamwissenschaftler Sadik Hassan, der 1982 aus dem Südirak nach Deutschland geflohen ist, und der Soziologe Segvan Bammerni, Sprecher der irakisch-kurdischen Organisationen Süddeutschlands, sehen die weitere Entwicklung optimistisch.


Wenn man sich die Rolle Frankreichs, Rußlands und Deutschlands anschaut, dann wird klar, daß sie nicht aus Friedensliebe, sondern aus ökonomischen Interessen gegen den Krieg waren.

iz3w: Saddam Hussein und sein Baath-Regime sind weg. Welche Chancen eröffnen sich nun im Irak?

Bammerni: Die Beseitigung des Regimes läßt uns näher zusammenrücken. Viele haben gedacht, daß es im Kriegsfall innerhalb der Opposition, also zwischen den Kurden, Arabern, Turkmenen, Schiiten und Sunniten zu einer Eskalation der Gewalt kommen könnte. Viele haben daher polemisiert, die bestehende Herrschaft sei immer noch besser als das Chaos, das danach kommen werde. Dies ist alles nicht passiert.

Die Bilder von den Plünderungen hinterlassen aber einen Eindruck von Chaos.

Hassan: Viele haben das aus purer Not getan. Ich weiß von Familien, die selbst die Steine ihres Hauses verkauft haben, um zu etwas Brot zu kommen. Sie haben jetzt die Möglichkeit gesehen, sich etwas davon zurückzuholen – sowohl materiell als auch ideell, als eine Art Rache.

Übrigens gibt es auch andere Beispiele: In dem ärmsten Viertel Bagdads etwa, der so genannten Saddam-Stadt, in dem sehr viele Schiiten wohnen, haben sich Gruppen gebildet, um die Plünderungen zu verhindern. Auch in anderen Städten, in Mosul oder Kirkuk, wurden irakische Organisationen gebildet, um ein Mindestmaß an Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten.

Bammerni: Ich bin sicher, daß kein einfacher Iraker dem anderen das Haus geplündert hat. Es sind vor allem die Anhänger des alten Regimes, die ja nicht nur Wertgegenstände aus den Häusern und Palästen geholt, sondern auch Dokumente vernichtet und ganze Gebäude angezündet haben. Während der 35 Jahre totalitärer Diktatur wurden viele Menschen zu Verbrechern erzogen. Nicht alle selbstverständlich, aber die Mitglieder der Baath-Partei und der fünf, sechs Geheimdienste. Diese wollen jetzt ihre Haut retten.

Man muß hier aber auch die Amerikaner kritisieren: Sie haben es versäumt, die irakische Opposition gleich mit einzubeziehen und in die eroberten Städte mitzunehmen. Man hat sie nur als Dolmetscher eingesetzt, nicht aber, um für Ordnung zu sorgen. Auch die Türkei hat den Kurden keine freie Hand in Kirkuk und Mosul gegeben. Das Chaos war also vorprogrammiert.

An welche Opposition hätten sich die Amerikaner denn wenden sollen? Das System war doch so totalitär, daß es im Irak gar keine Strukturen außerhalb davon geben konnte.

Hassan: Es geht in erster Linie um die Opposition im Exil, die im Ausland sehr aktiv war und ist. Zum einen hätte diese Opposition ihre Kontakte im Irak selbst nutzen können, zum anderen wären innerhalb kürzester Zeit genügend Exil-Iraker gekommen, um mitzuarbeiten. Allein Kuwait hat in nur einer Woche 1600 Visa an Leute erteilt, die zurück in den Irak wollten, um zu helfen. Die Amerikaner wollten das zunächst nicht, aber sie sehen jetzt, daß es ohne irakische Unterstützung nicht geht. Die USA können den Irak nicht regieren. Das werden die Iraker bald schon selbst in die Hand nehmen.

Dazu braucht es eine starke Opposition. Gibt es die?

Bammerni: Selbstverständlich gibt es eine Opposition im Land, die sich aber durch den permanenten Terror kaum bewegen konnte. Bei uns in Kurdistan war das Dank der Berge etwas leichter – man konnte sich verstecken. Aber insgesamt war es kaum möglich, im Irak gegen das Regime zu arbeiten. Der größte Teil der Oppositionellen ist daher im Ausland. Im kurdischen Salahadin gab es 1992 ein Treffen der irakischen Opposition. Seither ist es das gemeinsame Ziel, Saddam zu stürzen und einen föderalen, demokratischen Irak aufzubauen.

Also keinen kurdischen Staat im Norden und keinen schiitischen im Süden?

Bammerni: Nein, einen weit weniger zentralistischen Staat als bisher, aber mit Kurdistan und mit dem Süden. Alle Oppositionsgruppen wollen ein föderales System im Irak.

Hassan: Die Voraussetzungen, neue Strukturen aufzubauen, sind besser, als es auf den ersten Blick scheint. Es gibt – verglichen mit anderen arabischen Staaten – einen hohen Anteil gut ausgebildeter Leute im Irak. Und der Irak muß nicht auf irgendwelche Geberländer warten, weil er ein reiches Land ist – es gibt nicht nur Öl, sondern auch andere Rohstoffe und eine reiche Landwirtschaft. Sobald wir Frieden und Freiheit haben, werden wir demokratische Strukturen aufbauen.

Wird das unter einem Militärprotektorat möglich sein?

Bammerni: In der ersten Zeit zumindest brauchen wir die Unterstützung der USA und Großbritanniens. Wenn ein Land 35 Jahre von einem so totalitären System durchdrungen war, dann muß das Volk erst einmal umdenken. Ohne internationale Hilfe schaffen wir das nicht, denn die Baath-Leute sind ja nicht alle weg, nur weil sie ihre Militär- gegen Zivilkleidung ausgetauscht haben.

Hassan: Ein Protektorat im Sinne des alten Imperialismus darf und wird es nicht geben. Aber wenn die Friedensbewegung in Deutschland jetzt den sofortigen Abzug der USA fordert, dann ist das auch falsch – dann droht nämlich das alte Regime doch noch zurückzukommen. Momentan haben die Menschen kein Vertrauen zu irgendeinem System. Das System – dazu gehörten die Partei, die Sicherheitskräfte, die republikanische Garde – war der Feind der Menschen. Wenn das jetzt zusammenbricht, dann muß eine Alternative her, die zum einen Sicherheit bietet und zum anderen möglichst schnell Vertrauen schafft. Und dazu brauchen wir zunächst einmal Hilfe ...

... und die wird von den USA auch kommen?

Hassan: Wohl nicht ganz uneigennützig, aber das ist mir auch egal. Die Iraker können ihr Öl nicht trinken. Und ob sie es an die USA verkaufen oder an sonstwen, ist zweitrangig. Wenn die Amerikaner uns helfen, werden sie auch die Öl-Verträge bekommen.

Bammerni: Wir betrachten die Amerikaner nicht als Feinde oder Besatzer, sondern als Partner. Wir haben ihnen zuvor gesagt: Wir werden euch Blumen schenken, wenn ihr uns befreit.

Hassan: Vielleicht ist das besser zu verstehen, wenn man an die deutsche Geschichte zurückdenkt. Wichtige Persönlichkeiten – nehmen sie Bertold Brecht oder Willy Brandt – haben aus dem Exil gegen Nazi-Deutschland gekämpft, als Unterstützer der Alliierten, sie sind Symbole der Freiheit ...

... die aber nicht gerade als solche in Deutschland wahrgenommen wurden. Lange hatten sie sogar das Problem, als Verräter angesehen zu werden. Besteht diese Gefahr nicht auch, wenn heute die Exil-Iraker eng mit den USA zusammenarbeiten, die ja nicht gerade beliebt sind – sowohl im Irak als auch im gesamten arabischen Raum?

Hassan: Als sich 1991 das irakische Volk gegen Saddam erhob und viele Provinzen unter Kontrolle der Revolutionäre waren, da hat man vergeblich auf die Unterstützung der USA gewartet. Obwohl Bush senior damals zum Aufstand gegen Saddam Hussein aufgerufen hat, hat er die Aufständischen im Stich gelassen. Die Welt hat zugeschaut, wie das irakische Militär die Oppositionellen erst zurückgedrängt und dann ermordet hat. In diesen wenigen Wochen wurden 250.000 Menschen getötet, tausende Dörfer wurden zerstört und unglaublich viele Menschen mußten fliehen. Das haben die Leute bis heute nicht vergessen – sie haben kein Vertrauen in die Amerikaner. Die schiitischen Oppositionsgruppen im Ausland fordern die Menschen im Irak auch nur auf, sich neutral zu verhalten. Das heißt, selbst die Oppositionellen im Exil haben diese Angst noch und dieses Mißtrauen, sie könnten mit den Folgen des Krieges wieder alleingelassen werden.

Eine Übergangsregierung könnte daher auch das Problem haben, als bloßer US-Verwalter angesehen zu werden. Anerkennt die Bevölkerung denn die irakische Opposition als Repräsentant?

Bammerni: Nehmen wir das Beispiel Kurdistan: Als ich gegen Saddam gekämpft habe, waren wir, die Peschmerga, kaum fünf Prozent der Kurden. Mehr als 270.000 Kurden aber waren Paramilitärs, die für Saddam gegen Kurden gekämpft haben. Als 1991 der Volksaufstand siegte und die Oppositionellen aus dem Ausland zurückkamen, hat man sie jubelnd empfangen. Und sie haben regiert – das funktioniert seit zwölf Jahren, jedenfalls in Ansätzen.

Sie sprechen jetzt in erster Linie von Oppositionellen. Das Baath-Regime hatte aber einen großen Apparat, viele Mitarbeiter, Parteimitglieder und Anhänger. Und dann gibt es noch die große Gruppe der so genannten Mitläufer. Mit all diesen Menschen werden Sie in nächster Zukunft zu tun haben. Wie kann das gut gehen?

Hassan: Man muß heute sehr genau unterscheiden: Wer wurde gezwungen und wer hat bewußt mitgemacht, hat verhaftet, gefoltert und gemordet? Eine Oppositionszeitung in London hat zum Beispiel in jeder Ausgabe Namen und Adressen von Verantwortlichen veröffentlicht. Diese Leute werden jetzt verurteilt und bestraft werden.

Bammerni: Bei dem Kongreß der Opposition in London wurde schon viel von Versöhnung gesprochen. Sicherlich wird es Urteile gegen die Verantwortlichen geben, aber man muß die Mitläufer in ihrer Angst auch verstehen. Es wird jetzt keine umgekehrte Verfolgung geben, da bin ich sicher.

Über diese juristische Ebene hinaus wird auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung nötig sein, um irgendwann von Versöhnung sprechen zu können.

Bammerni: In Deutschland ist dieser Prozeß doch bis heute im Gange. Selbstverständlich werden wir im Irak vieles auf den Kopf stellen müssen. Das geht vom Kindergarten bis zur Universität – wir müssen die Alltagssprache, das Verhalten, die Umgangsformen, einfach alles ändern.

Hassan: Vertrauen innerhalb der Gesellschaft wiederherzustellen, das wird sehr lange dauern. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel aus meiner Familie, um zu verdeutlichen, wie weit das Mißtrauen ging: Als unsere Tochter mit fünf Jahren in Mosul in den Kindergarten ging, haben wir in ihrer Anwesenheit kein Wort gegen das Regime gesprochen, weil auch die Kinder ausgehorcht wurden. Man hat sie gefragt: Wenn der Staatspräsident im Fernsehen spricht, was macht der Papa dann? Und wenn die Kinder auch nur antworteten, daß die Eltern dann um- oder abschalten, konnte das schon das Leben der Familie kosten. So wurde das gesamte Vertrauensverhältnis bis in die Familien und Freundeskreise zerstört.

Heißt das umgekehrt, daß die Exil-Iraker deshalb mit Vertrauen rechnen können, weil sie nicht Teil dieses Systems waren?

Hassan: Das kann man so sagen. Die Hoffnung richtete sich ja während der ganzen letzten Zeit nur noch darauf, daß Hilfe von außen kommt. An eine Veränderung von innen hat niemand mehr geglaubt. Und die Exilanten sind Teil dieser Hoffnung.

Wie viele Menschen leben denn im Exil?

Hassan: Etwa vier Millionen Iraker haben das Land seit 1979 verlassen, nachdem Saddam die Macht übernommen hat. Der erste größere Teil flüchtete in dieser Zeit, dann gab es eine weitere Welle während des Krieges gegen den Iran und vor allem nach 1991, als die Verfolgung nochmals verstärkt wurde.

Werden viele Exil-Iraker zurückgehen? Für die Demokratisierung des Landes ist das ja offenbar ein sehr wichtiger Aspekt.

Hassan: Die Opposition ruft dazu auf, in den Irak zurückzukehren. Und ich glaube, daß viele zurückkehren werden, sobald die Situation sicherer ist.

Was haben Sie persönlich vor?

Hassan: Ich bin jetzt 62 Jahre alt, werde also in drei Jahren in Rente gehen. Ich kann mir gut vorstellen, daß ich dann jeweils ein halbes Jahr hier in Freiburg und ein halbes Jahr in Bagdad oder woanders im Irak leben werde. Ich wäre also zur Hälfte hier bei meiner Familie, könnte aber sechs Monate im Jahr etwas zum Aufbau im Irak beitragen.

Welche Rolle sollen die westlichen Staaten – Deutschland, Europa, die USA – beim Wiederaufbau spielen?

Bammerni: Es geht ja nicht nur um Hilfe. Ich finde es berechtigt, wenn amerikanische Anwälte jetzt fordern, daß 35 deutsche Firmen 250 Milliarden Dollar bezahlen sollen als Entschädigung wegen des Völkermordes im Irak. Wir haben schon Ende der 80er Jahre gegen deutsche Firmen geklagt, weil sie Waffen und Giftgas in den Irak geliefert haben. Man kann nicht immer nur an die Gewinnmaximierung denken.

Hassan: Wenn man sich die Rolle Frankreichs, Rußlands und Deutschlands anschaut, dann wird klar, daß sie nicht aus Friedensliebe, sondern aus ökonomischen Interessen gegen den Krieg waren. Das sieht man sehr deutlich am Kosovo-Krieg. Die Aktion war völkerrechtlich ebenso wenig gedeckt wie der Irak-Krieg, und das Regime war nicht annähernd so brutal wie das im Irak. Daß die Bundesregierung damals für den Kosovo-Krieg und heute gegen den Irak-Krieg ist, das ist nur wirtschaftlich zu erklären – man weiß, wie viele deutsche, französische und russische Firmen im Irak Geschäfte gemacht haben. Und US-amerikanische Unternehmen auch, das wollen wir nicht verschweigen.

Die UNO hat in der Regel keine ökonomischen Interessen. Welche Rolle hat sie gespielt und welche wird sie nach dem Krieg spielen?

Bammerni: Der ganze Prozeß im Sicherheitsrat hat dazu geführt, dass Saddam sagen konnte: Seht her, die ganze Welt ist auf meiner Seite, die USA sind im Unrecht. Die UNO hat damit nicht nur gegen den Krieg, sondern auch für das Saddam-Regime Stellung bezogen – bewußt oder unbewußt.

Hassan: Wenn die UNO ihre eigene Resolution 688 von 1991 so konsequent verfolgt hätte wie die Resolution 1441, dann wäre es nicht zum Krieg gekommen. Die UNO hat sich damals verpflichtet, die Menschenrechte im Irak zu schützen. Hätte die Welt Saddam massiv und deutlich klar gemacht, daß er für die Verletzung der Menschenrechte zur Verantwortung gezogen wird, dann hätte das ganze System nicht lange existiert. Das heißt, die UNO hat ihre Aufgabe ignoriert und sich nur auf die Entwaffnung konzentriert.

Wenn man die Reaktionen in der arabischen Welt sieht, dann wird es ein neuer, demokratischer Irak schwer haben. Droht die irakische Opposition nicht isoliert zu werden, weil sie als Verbündete der verhaßten USA angesehen wird?

Bammerni: Sicherlich gibt es diese Stimmen. Man muß aber sehen, daß sich viele Menschen in der arabischen Welt fälschlicherweise auf die Seite Saddams geschlagen haben, weil sie gegen die USA sind. Wenn Palästinenser Prämien von Saddam bekommen, weil sie Selbstmordattentate begehen, dann ist das nicht nur unmenschlich, es schadet auch ihrer Sache – der Lösung des Palästina-Problems.

Hassan: Es ist eine paradoxe Situation im Nahen Osten. Auf der einen Seite sind die Amerikaner dort verhaßt. Auf der anderen Seite weiß jeder, daß es ohne die Amerikaner keine Lösung des Palästina-Problems gibt. Genauso wie eine Veränderung im Irak nur mit Hilfe der USA möglich war. Wichtig ist jetzt, daß man den USA klar macht: Ihr könnt uns zwar helfen, aber ihr könnt uns nicht regieren.


Das Interview führte Stephan Günther, Mitarbeiter des iz3w.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 269 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3eda3f208dc98/1.phtml

sopos 6/2003