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Literatur für meine Studenten
von Kai Agthe
Die Umstände, die zum Kauf des Buches führten, sind mir noch immer
so gegenwärtig wie der Eindruck, den die erste Lektüre auf mich machte.
Franz Fühmanns »22 Tage oder Die Hälfte des Lebens« –
vor dreißig Jahren erstmals erschienen – entdeckte ich 1988 in einem
Antiquariat in Magdeburg. Ich war in jenen Tagen Abiturient und Lehrling beim
Gleisbaubetrieb und als Leser von 18 Jahren für alles offen, wie meine
Leseliste belegt: Umberto Ecos »Der Name der Rose« folgt da einem
Buch über Kakteen und Sukkulenten. Es war eine Zeit der steten Bücherjagd
– über und unter der Ladentheke. So erstand ich fast jede Neuerscheinung
des Leipziger Reclam-Verlages; meist freitags am Magdeburger Hauptbahnhof beim
Warten auf den Zug in Richtung Wochenende, weshalb das Verlagsprogramm zwischen
1987 und 1990 in meinen Regalen einen breiten Raum einnimmt.
Auch Fühmanns Tagebuch, aus zweiter Hand erworben, war eine Reclam-Ausgabe,
traurig schwarz gehüllt und schon reichlich vergilbt. Fasziniert war ich
zunächst von dem vielversprechenden Titel, und der Preis von 1.50 DDR-Mark
ließ mich nicht lange überlegen. Vordergründig ist dieses Buch
der Bericht einer Reise nach Ungarn, bei genauer Lektüre aber eine Bekenntnisschrift
von augustinischer Wucht. Franz Fühmann (1922-1984) bezeichnete es als
seinen »eigentlichen Eintritt in die Literatur«. Für mich war
es eines der nachhaltigsten Lese-Erlebnisse. Es ist das Buch, zu dem ich so
oft gegriffen habe wie zu keinem anderen. Zuerst ein jugendlich-unbedarfter
Leser auf literarischer Entdeckungsreise, später dann als Germanistikstudent
aus Passion für den Dichter (der nur ein Jahr jünger war als mein
Vater und deshalb einen Einblick in die Generation der nach 1920 Geborenen geben
konnte).
Meine Begeisterung für das Werk teilten im letzten Jahr auch Studenten
des Germanistischen Instituts der Universität Halle-Wittenberg, die in
ein von mir angebotenes Seminar zu Leben und Werk Franz Fühmanns fanden.
Das juvenile Interesse überraschte angesichts des Umstands, daß für
den größten Teil der Studierenden die DDR und ihre Literatur inzwischen
nurmehr eins von vielen Kapiteln der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt,
in die sich hineinzuversetzen, wie zu bemerken war, nicht eben einfach ist.
»22 Tage oder Die Hälfte des Lebens« ist im Grunde ein heiteres
Buch, besonders jene Passagen, da sich der Schriftsteller über Ungarn,
seine Hauptstadt und die Menschen äußert, aber streckenweise eben
auch ein Zeugnis der unbarmherzig bohrenden Selbstbefragung (und diesbezüglich
einzigartig in der DDR-Literatur). Dafür nur ein Beispiel: Franz Fühmann
bezichtigt sich, er hätte, wenn er als Soldat dorthin befohlen worden wäre,
auch vor den Gaskammern in Auschwitz funktioniert. So wie die Wahl, ob er mit
dem einen Freund zur SA oder mit dem anderen zur SS gehen sollte, für ihn
nur eine Frage der Freundschaft gewesen war, die ihn letztlich in die Reihen
der SA führte. Das erschien mir immer eine übertriebene, ja masochistische
Behauptung. Aber je länger ich darüber nachgrüble, um so zwingender
erscheint mir Fühmanns Argumentation.
Resultierend aus der Erfahrung einer nun mehr als 14 Jahre währenden Beschäftigung
mit dem Diarium »22 Tage« wäre ganz und gar altväterlich
zu sagen: Je älter man wird, desto mehr wird man dem Buch entnehmen können.
Eine Binsenwahrheit, gewiß, und doch eine, die erst einmal erkannt sein
will. Was Franz Fühmanns (vor drei Jahren in einer schönen gebundenen
Ausgabe im Hinstorff-Verlag Rostock wieder aufgelegtes) Buch »22 Tage
oder Die Hälfte des Lebens« seit drei Jahrzehnten lehrt: Allen Ideologemen
zu mißtrauen und den Mut aufzubringen, auch und gerade mit oder gegen
sich selbst aufrichtig zu sein. »22 Tage« ist zweifellos eines der
wichtigsten Bücher aus vierzig Jahren DDR-Literatur.
*
In seinen Erinnerungen »Mein Leben« kommt Marcel Reich-Ranicki
auf ein dialektisches Verhältnis zu sprechen, dem nachzugehen sich lohnt.
Ein bedeutender Dichter, so der Literaturkritiker, ist immer auch ein hochgradiger
Egozentriker. In der Tat ist die Literatur voll von Autoren, die, wenn überhaupt,
nur bei der Niederschrift ihrer Bücher von sich absehen konnten, ansonsten
nur in der ersten Person Singular sprachen: ich, ich, ich. Tendenz: gleichbleibend.
So absolut Reich-Ranicki auch die Dialektik von literarischer Größe
und um sich selbst kreisendem Ego setzt, so kommt er doch auf die Ausnahme von
dieser Regel zu sprechen.
Wenn es in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 einen Autor gab, dem man
alles Mögliche nachreden, nur nicht den Vorwurf machen kann, er habe als
eine der wichtigsten Stimmen der frühen BRD je Aufhebens um sich gemacht,
dann Wolfgang Koeppen (1906-1996). Das Kreisen um sich selbst war seine Sache
nicht; im Blitzlicht zu stehen, war ihm ein Graus. Seine Bedeutung erwächst
einzig aus seiner Rolle als Schriftsteller: Er ist der literarische Biograf
der Bundesrepublik. Koeppen hat mit den Romanen »Tauben im Gras«
(1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom (1954)
in erstaunlich kurzer Zeit nicht nur eine veritable Trilogie geschrieben; er
hat auch – und das sprachlich meisterhaft – der sich im ökonomischen
Aufbruch befindlichen und durch ihre Bindung an die USA politisch gehätschelten
westdeutschen Republik einen Spiegel vorgehalten. Hinter dem schönen Schein
des Wirtschaftswunders zeigte sich ein Gesicht, das durch Korruption, alte und
neue moralische Verworfenheit und, nicht zuletzt, durch die Verstrickung mit
der tabuisierten NS-Vergangenheit entstellt war. Also eine Fratze.
Das dichterisch gestaltet zu haben, ist – genau ein halbes Jahrhundert
nach der Veröffentlichung von »Tauben im Gras«, diesem großen
Panorama der westdeutschen Nachkriegsjahre – Koeppens bleibendes Verdienst.
»Tauben im Gras«, einem Zitat Gertrude Steins entlehnt, ist ein
erzählerisches Stakkato, das den Leser kaum zu Atem kommen läßt.
Mit viel Übersicht verknüpft der Autor zahlreiche parallel erzählte
und im Laufe des Geschehens bald immer enger geführte Handlungen zu einer
fein gewebten Prosa-Textur. In den Jahren, da sich Koeppens Kollegen, die die
»innere Emigration« als ihren Beitrag zum Widerstand gegen das System
betrachteten (Koeppen, der ebenfalls im Land blieb, bildete sich darauf nichts
ein); nur schwer von der Diktion des Dritten Reiches lösen konnten, fand
Koeppen eine eigene, an den großen nordamerikanischen Erzählern geschulte
Sprache. Schmerzlich nur, daß er nach dem frühen »opus magnum«
keinen Roman mehr schreiben konnte.
Reich-Ranicki richtete, wie er in seinen Memoiren mitteilt, in den siebziger
Jahren ein Spendenkonto für Koeppen ein. Unter einem Stichwort, das ihm
das wichtigste Prosawerk, ja der Schlüsselroman der fünfziger Jahre,
geliehen hatte: »Wegen Tauben im Gras« spendeten zahlreiche Schriftsteller.
Desweiteren konnte der Kritiker den Autor bewegen, essayistisch tätig zu
werden. So kamen Feuilletons zum Druck, die Koeppen im buchstäblichen Sinne
das tägliche Brot sicherten. Alfred Estermann brachte es 1998, nach der
Durchsicht des Koeppenschen Nachlasses, auf die Formel: »Nur seinem Gewissen
verantwortlich, war er an Weisungen nicht gebunden, wohl aber an Überweisungen.«
Daß es sich bei den Beiträgen für die Kulturseiten der großen
Tageszeitungen um kleine literarische Formen handelte, mag dem literarisch zusehends
kurzatmiger werdenden Autor entgegengekommen sein.
Einer der letzten großen Aufschwünge des Romanciers datiert von 1976.
In dem Jahr erschien mit »Jugend« nach fünfzehn langen Jahren
des Schweigens ein schmales, wohl zwischen 1963 und 1965 entstandenes Buch,
welches Koeppen zunächst »Fragment einer Fiktion« untertiteln
wollte und Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiographie treffend als »Fragment
aus Fragmenten« bezeichnet. Und dennoch: Unter allen Kindheitsberichten,
die die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert hervorbrachte, muß dieses
locker komponierte, aber erzählerisch so vollendete Werk der letzten Schaffensphase
Wolfgang Koeppens zu den wichtigsten gezählt werden. Es beginnt mit dem:
»Meine Mutter fürchtete die Schlangen.«
Angesichts des unaufhaltsamen Rückzugs, den Koeppens Arbeitskraft und Phantasie
antraten, erinnert Marcel Reich-Ranicki an den Satz aus Thomas Manns »Tristan«-Erzählung,
demzufolge »ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer
fällt als anderen Leuten«. Wolfgang Koeppen kann exemplarisch für
das Verhängnis stehen, das, obwohl das Bild stark an eine Schreibmechanik
gemahnt, als Schreckgespenst aller Autoren gilt: die Blockierung. Da das Stichwort
gefallen ist: In einem Dokumentarfilm über Wolfgang Koeppen kreiste die
Kamera auch durch das mit einer Armada aus mechanischen und elektrischen Schreibmaschinen
bestückte Arbeitszimmer des Dichters. Dem Instrumentarium – vor dessen
ständiger Bereitschaft Koeppen geschaudert haben mag – war anzusehen,
daß es seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Über Dichters Phantasie
hatte sich Staub gelegt.
Er starb kurz vor der Vollendung seines neunzigsten Lebensjahres in einem Pflegeheim.
Günter Grass investierte einen Teil der Prämie, die ihm der Nobelpreis
für Literatur bescherte, in eine Stiftung, deren Aufgabe es ist, den Nachlaß
des Dichters in einem in Koeppens Geburtsstadt Greifswald gegründeten Literaturhaus
zu erforschen.
*
Viel Bedeutsames und Bleibendes hat er geschrieben, und viel ist über
ihn schon zu Lebzeiten geschrieben worden. Dennoch brachte ein im Todesjahr
des Schriftstellers erschienenes Autorenlexikon das Kunststück fertig,
Gert Hofmann mit keinem Wort zu erwähnen. 1931, nach anderen Angaben 1932,
im sächsischen Limbach geboren, verließ Hofmann Anfang der fünfziger
Jahre als Student die DDR, um in Freiburg zu studieren: Anglistik, Germanistik
und Philosophie. Er promovierte über Henry James und zog fortan als Germanistikdozent
durch die Welt. Seine vier Kinder seien, so sagte Hofmann mit einem Anflug von
Stolz, in vier verschiedenen Ländern geboren worden.
Wichtiger, als sich auf die Texte anderer Autoren einzulassen, um sie zu analysieren,
war es ihm, selber zu schreiben, zunächst Hörspiele. 45 (!) gingen
zwischen 1960 bis 1992 über die Sender. Doch den Namen Hofmann begann man
erst wahrzunehmen, als er Bücher zu veröffentlichen begann –
weil in Deutschland bekanntlich nur als Schriftsteller gilt, wer Texte zwischen
Pappdeckel preßt. Von 1979 an legte der Erzähler Hofmann jedes Jahr
ein neues Buch vor.
Die Interpreten seines Werkes sind sich darüber einig, was alle seine Hörspiele,
Romane und Erzählungen charakterisiert: die vollkommene Abwesenheit von
Glück. Das gilt selbst für den Roman »Das Glück«
(1992), in dem aus der Sicht eines erzählenden Kindes vom Tag der Trennung
seiner Eltern berichtet wird. Die berühmte Ausnahme von der Regel stellt
das letzte, erst posthum veröffentlichte Werk dar: »Die kleine Stechardin«
(1993). Doch auch für diesen Roman wurde schlüssig nachgewiesen, daß
in der Beziehung zwischen dem minderjährigen Göttinger Blumenmädchen
und dem buckligen Physiker und Philosophen Lichtenberg, wenn überhaupt,
dann nur mit derart zahlreichen Abstrichen von Glück die Rede sein könne.
Am bekanntesten wurde der im deutsch-deutschen Taumeljahr 1990 erschienene,
autobiographisch grundierte Roman »Der Kinoerzähler«. Er berichtet
von deutscher Geschichte am Beispiel eines Mannes – es ist der Großvater
des Erzählers und des Autors –, der im »Apollo«-Kino
von Limbach Stummfilme erläutert und mit Klaviermusik untermalt. In dem
unweit von Chemnitz gelegenen Flecken spielte zuvor schon der 1984 in der Bundesrepublik
und im Jahr darauf in der DDR veröffentlichte Roman »Unsere Eroberung«,
in dem (zur nachhaltigen Verstörung der sich mühenden Rezensenten)
Hofmann einen kollektiven Erzähler installierte, wie auch die Erzählung
»Veilchenfeld”, die 1986 folgte, aber als Vorgeschichte zu »Unsere
Eroberung” gelesen werden kann. Während der Roman im Mai 1945 handelt,
erleben wir in »Veilchenfeld” das Jahr 1938 mit dem ausgegrenzten,
erniedrigten und in den Tod getriebenen Philosophen Bernhard Veilchenfeld in
der tragischen Hauptrolle.
Auch »Veilchenfeld« und »Der Kinoerzähler« sind
aus der Warte eines Kindes erzählt. Schon die Jüngsten verstricken
sich in Gert Hofmanns Büchern in Schuld. Durch Wegsehen, bewußte
Verweigerung oder aktive Teilnahme an moralisch zweifelhaften Handlungen verliert
jede Figur ihre Arglosigkeit. Hofmann selber erwähnte einmal gesprächsweise
eine konsternierte Verlagsvertreterin, die ihn gefragt habe, wie sie den Buchhandlungen
seine Bücher anziehend machen solle, wenn darin – so etwa in dem
Roman »Auf dem Turm« (1982) – selbst die Kinder abstoßend
seien.
Gert Hofmann starb 1993.
Erschienen in Ossietzky 9/2003
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