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Riester, Rürup, Rentenräuber
von Otto Meyer
Der rührige Bert Rürup – der stern nennt ihn anerkennend einen
»Pop-Profes-sor« und zeigt ganzseitig Hochglanzbilder vom professoralen
Ankleideschrank mit 500 bunten Krawatten, dazu die passende Hemdengalerie, Rürup
stolz davor oder mit Gattin im postmodernen Wohnzimmer – scheint in seinem
Hochschulamt viel Zeit übrig zu haben. Im Auftrag der Regierung leitet
er gleich zwei Kommissionen, eine für Gesundheit und eine für die
Rente. Und weil der Kanzler mit seiner »Agenda 2010« nun doch auf
Widerstand in seiner Partei und auf gewerkschaftliche »Betonköpfe«
gestoßen ist, mußte Rürup ganz schnell seine »Experten-Ergebnisse«
vortragen: zunächst ein Sammelsurium an Streichungsvorschlägen in
der Krankenversorgung und dann, wenige Tage später, zwei tiefe Eingriffe
ins Rentenrecht, wodurch die gesetzliche Altersversorgung, durch die Riester-Reform
schon ziemlich gestutzt, für weitere Millionen Arbeitnehmer auf Sozialhilfeniveau
reduziert würde.
Die beiden GewerkschaftsvertreterInnen, Ursula Engelen-Kefer und Klaus Wiesehügel,
stimmten dagegen. Alle anderen Kommissionsmitglieder (zumeist Professoren mit
einem monatlichen Pensionsanspruch von ca. 5000 Euro, die vielen von ihnen aber
nicht mehr als ein Zubrot zu den Vermögensrenditen aus ihren Berater- oder
Vorstandseinkünften bedeuten werden) fordern einhellig, das Renteneintrittsalter
auf 67 Jahre heraufzusetzen und durch Einführung eines modifizierten »demographischen
Faktors« die jährliche Rentenerhöhung noch geringer zu bemessen,
als dies nach Einführung der »Riester-Rente« schon geschieht.
Das Renteneintrittsalter war bereits in den vergangenen Jahren stufenweise erhöht
worden: von zuvor 60 für Frauen und 63 für Männer auf zur Zeit
65 Jahre. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit mußte diese Ausdehnung
der gesetzlichen Lebensarbeitszeit absurd erscheinen. Ihr einziger Sinn und
Zweck war, die Renten zu senken. Denn jeder, der, bevor er das gesetzliche Renteneintrittsalter
erreicht, in Rente geht oder gehen muß, erleidet Abschläge von bisher
3,5 Prozent pro Jahr. Dem heutigen Durchschnittsrentner, der mit 60 aus dem
Arbeitsleben ausscheidet, werden also von seiner erdienten Rentenanwartschaft
17,5 Prozent abgezogen, auch wenn er oder sie zuvor 45 Jahre lang eingezahlt
haben. Die Rürup-Kommission schlägt nun vor, das Renteneintrittsalter
um weitere zwei Jahre heraufzusetzen, und fordert zugleich eine »Neuberechnung«
des Abschlagsfaktors; »Sozialpolitiker« der Grünen haben schon
ausgerechnet, daß mindestens fünf Prozent weniger für jedes
Jahr »angemessen« seien. Das wären dann in Zukunft, wenn das
gesetzliche Rentenalter erst sieben Jahre nach dem tatsächlichen beginnt,
7 mal 5 gleich 35 Prozent weniger für alle diejenigen, die weiterhin mit
60 »in die schönsten Jahre des Lebens« entlassen werden. Rürup
sagt, das sei ein »Anreiz«, vermehrt privat vorzusorgen –
nachdem bisher trotz »Riester-Förderung« mehr als 80 Prozent
der abhängig Beschäftigten noch keine privaten Altersvorsorgeverträge
abgeschlossen haben, weil ihr Lohnkonto die zusätzlichen Versicherungsbeiträge
nicht hergibt.
Auch den Rentensenkungsmechanismus des von Rürup einst erfundenen und von
Norbert Blüm schon mal zum Gesetz erhobenen, von Rot-Grün 1998 gekippten
»Demographiefaktors« will die Kommission wieder in Kraft setzen.
Allerdings soll er jetzt »Nachhaltigkeitsfaktor« heißen. Die
Umbenennung ist nicht nur eine euphemistische Wortschöpfung; »Nachhaltigkeit«,
wie Rürup sie hier definiert, macht es möglich, mit Rentensenkungen
schneller auf wachsende Arbeitslosigkeit zu reagieren, ohne die zähe Statistiken
der Demographie abwarten zu müssen. Die Kommission fordert, die Renten
zu senken, sobald die Zahl derer steigt, die tatsächlich auf Rente angewiesen
sind (also nicht erst dann, wenn laut Demographie die Zahl der 65jährigen
zugenommen hat). Die Rente soll auch sinken, sobald jene weniger werden, die
noch »sozialversicherungspflichtig« beschäftigt sind. Und das
ist ganz schön »tricky«: Je mehr Arbeitslose und Mini- oder
Midi-Jobber, für die keine oder nur minimale Sozialbeiträge abgeführt
werden, unser neoliberal und flexibel gemachtes Wirtschaftssystem produziert
und je mehr Alte der Markt aus ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen
ausstößt, desto weniger Rente gibt’s. Das bewirken zwar auch
jetzt schon in geringerem Maße die Mechanismen der Riester-Rente (die
Anpassung an die Lohnhöhe wird um ca. 0,5 Prozent pro Jahr gemindert, so
daß auch 2003 die Rentenanpassung wieder hinter der Preissteigerungsrate
zurückbleibt). Aber der neue »Nachhaltigkeitsfaktor« würde
sofort greifen, wenn zum Beispiel wieder eine Million mehr Menschen arbeitslos
werden, mögen auch die Löhne der Kernbelegschaften stabil bleiben
oder gar steigen.
Noch den Bundeskanzler in seiner »Agenda 2010«-Rede vom 14. März
konnte man so verstehen, als wolle er wieder einmal mit der angeblichen »demographischen
Schieflage« argumentieren und daraus den »Kampf der Generationen«
begründen, als er behauptete: »Es wird unausweichlich nötig
sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche und Leistungen,
die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem
Land Zukunftschancen verbauen.« Wirtschaftsverbände und Politiker
behaupten ja schon seit über zehn Jahren, in Deutschland würden zu
wenige Menschen geboren und viel zu viele alt und immer älter. Mit Fakten
und nachprüfbaren Statistiken haben die propagandistischen Horrorvisionen
vom aussterbenden Land und von drohender Gerontokratie wenig zu tun (s. Ossietzky
25/02). Gerade in der Altersgruppe unter 25 Jahren ist die Arbeitslosigkeit
mit 560 000 Registrierten jetzt besonders hoch; tatsächlich suchen sogar
mehr als eine Million in dieser Altersgruppe bisher vergeblich einen Ausbildungs-
oder Arbeitsplatz. Allein diese Zahlen beweisen die Unhaltbarkeit des Geredes,
es seien zu wenige nachgewachsen und deshalb müßten heute schon die
Renten gekürzt werden.
Die Rürup-Kommission mit ihrem neuen »Nachhaltigkeitsfaktor«
muß das gemerkt haben. Das Demographie-Argument tritt in den Hintergrund,
Bezugsgröße sollen nur noch diejenigen sein, die tatsächlich
einen sozialabgabenpflichtigen Arbeitsplatz gefunden haben; die jungen Arbeitslosen
existieren nicht, sind überflüssig, unnütz geboren, eben keine
»Nachhaltigkeitsressource«. Daß das kapitalistische Wirtschaftssystem
jetzt auch in seinen Zentren massenhaft wieder überflüssige Menschen,
ausgeschlossene Menschenmassen produziert, Junge wie Alte, wird als Sachzwang,
als Auswirkung eines Naturgesetzes dargestellt. Ob man die bisher überflüssigen
Jungen noch als Arbeitskraft-Reservearmee brauchen kann und deshalb in irgendwelche
Ausbildungsgänge zwingen muß oder sie verwahrlosen lassen kann, hängt
von der Kassenlage und den Erfordernissen des Marktes ab. Bei den Alten muß
man neu ausloten, ob sie nicht doch noch länger für sich selbst sorgen
können; danach sind sie eigentlich überflüssig, man kann sie
auf Sozialhilfe setzen, neuerdings »Grundsicherung« genannt, solange
man aus Pietät sich das leisten kann.
Wer immer noch meint, wir Menschen seien dazu berufen, aus der selbstverschuldeten
Unmündigkeit einer angeblichen »Natur« des Kampfes aller gegen
alle – und nichts anderes ist der ungezügelte »freie«
kapitalistische Markt – her-auszugehen in ein Reich der Aufklärung
und der Solidarität mit allen als Voraussetzung für die freie Entfaltung
einer/eines jeden, gilt als »Betonkopf«. Rühmen wir jeden Politiker
oder Gewerkschafter, dem heute diese Bezeichnung angehängt wird –
es ist ein Ehrentitel.
Kontext:
Erschienen in Ossietzky 9/2003
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