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Der war im Urlaub als niedersächsischer Ministerpräsident einmal hier einkaufen; seither hing im Laden ein Schröder-Foto. Routinemäßig habe das Kanzleramt vom Rathaus "entsprechende Informationen eingeholt", sagt das Bundespresseamt. Danach habe "nichts dagegen gesprochen", das Schreiben auszufertigen. Denn das Rathaus hatte verschwiegen, daß Gustav W. ein Massenmörder ist. Zufällig erfuhr der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Deutsch-Israeli-schen Gesellschaft (DIG), der Augenarzt Peter Meves, vom Kanzlerbrief an den Feinkosthändler. Er ließ den alten Mann unbehelligt und schwieg. Bei anderen Gelegenheiten schwieg er nicht. Meves gilt in Stade als Störenfried. Fast fünf Jahre lang stritt er mit Politik und Verwaltung um ein Mahnmal für die im Holocaust ermordeten jüdischen Mitbürger. Das hat man ihm bis heute nicht verziehen. Wenn der DIG-Vorsitzende im Rathaus Gespräche führt, fertigt man darüber Aktennotizen an, die dem Stader Tageblatt zugespielt und dort als "kolportiertes neuestes Vorpreschen" von Meves kolportiert werden. Im November 2002 wurde der DIG-Vorsitzende im Tageblatt angeklagt, das Rathaus mit Skandal erpreßt zu haben. Er hatte den Verantwortlichen geraten, einen Vortrag über die Israelitische Gartenbauschule in Hannover-Ahlem still aus dem Programm der Israelischen Kulturwochen im Mai 2003 zu nehmen, wenn sie nicht bereit wären, darüber zu reden, daß 1941 bis 1944 von dort aus Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Gustav W. diente damals in der Ausländerabteilung der Gestapo in Ahlem. Das Rathaus strich den Vortrag, machte aber doch große Worte und lancierte einen Artikel im Tageblatt über den scheinbar sinnlosen Eifer des DIG-Vorsitzenden. Darin kein Wort von den Morden des Feinkosthändlers, nichts vom Kanzlerschreiben. Das laute Schweigen hält an. Einen Leserbrief mit Details aus W.s Dienstlaufbahn lehnte das Tageblatt mit der Begründung ab, er "könnte den Tatbestand einer üblen Nachrede enthalten". Die Beteiligung des Feinkosthändlers an Mordtaten sei "ein offenes Geheimnis" gewesen, stellte der Historiker Hartmut Lohmann fest, als er Ende der 80er-Jahre für ein Buch über die NS-Zeit in Stade recherchierte. Gerüchte gingen um, mancher mied deswegen den Laden. 1962, 1964, 1966 und 1969 hatte die ortsansässige Staatsanwaltschaft die Akten auf dem Tisch, auch das sprach sich herum. Als Täter in Nazi-Deutschland war Gustav W. ein kleines Licht. Keiner, der im Register von Fachliteratur genannt wird. Ein ganz gewöhnlicher deutscher Massenmörder. Eine historisch bislang fast unerforschte Spezies. Männer, die aus kleinbürgerlichem Milieu in die Mordwelt wechselten und, nachdem sie das Geschäft erledigt hatten, spurlos im Alltag verschwanden. Die vor keinem Gericht sagen mußten, was jedem Ladendieb abverlangt wird: Es tut uns leid. Gustav W. gehörte seit 1933 der Allgemeinen SS an. Zwischen März und September 1940 war er als Angehöriger der Waffen-SS in Warschau, während dort die polnische Intelligenz eliminiert wurde. 1941 wurde er zur Gestapostelle Hildesheim versetzt, wo er "in der Kartei beschäftigt" war, wie er in einer Vernehmung 1969 angab. Er war in Pretzsch bei Leipzig dabei, als das vom Reichssicherheitshauptamt handverlesene SS-Personal für die von Amtsleitern befehligten Einsatzgruppen zusammengezogen und auf den Judenmord eingeschworen wurde. Mit den Massenerschießungen der Einsatzgruppen im Rücken der Front gegen die Sowjetunion begann im Sommer 1941 die "Endlösung der Judenfrage". "Ein wanderndes Reichssicherheitshauptamt, eine Gestapo auf Rädern" nannte das Nürnberger Militärgericht diese Einheiten, die täglich in Blut wateten. "Diese ›Schlächtereizüge‹ (...), die für immer den deutschen Namen besudelt haben", kommentierte eine Zeitung den Prozeß gegen sechs Führer des Einsatzkommandos 9 (EK 9) der Einsatzgruppe B vor dem Landgericht Berlin 1962, bei dem Gustav W. - "heute wohlbestallter Kaufmann in Stade" - als einer von 111 Zeugen auftrat. Eineinhalb Jahre blieb W. dem etwa 120 Mann starken EK 9 zugeteilt. Der SS-Scharführer arbeitete im "Polizeireferat", das die Exekutionen vorbereitete, die Opfer selektierte und über die Bluttaten Buch führte. Die Bilanzen des Todes hießen "Ereignismeldungen". 11 449 Opfer wurden von Juni bis Oktober 1941 vom EK 9 an das RSHA reportiert. Das Urteil des Landgerichts Berlin veranschlagt die juristisch sichere Zahl auf 6800 Tote; in seiner mündlichen Begründung schätzte der Vorsitzende Richter 15 000. Gustav W. wurde bei wenigstens zwei Massakern an 200 Juden im weißrussischen Witebsk im August 1941 als Schütze eingesetzt. "Jeder Angehörige des Kommandos mußte wenigstens einmal an einer Erschießung teilnehmen", erklärte der ehemalige Kommandeur Dr. Filbert als Angeklagter. "Die Opfer wurden jeweils zu viert an eine Grube geführt und hineingestoßen", gab ein Gerichtsreporter wieder. "Wenn sie unten aufschlugen, eröffneten die Posten des Einsatzkommandos 9 das Feuer aus Karabinern auf sie. Die Kommandoführer, Greiffenberger und Filbert, standen mit gezogener Pistole am Grubenrand, um Verletzten den ›Fangschuß‹ zu geben. Das sei aber nicht notwendig gewesen, weil die Schützen ›eingeschossen‹ waren, wie Greiffenberger sagte. Ohne die Leichen zu bedecken, seien dann die nächsten Juden auf sie geworfen und erschossen worden." In drei Wochen, die sich das EK 9 in Wilna, Witebsk und Wiljeka aufhielt, sollen über 5000 Juden getötet worden sein. Gustav W., der nur ausnahmsweise schoß, machte gewöhnlich Inventur. Der Kaufmann aus Stade zählte und rechnete, legte Listen und fertigte Protokolle an. Im Verfahren gegen die Kommandeure des EK 9, Schäfer und Wiebens, wurde 1966 ein Zeuge gefragt, wie sie denn kleine Kinder liquidiert hätten. "Na, wie die Katz." Nach einer schweigenden Weile bat der Richter um Erläuterung. "Na, sie wurden mit der einen Hand am Genick gepackt und mit der anderen erschossen." Das Personal bei den Einsatzgruppen wechselte häufig. Auch der geübteste Mörder wird nachlässig. Der Holocaust mit dem Karabiner war kräftezehrend. Laut "Ereignismeldung 92" der Einsatzgruppe A vom 29. September 1941 brachten in einer Aktion ein Führer und zwölf Mann 1025 Juden um. Gustav W. kam im November 1942 an die "ruhigere" Heimatfront des Terrors. Zur Gestapo Hannover. In der Gestapo-Außenstelle Ahlem dient Gustav W. "als Sachbearbeiter für Ausländerangelegenheiten", wie er selbst sagte, "das heißt, ich mußte Vernehmungen durchführen von Personen, die sich des Arbeitsvertragsbruches schuldig gemacht hatten". Am 4. April 1945 traf ein Todesmarsch mit sowjetischen Zwangsarbeitern aus dem "Arbeitserziehungslager" Lahde in Ahlem ein. Vom Chef der Gestapoleitstelle kam der Befehl: Alle erschießen, die nach dem Ende gefährlich werden könnten. Denn das Ende war gewiß. Die US-Armee kesselte die Stadt bereits ein. SS-Obersturmführer Joost, Führer in Ahlem, war sich bewußt, daß diese Morde in letzter Minute den Zorn der Sieger erregen würden. Er verzögerte und drückte sich um den eigentlichen Schießbefehl. Letzte Selektion: 154 Männer und ein russisches Mädchen von 18 Jahren. Joost ließ seinen Leuten die Wahl; wer von ihnen "nicht die Kraft zur Ausführung dieses Befehls" habe, könne anstandslos gehen. Einer tat es. Die übrigen bekamen eine Schachtel Zigaretten. Auch Gustav W., 37 Jahre alt, seit wenigstens vier Jahren im Mordhandwerk. Er präparierte die Grube auf dem Seelhorster Friedhof. Am Sonntag, 6. April, wurden die Gefangenen in Gruppen zu 25 dorthin geführt. Der dienstälteste SS-Mann gab den Schießbefehl und die "Fangschüsse". Die ans Grab tretenden Häftlinge mußten die vor ihnen gefallenen mit Erde bedecken. Gustav W. machte bei Joost Meldung. Er berichtete von Komplikationen. Das russische Mädchen habe einfach nicht sterben wollen. Ein SS-Mann feuerte einmal, zweimal auf sie, aber erst beim dritten Schuß fiel sie. In dem Moment, als die Schützen irritiert waren, griff ein 25jähriger sowjetischer Hauptmann einen Spaten, schlug den SS-Mann nieder, sprang in den nahen Wald und entkam. Vier Tage später nahmen die US-Amerikaner Hannover ein. Vor laufenden Kameras in verordneter Anwesenheit gewöhnlicher Bürger mußten "belastete Nazis" das Massengrab auf der Seelhorst ausräumen. Weit mehr Leichen als befürchtet wurden geborgen, 526 insgesamt. 386 wurden im Trauerzug zum Maschsee gefahren und am Nordufer bestattet. Im April 1947 wurde Gustav W. im "Hanover Gestapo Case No. 1" zu 13 Jahren Haft verurteilt und schon am 13. August 1950 begnadigt, "wegen guter Führung". Zurück in seiner Heimatstadt Stade wird W. ein achtbarer Bürger. "Unberührt kehrten diese subalternen Henker später in ihr Urmilieu beflissener Dienstleistung zurück", empörte sich der Berichterstatter von Christ und Welt beim Prozeß gegen die Chefs des EK 9, Dr. Filbert (Bankfilialleiter), Schneider (Ministerialreferent), Greiffenberger (Buchhalter), Struck (Kriminalrat) und Tunnat (Geschäftsführer einer Handwerkskammer). "Exzesse waren und sind ihrem Wesen fremd. Nahtlos fanden diese Beamten, die Tausenden gehorsam den Tod gereicht hatten, den Anschluß an ihre harmlosen Kollegen, die nur Sparkonten durch Schalter reichen." - Wie sagte Gustav W. selbst? "Wir sind nicht für große Worte und machen von der Schließung kein Theater, wenn Leute sagen ›es tut uns leid‹, ist das genug."
Erschienen in Ossietzky 8/2003 |
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