Ein Haarschnitt

von Peter Maiwald

Meine Zimmernachbarn im Sozialhilfeheim von Tucson, Arizona, empfahlen mir, wenn ich einen Haarschnitt benötigte, sollte ich zu Joe gehen, über die 22. Straße hinweg, über den Parkplatz von fry's Supermarkt, dort würde ich einen billigen und guten Haarschnitt bekommen, sie sagten: fair. Also ging ich - ich war fast der einzige, der ging, in Tucson hat man, um vorwärtszukommen, besser ein Auto - über die breite 22. Straße hinweg, über den Parkplatz von fry's Supermarkt und fand, nach längerem Suchen, ein Friseurgeschäft, das nach einem Friseurgeschäft aussah, das aber nicht Joe's hieß.

Joe erwies sich als ein etwa dreißig Jahre alter Mann mit Muskeln an den Händen und riesigen Fingern, zwischen denen eine Friseurschere fast verschwand. Doch, doch, sagte Joe auf meine vorsichtigen Witze, er sei Friseur, er habe das gelernt, allerdings sei er hier nur von neun Uhr bis zwölf, dann fahre er mit seinem Pickup 45 Meilen zu einer Tankstelle, denn er sei eigentlich Automechaniker. Dort arbeite er bis achtzehn Uhr. Dann fahre er 70 Meilen in die entgegengesetzte Richtung zu einer "Hamburger"-Braterei, wo er bis zehn Uhr abends "Hamburger" brate. Er brauche das, sagte Joe, er habe eine Frau und drei Kinder. Kommst du mal, Keith, sagte Joe. Keith kam. Es war ein schöner achtjähriger Junge wie alle achtjährigen Jungen auf der ganzen Welt.

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Jerry Munoz geht sehr schnell. Es sieht so aus, als würde er dem Photo, das von ihm gemacht wird, am liebsten entgehen. Jerry Munoz ist vierzig Jahre alt. Er ist Automechaniker. Er hat eine Frau und vier Kinder. Er verdient 250 Dollar die Woche. Monatlich muß er 700 Dollar Miete zahlen. Da bleibt nicht viel. Allein seine drei schulpflichtigen Kinder benötigen jeden Tag 1.50 Dollar für die Schulspeisung. Es reicht hinten und vorne nicht.

Da hat er seinen Widerwillen und seinen Stolz überwunden , ist zur "Casa Maria"-Suppenküche auf der südlichen dritten Straße, Nr. 1501, gefahren und hat sich angestellt in der Reihe der Obdach- und Arbeitslosen. Und hat eine Plastiktüte mit Lebensmitteln erhalten. Ich schäme mich, hat Jerry Munoz gesagt, ich arbeite doch. Ich habe es für meine Kinder getan. Brian Flagg von der "Casa Maria"-Suppenküche , die jeden Tag 600 Essen und 200 Lebensmitteltüten ausgibt, sagt: Früher hatten wir es meist mit Obdach- und Arbeitslosen zu tun, jetzt haben wir immer mehr Arbeitende, die mit ihrer Arbeit nicht auskommen.

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Joe, mein Friseur, Automechaniker und "Hamburger"-Brater, schlägt mir eine unentgeltliche Kopfhaut-Massage vor. Ich verneine. Dann bietet er ein Parfüm an, das mir garantiert alle Frauen zu Füßen legt. Ich glaube an das Parfüm, aber nicht an mich. Der achtjährige Keith fegt derweil meine abgeschnittenen Haare zusammen. Joe empfiehlt mir ein Öl, das mich jünger machen würde. Ich rufe: Bezahlen, und Joe sagt: sieben Dollar. Oder acht, ich weiß es nicht mehr. Ich gebe ihm einen zehn Dollar-Schein und bedanke mich herzlich.

Ich bin schon auf dem Parkplatz vor dem fry's Supermarkt, als mich Joes Stimme erreicht. Ich drehe mich um. Joe sagt: Mister - ein Wort, das ich eigentlich nicht erwarte. Neben ihm steht der achtjährige Keith und wedelt mit zwei oder drei Dollarscheinen. Mister, sagt Joe, Sie kriegen noch was zurück. Ich sage: Nein. Oder: It's allright. Oder was mir sonst noch in meinem schäbigen Englisch einfällt. Und ich wedle entsprechend mit meinen Händen. Joe schreit dreißig oder vierzig Meter über den Parkplatz: Ich schäme mich, und Keith wedelt mit zwei oder drei Dollarscheinen, und ich schäme mich auch.

Erschienen in Ossietzky 8/2003