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Es ist also sicher falsch, wenn ich am Beginn meiner Laudatio auf Hanne Hiob Galilei für Brecht sprechen lasse. In einer frühen Fassung des Stücks antwortet Galilei seinen Schülern, die ihm vorwerfen, lange geschwiegen zu haben, obwohl er die Wahrheit wisse, mit einer kleinen Geschichte über den kretischen Philosophen Keunos, der bei den Kretern wegen seiner freiheitlichen Gesinnung sehr beliebt war: "Als über Kreta eine fremde Gewaltherrschaft hereinbrach, erschien auch im Haus des Keunos einer der fremden Agenten mit einer Bescheinigung, daß jedes Haus, das sein Fuß betrete, und jedes Essen, das er begehre, ihm gehöre und daß jeder Mann, dem er es befehle, ihm zu dienen habe. Und er fragte Keunos: ›Wirst du mir dienen?‹ Keunos überließ ihm sein Haus, bewirtete ihn und vertrieb sogar die Fliegen, wenn der Agent schlief. Und das sieben Jahre lang. Als der Agent vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen dick geworden war, starb er. Keunos wickelte ihn in eine Decke, schleppte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und sagte: ›Nein‹." 1932 erhält Brecht einen Brief vom Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt. Der Absender, Gustaf Gründgens, bat Brecht darin um Erlaubnis, die "Heilige Johanna der Schlachthöfe" aufführen zu dürfen. 1949, sechzehn Jahre waren ins Land und in die Welt gegangen, antwortete Brecht: "Sehr geehrter Herr Gründgens! Sie fragten mich 1932 um Erlaubnis, ›Die Heilige Johanna der Schlachthöfe‹ aufführen zu dürfen. Meine Antwort ist: Ja." Mindestens in einem stimmen Keunos und Brecht überein: Sie ließen sich Zeit für ihre Antworten, Brecht sogar die doppelte. Und statt des Nein des Keunos sagte er "ja". Diesem Ja verdanke ich meine Bekanntschaft mit Hanne Hiob, an der mir auffiel, daß sie nicht jedem schon bei der Begrüßung zu erkennen gab, Brechts Tochter zu sein. Am 30. April 1959 war die Uraufführung der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" am Hamburger Schauspielhaus. Gründgens führte Regie, Hanne Hiob spielte die Johanna, Hermann Schomberg den Pierpont Mauler. Ich war Zuschauer. Helene Weigel, meine Intendantin, hatte mich mit nach Hamburg genommen, wahrscheinlich weil sie beabsichtigte, das Stück irgendwann auch am Berliner Ensemble aufzuführen. Ich war überwältigt. Was ich sah, war ein Glanzstück der Theaterkunst, eben Gründgens. Hier funktionierte alles: das Theater ebenso wie die Börse, die es darstellte. Im großen Stil der Klassik gingen hier die Recken, die um Fleischkonserven und Rendite fochten, aufeinander los, erwartend die Schicksalsschläge des Aufstiegs oder Falls am Fleischmarkt. Die Kanonisierung der goldenen Weltordnung am Ende des Stücks hatte - trotz melancholischer Ironie - eine solche Wucht, daß man als Zuschauer mit hinein gezogen wurde. Der glänzende Selbstlauf von Börse und Kapital auf der Bühne und die Verklärung durch Moral und Religion ergriffen einen am Ende so sehr, daß man selbst zu glauben begann, Fleisch - um das sich hier alles dreht - ist nicht da, Menschen zu versorgen, sondern hat dafür zu sorgen, daß der Fleischpreis nicht fällt. Man begann, den Fleisch-Giganten Pierpont Mauler zu verstehen, wenn er, um in seinen Fabriken den Nutzen der Produktion zu erhöhen (heute würde man sagen: um zu rationalisieren), die Produzenten, die Arbeiter also, aussperrt. Die Erhaltung des "Standorts", wie man heute sagt, schien wichtiger als die Menschen, die dort stehen. Und wie heute, wenn Abbau der Tarife "Flexibilisierung", Fortfall sozialer Leistungen "Liberalisierung" genannt wird und an der Börse drohende Verluste "Gewinnwarnungen" heißen, ist die heile Weltordnung durch einfache Umbenennung wiederhergestellt. Alle Fragen sind beantwortet. Das Ende oder sogar die Vollendung der Geschichte ist erreicht. Alles ist, wie es ist. Es gibt nichts zu verändern. Gewinnmaximierung ist Gottes letztes Wort. Aber nicht dieser Salto mortale, ausgeführt mit allen Mitteln großen Theaters, war die Faszination der Aufführung, sondern eigentlich das Gegenteil: eine kleine, schmale, scheue und doch resolute Person, die unbeeindruckt von der donnernden Rechtfertigung der Fleischgiganten und trotz des Gewichts ihrer wirtschaftlichen Argumente dem gewaltigen Mauler eine einfache Frage stellt: "Mauler, warum sperrst du die Arbeiter aus?" Das war nicht bös gefragt oder gar ironisch, nein, freundlich, mit einem leichten Lächeln um den Mund, eben als einfacher Wunsch, etwas zu erfahren, was sie, Johanna, einfach nicht versteht: warum man, um mit den Fabriken Erfolg zu haben, die Arbeiter aussperrt, so daß die Fabriken leerstehen. Diese einfache Frage, einfach gestellt, bringt das ganze selbstgefällige Gebäude von Börse, Markt und Profit ins Wanken. Und es müssen alle nur denkbaren und undenkbaren Kniffe der Moral samt Religion aufgeboten werden, um die heile Weltordnung wieder aufzurichten. Johanna aber wird auf ihrem steinigen Weg der Erkenntnis etwas erfahren müssen, das sie nicht überlebt: Sie verhalf Mauler zum Erfolg, um den Ausgesperrten zu helfen; aber die Ausgesperrten sind nicht wegen Maulers Flaute ausgesperrt, sondern wegen seines Erfolgs, der die Arbeitslosen braucht, um Erfolg zu sein. Indem sie im guten Glauben Mauler half, wurde sie zum Schaden der Armen. Sicher, dies alles steht im Text, und ich kannte das Stück recht gut. Aber wie Hanne Hiob mit ihrem leichten Lächeln und den neugierigen Augen ihre Fragen gerade dort stellte, wo alles geklärt schien, und wie sie sich wunderte über das Selbstverständliche, das andere gar nicht mehr bemerken, entdeckte auch ich etwas, was ich kannte, aber noch nie so bewußt erlebt hatte: die einfache Wurzel des Brecht-Theaters. Ohne Abstriche von Brechts Theorie zu machen, führte Hanne Hiob sie auf etwas Konkretes zurück: eben Fragen zu stellen, wo alles geklärt scheint, und sich zu wundern über das, was selbstverständlich ist. Hanne Hiob hat das, worum sich andere Theatermacher krampfhaft bemühen, die Verfremdung nämlich, zu ihrer ureigensten Sache gemacht. Mir schien, sie spielte nicht - Brecht möge mir verzeihen - die Johanna Dark von den Schwarzen Strohhüten, sie war sie. Oder genauer: Johanna war Hanne Hiob, wie sie leibt und lebt. Später, als ich am Berliner Ensemble selbst die "Heilige Johanna der Schlachthöfe" mit Hanne Hiob als Johanna inszenierte, mußte ich meinen Irrtum korrigieren. Das scheinbar Einfache, was an ihr ins Auge springt, ihre Bescheidenheit und ihre - wie es Brecht in seiner letzten Zeit nannte - Naivität sind nicht naturgegebene Eigenschaften der Hanne Hiob, es sind - ihre Persönlichkeitsstruktur vorausgesetzt - kunstvolle Mittel. In ihrer Arbeits- und Spielweise fand ich bestätigt, was Brecht immer vermutete: Wirkliche Naivität, ohne die es keine echte Kunst gäbe, schließe Intelligenz und Analyse nicht aus, im Gegenteil, sie setze sie voraus. Nur durch kunstvolle Naivität gelinge dem Theater ein Wunder: komplizierteste Vorgänge umzuarbeiten in einfache, eben naive Impule: in Spaß, Neugier, Zorn, Erstaunen, Ermuntern, Empören, in Zweifel, Weinen und Lachen, Lust und Trauer, ja, in Erschrecken, denn auch der Schreck war für Brecht ein Vorbote der Erkenntnis. Aber alle Kunst, deren Ausgangspunkt die kritische Haltung ist, gewinnt ihre explosiven wie zarten, ihre ästhetischen wie politischen Impulse aus einer anderen Kunst: der Kunst, Fragen zu stellen. Das können Menschheitsfragen sein wie die um Krieg und Frieden (besonders in Zeiten, wo Verursacher von Kriegen wieder beginnen, von ihnen wie von Naturkatastrophen oder Gotteswünschen zu sprechen). Und es können Fragen des Alltags sein, darunter die wichtigste: wie der Mensch dem Menschen ein Helfer sein kann und kein Schlächter. Für Hanne Hiob, befähigt und geübt, solche Fragen zu stellen, war es ein konsequenter Weg, der sie von der Bühne auf die Straße führte. Sie, die Schauspielerin, berühmt seit vielen Jahren und in vielen Rollen, machte einen Gedanken Brechts zur Realität: daß Berühmtheit ein Kampfposten sein kann. Ja, selbst das, was sie nicht immer schon bei der ersten Begrüßung erwähnt, nämlich Brechts Tochter zu sein, wurde zu einer Art Markenzeichen. Es half ihr, sich auf den Straßen und Marktplätzen Gehör zu verschaffen. Denn die Bedrohung der Menschheit durch Kriege, gegen die, wie Brecht schrieb, die bisherigen wie armselige Versuche sind, durch Militär und Rassenwahn, durch Rückfälle der Politik ins Mittelalter der Brutalität und Absurdität hatte Dimensionen angenommen, daß man diese Fragen, zu deren Lösung sehr viele Menschen nötig sind, nicht mehr nur den "fensterlosen Räumen", wie Brecht einmal Theater nannte, überlassen sollte. Der "Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy", der, angeführt von Hanne Hiob und ihren Mitstreitern, mehrmals zum Schrecken von Polizei und Politik Deutschland durchquerte, ist für mich eigentlich nicht "Brecht unliterarisch verwendet", wie der Titel der Ausstellung über Hanne Hiob anläßlich ihres 80. Geburtstags im Münchener Kulturzentrum Gasteig (bis 30. März) lautet. Geht man von Brechts Literaturbegriff aus - er sprach auch von "eingreifendem Denken" - sind Unternehmungen wie der "Anachronistische Zug" oder die "Legende vom toten Soldaten", aufgeführt auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, Beispiele für einen Umgang mit Literatur, wie ihn Brecht sich wünschte. Und ich kann es nur mit Hanne Hiobs Bescheidenheit erklären, daß diese Ausstellung nicht "Brecht literarisch richtig verwendet" heißt. Auf einer Straße - 1935 in Moskau - sah Brecht seinen Literaturbegriff verwirklicht. Er schrieb: "Besonders fiel mir auf, wie stark das Wort die Massen ergriffen hat, wie es durch Losungen, Zitate, Bücher, Zeitungen, Versammlungen in ihr Bewußtsein eingedrungen ist. Ich möchte es die Literarisierung der Massen nennen. Es sind ja keinesfalls nur Worte, denn es folgt ihnen ständig die Erkenntnis, die Tat." An diese Überlegungen Brechts möchte ich anknüpfen, wenn ich auf Hanne Hiobs Geburtstag zu sprechen komme. Für ihren Vater waren Geburtstage willkommene Anlässe, nicht von Geburtstagen zu sprechen, stattdessen lieber von Arbeit, besonders der künftigen. Es ist also keine Vermessenheit, wenn ich als Geburtstagsgruß zwei persönliche Wünsche äußere. In Bremen gibt es die Gruppe "Roter Pfeffer". Hanne Hiob ist die "Schirmherrin". Ich arbeite ab und zu mit der Gruppe. Nach Brechts "Der Brotladen", der im Bremer Arbeitsamt seine Premiere hatte, und nach Brechts "Koloman Wallisch Kantate", zuletzt vor Gewerkschaftern in der Berliner Akademie der Künste aufgeführt, schlug ich der Gruppe eine szenische Lesung von Brechts "Meti - Buch der Wendungen" mit Hanne Hiob vor. Das "Buch der Wendungen" könnte in Zeiten, die zum Ende aller Geschichte erklärt wurden, um die Leute vergessen zu machen, daß auch diese Zeiten änderbar sind und Unveränderbares nur das Lange-nicht-Geänderte ist, politischer und poetischer Zündstoff sein und nicht nur Publikum, sondern auch die Spieler in Bewegung bringen. Mein zweiter Wunsch. In seiner Beobachtung auf den Straßen Moskaus 1935 begeisterte sich Brecht in einer für ihn seltenen Art, wie sehr "das Wort die Massen ergriffen" habe und es "keinesfalls nur Worte (sind), denn es folgt ihnen ständig die Erkenntnis, die Tat". Ähnlich dachte Ludwig Wittgenstein: "Worte sind Taten." (Wolfgang Fritz Haug wies in seinem Buch "Philosophieren mit Brecht und Gramsci" auf Ähnlichkeiten zwischen Brecht und Wittgenstein hin.) Man könnte Wittgenstein heute ergänzen: "Worte sind Taten und Untaten." Worte können die "Gegenwart des Gedankens" sein, Worte können aber auch Denken verhindern. Brecht machte sich 1934 einmal die Mühe, Reden von Nazigrößen nicht auf ihren Inhalt hin (den es sowieso nicht gab) zu untersuchen, sondern auf den Gebrauch von Worten oder "Unwörtern", wie man heute sagt. Und er schlug vor, auf das Wort "Volk" eine Zeitlang zu verzichten und stattdessen "Bevölkerung" zu sagen, um vom Mythos zu Realitäten zu gelangen. Ich könnte mir vorstellen, daß die freundliche und unerbittliche Hanne Hiob einmal eine Revue nur über Worte macht. Über Worte, die die Menschheit voran, und solche, die sie in den Abgrund treiben. Bestimmt gehört das "Ca ira" von 1789 dazu und Büchners "Friede den Hütten - Krieg den Palästen". Aber auch Kaiser Wilhelms "Jeder Schuß ein Russ, jeder Stoß ein Franzos" oder "Serbien muß sterbien". Brechts "Vorwärts und nicht vergessen" wäre zu nennen und Che Gueveras "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker". Aus jüngster Gegenwart könnte man die Frage stellen, ob das "I have a dream" nicht wesentlich besser klingt als "The game is over". Die sterbende Johanna sagt denen, die sie vor ihren eigenen Irrtümern bewahren möchte: "Sorgt doch, daß ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlaßt eine gute Welt." Ich möchte mit einem, etwas bescheideneren Wort enden, denn wenn wir auf Menschen wirken wollen, steht uns Bescheidenheit gut an, wie Kunst und Leben der Hanne Hiob zeigt. Es ist eine Losung, die ich bei der Demonstration der 500 000 in Berlin sah: "Eine andere Welt ist möglich."
Erschienen in Ossietzky 6/2003 |
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