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War is over - happy Christmas?

Für Afghanistan war 2002 das Jahr der verpaßten Möglichkeiten

von Jan Heller

Die Taliban sind weg. Und doch deutet der jüngste Jahresbericht von Human Rights Watch an, daß eben nicht alles gut geworden ist.

Ein afghanischer Exilant, der neulich nach 30 Jahren nach Hause kam, erzählte, wie ihm ein Taxifahrer das Wort 'Freiheit' definierte: Er könne wieder sein Taxi fahren, ohne Angst, daß die Taliban es requirieren. Er würde nun beim Fahren so laut Musik hören, wie er wolle. Auch seinen Zwangszottelbart, den er als widerlich empfand, habe der ehemalige Uni-Dozent für Literatur nun abrasieren können.

Die Taliban sind weg. Alles hätte gut werden sollen: Die Afghaninnen haben wieder Luft zum Atmen, dürfen arbeiten, studieren, zur Schule gehen. Sie organisieren sich in Frauenorganisationen. Die Infrastruktur des al-Qaida-Terrornetzwerks in Afghanistan ist zerstört. Es ist kein neuer Bürgerkrieg ausgebrochen; die Kämpfe in einigen Regionen sind nicht mehr als Scharmützel. Das Land ist nicht mehr isoliert von der Welt, besitzt wieder eine Regierung mit gewisser Legitimation. Eine neue Währung wurde eingeführt. Zwei Millionen Flüchtlinge kehrten in ihre Heimat zurück. Ein für alle verbindlicher gesetzlicher Rahmen inklusive einer neuen Verfassung ist in Arbeit. Die Zivilgesellschaft belebt sich, politische Gruppen und NGOs schießen wie Pilze aus dem Boden. Und die internationale Gemeinschaft hat sich verpflichtet, beim Wiederaufbau zu helfen. Wenigstens in Kabul stellt sie eine Sicherheitstruppe, die den meisten Afghanen weitaus mehr Vertrauen einflößt als die Krieger einheimischer Provenienz. Die Nachbarländer unterzeichneten darüber hinaus am 22. Dezember 2002 mit Karzai die 'Kabuler Deklaration über gutnachbarliche Beziehungen' und verpflichteten sich, jegliche Einmischung zu unterlassen.

Die Taliban sind weg. Und doch deutet der jüngste Jahresbericht von Human Rights Watch an, daß eben nicht alles gut geworden ist: "Wertvolle Chancen, Warlords zur Seite zu drängen, Milizen zu entwaffnen und Waisen, Witwen, Behinderte und paschtunische Minderheiten zu schützen, sind in Afghanistans erstem Nach-Taliban-Jahr vergeudet worden." Das deckt sich mit der Einschätzung von UN-Mitarbeitern, Diplomaten und vor allem den meisten Afghanen. Hinter jedem Freudenseufzer steckt ein dickes Aber.

Die Schatten der Bilanz

"Afghaninnen haben wieder Luft zum Atmen." - Aber: Frauen haben Mühe, sich ihre alten Arbeitsplätze wieder zu erkämpfen, denn dorthin drängen die von drei vergangenen Regimen (Monarchie und Republik bis 1973, 'Kommunisten' bis 1992, Mudschahedin) ernannten Beamten zurück. Da in vielen Gegenden Mädchenschulen Anschlagsziele sind, behalten Eltern ihre Töchter lieber zu Hause. An einigen Fakultäten, so in Kabul und Jalalabad, bestimmen Rückkehrer aus Pakistan das Klima, die dort oft nur eine rückwärts gewandte Madrassa-Bildung erhalten hatten. Auch viele der jetzt herrschenden Ex-Jihadis sind nicht besonders freundlich gegenüber den Rechten von Frauen eingestellt.

"Das al-Qaida-Terrornetz und die Taliban sind zerschlagen." - Aber: An ihre Stelle sind die alten Warlords getreten, die ebenfalls politische Gegner und Andersdenkende verfolgen. Human Rights Watch etwa widmete dem Herater Warlord Ismail Khan zwei separate Berichte, in denen sein Regime als 'nicht wesentlich andersartig als das der Taliban' beschrieben wird. Die Administration in Kabul installierte mit dem 'Amt für islamische Führung' (Ershad-e Islami) eine abgeschwächte Variante der berüchtigten Taliban-Religionspolizei. Immerhin sehen sich Warlords wie Dostum und Khalili genötigt anzukündigen, sich als politische Führer neu zu profilieren. Kriterium dafür sollte sein, daß sie ihre Milizen auflösen und ihre Finanzen auflösen.

"Eine neue Währung wurde eingeführt." - Aber: Die Wiederherstellung der Währungshoheit der Regierung und die Ausschaltung der Gelddruckereien einiger Warlords geschah zu dem Preis, daß letztere vorher noch einmal ihren Ausstoß erhöhten. Die Warlords konnten das Schwarzgeld umtauschen und de facto legalisieren. Es fehlte an Mitteln, diese Scheine zu identifizieren.

"Die Regierung besitzt wieder eine gewisse Legitimation." - Aber: Mit der Souveränität hapert es. Die Loya Jirga im Juni wurde von den Warlords - und den Amerikanern - "gekapert" und weitgehend in ihrem Sinne gelenkt. Die Wahl Karzais war alles andere als demokratisch, die Minister seines Kabinetts wurden erst gar nicht zur Abstimmung gestellt. Schließlich sorgten frühere Jihad-Führer dafür, daß der Übergangsadministration das Attribut 'Islamisch' vorangestellt wurde - ein klarer Verstoß gegen das Bonner Afghanistan-Abkommen. Außerdem genießt die US Army eine Art Exterritorialität auf ihren Basen auf den Flughäfen von Bagram bei Kabul, Kandahar und demnächst wohl auch von Schindand, südlich von Herat nahe der iranischen Grenze. Diese Enklaven sind auch für Einsätze über Afghanistan hinaus nutzbar.

"Zwei Millionen Flüchtlinge sind in ihre Heimat zurückgekehrt." - Aber: Jeder zehnte von ihnen ging wieder zurück nach Pakistan, weil es in Afghanistan am Grundlegendsten fehlt: Nahrung, Wohnung, Bildung, Arbeit, Infrastruktur. In Afghanistan sind 1,7 Million Menschen von Nahrungshilfe abhängig, sieben Millionen droht Hunger. Der Fluß der versprochenen Auslandshilfe ist bei Weitem zu langsam.

"Ein neuer gesetzlicher Rahmen ist in Arbeit, die Zivilgesellschaft belebt sich." - Aber: Die UNO, vom Bonner Abkommen mit der Aufsicht über den Friedensprozeß betraut, hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Die Unabhängige Verfassungskommission wurde zwei Monate zu spät einberufen, und ob ihr Entwurf öffentlich diskutiert wird, ist fraglich. Sie sah darüber hinaus der Kommission für Gesetzesreform, die mit Staatsbediensteten überfrachtet wurde und monatelang herumsaß, tatenlos zu, genauso wie der Kommission für den Staatsdienst, die die Monopolisierung des Apparats durch eine Fraktion brechen sollte. Dabei sind diese Gremien das Kernstück in der Nach-Loya-Jirga-Phase des Friedensprozesses. Sie entscheiden, ob Afghanistan sich hin zu einer offeneren Gesellschaft bewegt oder erneut unter ein islamistisches Regime fallen wird. Alternative Gruppen in Kabul sehen sich mit Überwachung und Drohungen konfrontiert und können außerhalb der Hauptstadt nur im Untergrund agieren. Die Sicherheitsorgane betrachten Proteste weiterhin nicht als legitim, sondern als Sicherheitsrisiko, wie die Schüsse auf Studenten im November 2002 zeigten.

"Die ISAF sichert wenigstens Kabul" und "Die Nachbarländer verpflichteten sich zur Nichteinmischung." - Aber: Daß die ISAF infolge von Finanzproblemen und mehr noch eines Mangels an politischem Willen nicht über die Hauptstadt hinaus ausgedehnt wurde, hat das Vertrauen weiter Bevölkerungskreise in den Friedensprozeß untergraben. Die Warlords erhielten freie Hand. Und: Jeder weiß, daß Iraner und Russen weiterhin Fraktionen der Nordallianz finanzieren und bewaffnen, und daß Pakistan nach dem Sturz der Taliban wieder Partner gesucht und auch gefunden hat.

Die Mullahs und das "Vitamin B-52"

Nicht nur die verpaßten Möglichkeiten plagen die afghanische Bevölkerung, sondern noch ganz andere Probleme, die in jener anfangs ausgeführten Erfolgsstatistik übergangen werden. Noch am wenigsten Sorgen bereiten den meisten dabei die Taliban-Überreste, die sich in den Bergen Ost- und Südost-Afghanistans herumtreiben. Gestützt auf Rückzugsgebiete in Pakistan, feuern sie beinahe täglich auf US-Amerikaner, ISAF und 'Regierungstruppen', verbreiten antiwestliche Flugblätter, attackieren Mädchenschulen und sichern sich damit eine gewisse Dauerpräsenz auf den Agentur-Tickern. Aber sie haben weder eine Massenbasis - und werden sie auch nicht mehr erlangen. Zu finster war ihr Regime auch für die meisten jener, die sie anfangs aus Verzweiflung und Optimismus unterstützt hatten - noch sind sie in der Lage, militärisch am wirklichen Kräfteverhältnis auch nur ein Jota zu ändern.

Bedrohlich für Afghanistan sind vor allem zwei Faktoren: die internationale Situation mit dem drohenden Irak-Krieg und die Refundamentalisierungstendenzen, die aus dem Innern oder dem Umkreis der Übergangs-Administration erwachsen. Beide hängen miteinander zusammen. Je mehr durch einen Irak-Krieg die internationale Aufmerksamkeit für das Land sinkt, desto mehr Spielräume eröffnen sich reaktionären Kräften, die nach wie vor bis an die Zähne bewaffnet sind und die politische Hegemonie ausüben. Islamische Fundamentalisten vom Schlage Sayyafs, Rabbanis und Fahims leisten derzeit wohl Extra-Gebetsschichten, damit die Amerikaner nach Bagdad weiter ziehen. Denn fragt man Afghanen auf dem Basar, was die Fundamentalisten bisher zügele, machen sie nur eine vielsagende, kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger nach oben - 'Vitamin B-52'. Auch wenn die Mullahs der Jihadi-Parteien, die offiziell noch mit den USA verbündet sind, freitäglich von 'Besatzung' und 'fremden Truppen' predigen, hat diese Stimmung noch nicht in die Allgemeinheit durchgeschlagen.

Die Tendenzen zur Refundamentalisierung sind auch die Hauptsorge der demokratisch gesonnenen, fortschrittlichen und linken Afghaninnen und Afghanen (auch die gibt es immer noch). Sie präsentieren die Stimmung der schweigenden, weil eingeschüchterten Mehrheit, die die Nase voll hat von Krieg und 'Tufangsalaran' - 'die mit der Waffe herrschen', den Warlords und lokalen Kommandanten der Jihadi-Gruppen. Doch die gaben in der Loya Jirga, der traditionellen Notabelnversammlung im vorigen Juni, den Ton an. Sie interpretierten ihren Machtkampf mit den Taliban, den erst US-Bomben zu ihren Gunsten entschieden, als 'Widerstand gegen Terroristen' um und versorgten sich so mit einer Machtlegitimation. Einer ihrer Vertreter, der Warlord von Mazar-e Scharif Atta Muhammad, erklärte, daß nur die Mujaheddin das Recht hätten, Afghanistan zu regieren. Zu Gunsten der Warlords wirkte sich aus, daß das in Washington tonangebende Militär sie als Verbündete gegen al-Qaida brauchte, dafür gut bezahlte und ihre Position damit wieder stärkte. Dabei ist zum Beispiel ihre Frauen- und Menschenrechtsbilanz nicht besser als die der Taliban. Der einzige Unterschied: Unter ihrer "Regierung" von 1992 bis 1996 herrschte reine Willkür, während die Taliban mit einer Flut von Dekreten, Fatwas und Fermanen eine systematische Herangehensweise verfolgten - Emma Bonino sprach von 'Gender Apartheid'.

Doch wie schon ein gewisser Uljanow formulierte: 'Das Kriterium für die Wahrheit ist die Praxis.' Die Taliban kamen schlicht mit der Durchsetzung nicht hinterher, und der Widerstandsgeist der Afghanen war auch nach 25 Jahren Revolution, Krieg und Bürgerkrieg nicht tot zu kriegen. So stiegen trotz Verbots Drachen in den blauen Himmel von Kabul und Herat, bolzten Jugendmannschaften in den Parks, blühte das Reparaturhandwerk für Fernsehgeräte. Bodybuilder und Boxer trainierten in nur mäßig getarnten Clubs, Frauen wagten sich ohne männliche Begleitung auf den Basar. Im Untergrund florierten Mädchenschulen, Videoringe, ein regelmäßiges Pamphlet mit ätzenden Anti-Talib-Karikaturen, Schnapsbrennereien - und illegale Zirkel, die versuchten, den Gedanken an Demokratie und Menschenrechte am Leben zu halten.

70 Millionen Dollar für die Warlords

Daß die Fortschritte in Afghanistan hinter den Möglichkeiten zurückblieben, ist nicht zuletzt den USA und den von ihr dominierten Vereinten Nationen geschuldet. Die ersten gravierenden Fehler wurden bereits vor und während der Bonner Konferenz Ende 2001 gemacht. Man hatte nur die siegreiche Kriegspartei (dominiert von der Panjshiri-Gruppe) eingeladen, das Königslager sowie zwei kleinere Fraktionen, deren Bedeutung allein aus ihrer Finanzierung aus Islamabad bzw. Teheran erwuchs. Das demokratische Lager, im Westen weitgehend unbekannt, blieb außen vor. Auch ein Reihe von Stammesführern, die sich im Vorfeld der Bonner Konferenz im pakistanischen Quetta getroffen und einen Platz am Tisch eingefordert hatten, blieben unberücksichtigt. Immerhin sorgte eine Minderheit in UNO und Auswärtigem Amt dafür, daß wenigstens fünf demokratische Gruppen je einen Vertreter als Beobachter nach Bonn entsenden konnten - ihr erster öffentlicher Auftritt überhaupt. Zu den Fünfen gehörten drei Aktivisten aus dem afghanischen Untergrund sowie zwei Exilanten; einen davon, den früheren linksgerichteten Guerillaführer Samiullah Safi, hatte die Quetta-Versammlung zu ihrem offiziellen Sprecher ernannt.

Unmittelbar nach Bonn akzeptierte der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, daß Kabul nicht wie vereinbart entmilitarisiert und die Warlords ihre Milizen nicht 'unter das Kommando und die Kontrolle der Interimsverwaltung' stellen mußten. Sie wurden als Hilfstruppen gegen al-Qaida und die Rest-Taliban gebraucht, und Washington zahlte ihnen 70 Millionen Dollar allein in den ersten Kriegswochen, meldete die 'Washington Post'. Die Nordallianz-Milizen erschlichen sich so die Legitimation als 'Regierungsarmee' bzw. '-polizei'. Der Aufbau einer überfraktionellen 'nationalen' Armee geht dagegen nur im Schneckentempo voran, weil Warlords wie Verteidigungsminister 'Marschall' Fahim ihn sabotierten. Er könnte, wie AFP neulich meldete, bis 2009 dauern.

Schließlich ist trotz Milliarden-Zusagen der Wiederaufbau nicht sichtbar angelaufen. Mit arbeitsintensiven Projekten müßten aber gerade die waffenfähigen Jahrgänge aus den Milizen der Warlords ins legitime Erwerbsleben zurück geholt werden. Hier schließt sich ein Teufelskreis: ohne Arbeitsbeschaffung keine sinnvolle Demobilisierung, ohne Demobilisierung keine Sicherheit, ohne Sicherheit keine Hilfsgelder. Durchbrechen kann ihn nur der Westen: 'Investieren in Sicherheit durch Wiederaufbau' müßte die Devise lauten. Das kann man nach dem 11. September auch dem Steuerzahler klarmachen. Gleichzeitig sollte man nicht der Forderung nachgeben, die Aufbauhilfe ausschließlich der Kabuler Administration zukommen zu lassen. Sie ist zum einen mit Warlords gespickt. Zum anderen sprechen afghanische Nichtregierungsorganisationen von ausufernder Korruption.

Völlig vernachlässigt wird im Westen, daß der von Bonn angemahnte demokratische Rahmen auch lebensfähige demokratische Akteure braucht. Unterstützung für die neuen politischen Gruppen - wie einst für die Opposition in Osteuropa - blieb bisher aber fast völlig aus. Tritt hier nicht schnellstens ein Umdenken ein, werden es die nach wie vor gut versorgten Fundamentalisten dem Westen bei den Wahlen 2004 danken.



Jan Heller ist freier Journalist und reist regelmäßig nach Afghanistan.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 267 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3e748e2407f08/1.phtml

sopos 3/2003