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Hans Eichel mag, wie eine Panorama-Sendung im vorigen Jahr bildhaft zeigte, morgens noch so geschwind an seinen Arbeitsplatz eilen, in der knappen Minute seines Laufs vom Dienstwagen ins Büro sind die Schulden schon wieder um 80 000 Euro gewachsen. Jeden Tag muß er erwarten, auf seinem Schreibtisch neue Post aus Brüssel zu finden, in dem die EU-Kommission Deutschland wegen der Überschreitung der Drei-Prozent-Defizit-Grenze rügt. 2002 erreichte die Neuverschuldung nahezu vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Bundesrepublik, das ehemalige Wirtschaftswunderland, der arrogant-gestrenge Wächter der Euro-Stabilität, ist zum schwächelnden Sorgenkind der Währungshüter in der Frankfurter Europäischen Zentralbank geworden. Die rot-grüne Regierung und die schwarz-gelbe Opposition liegen im Dauerstreit über die Ursachen der Finanzmisere. Gegenseitig schieben sie sich die Verantwortung zu. Nur in einem sind sie sich mehr oder weniger einig: Die hohe Staatsschuld ist vor allem das Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung, ihr rasantes Wachstum eine Folge der enormen Transferleistungen aus den alten in die Bundesländer, die sie immer noch als neu bezeichnen. Hauptursache ist das DDR-Erbe, schuld ist der Osten. Nun kann freilich niemand bestreiten, daß Ostdeutschland dem Bundesfinanzminister teuer zu stehen kommt. Die Aufwendungen für Investitionen wie z. B. für den staatlichen und kommunalen Straßenbau und öffentlich geförderte Häuserrenovierung sind beträchtlich, ihre Ergebnisse nicht zu übersehen. Viele Milliarden Euro müssen jährlich in östliche Richtung gelenkt werden, angeblich um doch noch den selbsttragenden »Aufschwung Ost« zu bewirken; in Wahrheit dienen sie vorrangig dazu, die schwerwiegenden sozialen Folgen der Anschlußpolitik und der Zerstörung der DDR-Industrie zu mildern. Unlängst verbreitete die CDU-Bundesgeschäftsstelle zur Rechtfertigung der Waigelschen Finanzpolitik in den 90er Jahren eine Dokumentation, nach der die Bundesrepublik mit der Vereinigung »Schulden des SED-Regimes in Höhe von rund 500 Milliarden DM« übernommen habe. Mit dieser Behauptung bewegt sich die Merkel-Opposition exakt in den Fußstapfen der Kohl-Regierung, die es trotz gegenteiliger Bundestagsbeschlüsse stets abgelehnt hatte, eine Bestandsaufnahme des volkseigenen Gesamtvermögens der DDR vorzulegen. Angeblich hatte der ostdeutsche Staat nichts als einen Schuldenberg hinterlassen. Alte Lügen werden, wie man weiß, durch Wiederholung noch lange keine Wahrheit. In das gesamtdeutsche Bett ist die DDR wahrlich nicht als arme, mittellose Braut gezwungen worden. Zu ihrer ansehnlichen Mitgift gehörte ein volkseigenes Gesamtvermögen von rund 1,5 Billionen DM, von dem ein großer Teil bereits in den ersten Ehejahren zum Nutzen der Reichen und zu Lasten der Steuerzahler verschleudert wurde. Allein den Wert der volkseigenen Betriebe hatte Detlev Karsten Rohwedder, zweiter Chef der »Treuhand«-Anstalt, auf etwa 600 Milliarden DM geschätzt, und auch der in Finanzfragen nicht unbedarfte Oskar Lafontaine hatte den zu erwartenden Erlös aus der Privatisierungstätigkeit der Anstalt auf 500 bis 1000 Milliarden DM beziffert. Rohwedders Nachfolgerin Birgit Breuel machte daraus dann in einer historisch einmaligen Umverteilungsaktion von unten nach oben, von Ost nach West ein Defizit von 270 Milliarden DM, das die Schuldenlast des Bundes um eben diese Summe schwerer machte. Und eben weil die »Treuhand« fast die gesamte DDR-Industrie zerstörte, ist jetzt Jahr für Jahr der Milliarden-Transfer nach Ostdeutschland erforderlich, um zum Beispiel für die Langzeitarbeitslosen eine kärgliche soziale Hilfe zu finanzieren. Noch aufschlußreicher allerdings ist in diesem Zusammenhang ein Schuldenvergleich beider Teile Deutschlands zum Zeitpunkt der Währungsunion. Zum 1. Juli 1990 betrugen die internen Schulden des DDR-Staatshaushaltes (der auch die kommunalen Finanzen umfaßte) 28,0 Milliarden DM, die Wohnungsbaukredite – die hier angeführt werden, obwohl es gute Gründe gibt, sie nicht zu den Staatsschulden zu zählen – 38,0 Milliarden DM und die Verschuldung der DDR gegenüber dem Westen 20,3 Milliarden DM. Damit brachte die DDR eine Gesamtschuld von 86,3 Milliarden DM in die staatliche Einheit ein. Die gesamte Schuld der öffentlichen (staatlichen und kommunalen) Haushalte der Bundesrepublik belief sich zu diesem Stichtag auf 924 Milliarden DM. Allein im Jahrzehnt bis zur Währungsunion hatte sich die bundesdeutsche Staatsschuld verdoppelt, ein Wachstumstempo, das sich auch danach nicht änderte. Die ach so verschuldete ostdeutsche Braut hatte sich mit einem über beide Ohren Verschuldeten eingelassen. Obwohl die DDR unvergleichlich weniger auf Pump gelebt hatte als die BRD, wurde die Verschuldung der öffentlichen Hand brüderlich und schwesterlich geteilt. Wenn schon nicht bei den Renten, Löhnen, Gehältern und schon gar nicht in den Köpfen, so wurde die Einheit wenigstens in der Pro-Kopf-Verschuldung herbeigeführt. Vor der Feier der Staatshochzeit lag sie im Osten bei 5298 DM und im Westen bei 16 586 DM. Danach betrug sie für alle Deutschen vom Rhein bis an die Oder, vom Säugling bis zum Greis 12 841 Mark. Statistisch gesehen übernahmen die neuen Bundesbürger pro Kopf 7543 Mark der BRD-Schulden. Auch in dieser Beziehung erwies sich das an die DDR-Bürger großzügig gezahlte 100-Mark-Begrüßungsgeld als eine vorteilhafte Investition. Inzwischen ist das alles Geschichte. Die Pro-Kopf-Verschuldung im vereinten Deutschland beträgt mittlerweile 15 466 Euro (30 159 Mark). Die reiche Bundesrepublik sieht sich noch weniger als früher imstande, das zu finanzieren, was sich einst die arme DDR geleistet hat. Dabei handelt es sich bei weitem nicht nur um das subventionierte Fünf-Pfennig-Brötchen oder die 20-Pfennig-Fahrkarte für Bus und Straßenbahn, U- und S-Bahn, den 14-Tage-Aufenthalt im FDGB-Ferienheim für 30 Mark oder die Zugverbindung in den letzten Winkel des Landes. Die wohlhabende Bundesrepublik kann das nicht leisten, was die von vorn herein weniger begüterte DDR sicherte, darunter: Vollbeschäftigung und keine Angst um den Arbeitsplatz; niedrige Mieten und keine Obdachlosigkeit; niedrige Tarife für Strom, Gas, Wärme, Wasser und Entwässerung; niedrige, langfristige Pachten für Wochenendgrundstücke und Kleingärten; umfassende Fördermaßnahmen für Frauen und Jugendliche, junge Eheleute und kinderreiche Familien; Abgabe von Medikamenten und Krankenhausaufenthalte ohne Zuzahlung, vorbildliche Betreuung von Schwangeren; ein dichtes Netz von Theatern, Orchestern, Museen, Bibliotheken, Kulturhäusern und Klubs für die Jugend; niedrige Preise für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Benutzung von Bibliotheken, für Kino-, Theater-, Konzert- und Museumsbesuche; weitgehende Chancengleichheit im Bildungswesen, unentgeltlicher Besuch aller staatlichen Bildungseinrichtungen, Stipendien für alle Studenten unabhängig vom Einkommen der Eltern; unentgeltliche Kinderbetreuung, minimale Preise für Essen und Milch in Kinderkrippen und -gärten sowie für Schulspeisung und Teilnahme an Ferienlagern; ein entwickeltes System der Berufsausbildung ohne Mangel an Ausbildungsplätzen und nahtloser Übergang in den erlernten Beruf; vorbildliche gesundheitliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen von obligatorischen Schutzimpfungen bis zu wiederkehrenden prophylaktischen Untersuchungen auf allgemein- und zahnmedizinischem Gebiet. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Trotz dieser Leistungen hatte der ostdeutsche Staat – bei niedrigerer Arbeitsproduktivität mit all ihren negativen Auswirkungen auf die Infrastruktur des Landes und die Investitionsrate in der Wirtschaft – weniger Schulden als der westdeutsche. In der Bundesrepublik gibt es derartige soziale und zivilisatorische Leistungen nicht, andere werden abgebaut, und doch wachsen die Schulden immer schneller. Wir kommen also nicht umhin, darüber nachzudenken, was und wer die Uhr in Wiesbaden antreibt, wofür die Milliarden ausgegeben werden, wer den Löwenanteil der Zinsen und Zinseszinsen einsteckt und wie lange diese Uhr so weiterlaufen kann. Ralph Hartmann ist Verfasser des 1999 im Karl Dietz Verlag erschienenen, weiterhin empfehlenswerten Buches »Mit der DDR ins Jahr 2000«, das – mit dem Vorsitzenden der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerecht und Menschenwürde, Wolfgang Richter, gesprochen – in der »besten Tradition der Enthüllungsliteratur« stehend »die außerordentliche Dimension der Einvernahme der DDR durch die Bundesrepublik veranschaulicht«.
Erschienen in Ossietzky 2/2003 |
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