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Die Zeit, die den diesem Gas Ausgesetzten bleibt, sich mit einem Gegengift zu versehen, betrage vier Minuten, erklärt mir ein Chemiker. Unvorstellbar, was den Menschen geschieht. * Die sogenannte Wende in der DDR hat manches an den Tag gebracht, auch Unvorstellbares. Vor meiner Haustür liegt das Odertal hingestreckt, reich an Auenwäldern. An guten Wettertagen kann man die Endmoränen beiderseits der Ufer ausmachen. Es ist eine Kulturlandschaft von einmaliger Schönheit. Das Sommerhochwasser vom Juli 1997 brachte Stunden der Wahrheit. Es zwang zu der Einsicht, daß die Dämme erhöht und vor allem erneuert werden mußten. Das ist inzwischen geschehen. Wo gearbeitet wurde, war auch der Munitionsbergungsdienst zugange. Es gibt wohl keinen deutschen Landstrich, in den soviel Blut eingedrungen ist, in dem soviel Kriegsschrott steckt wie im Oderbruch. Man hat jetzt noch während der Deichsanierung über 300 000 Geschosse geortet und gesprengt. Und man hat seit dem Sommer 1997 über 100 Tote gefunden, von denen einige identifiziert werden konnten. Makabere Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges, der uns hier immer wieder einholt. Der Kampf um die Seelower Höhen im April 1945 kostete die Rote Armee und die Polnische Volksarmee etwa 33 000 Gefallene. Die Wehrmacht verlor 11 000 Soldaten. Vermutlich sind in der deutschen Rechnung nicht jene aufgeführt, die als Deserteure links und rechts der deutschen Reichsstraße 1 (Aachen-Königsberg) zwischen Seelow und Müncheberg an den Straßenbäumen exekutiert wurden. Idyllisch an mehreren Seen liegt der kleine Ort Falkenhagen/Mark. An einem der Seen steht ein niegelnagelneues »Seehotel«. Das bietet neben Badestrand, Tennisplätzen und guter teurer Küche auch »Militärische Geheimnisse 1938-1992« an. Unter dem Titel »Das Seewerk. Bunker im Wald von Falkenhagen« kann man sich zu Besichtigungen einfinden. Gegen Honorar natürlich. Bis zum Jahre 1993 wußte niemand, was sich im Wald von Falkenhagen abgespielt hatte. Tausende KZ-Häftlinge und Arbeiter der Organisation Todt hatten hier ein fußballfeldgroßes, mehrstöckiges Werk in den Waldboden graben müssen. In dem konnte ein ganzer Eisenbahnzug versteckt werden. Die Tarnung der Anlage war so perfekt, daß dieses Werk auch aus der Luft nie geortet, nie entdeckt wurde. Nach Aussagen ehemaliger Mitarbeiter, auch eines KZ-Häftlings, war deren »Entfremdung« vom Produktionsziel Sarin so perfekt, daß keiner über die nächsten oder über die vorausgegangenen Arbeitsschritte anderer Mitarbeiter Auskunft geben konnte. Keiner konnte sich zusammenreimen, woran er arbeitete, welches Endprodukt entstehen konnte. Der Produktionsbeginn mit den in Falkenhagen hergestellten Ausgangsstoffen war auf den August 1945 gelegt. 500 Tonnen Jahresproduktion waren geplant. Ein knappes halbes Jahr davor – nach manchen Versuchen, die Sache zu beschleunigen – wurden die Anlagen demontiert, Fässer mit schon vorbereiteten Ausgangsstoffen für die Produktion von Sarin abtransportiert. Als die Rote Armee das unversehrte Objekt erreichte, erinnerte nichts an die mögliche Nervengasproduktion. Wäre die Anlage fertig geworden, das Gift zum Einsatz gelangt, hätte sich die Oder-Niederung damit gefüllt. Es gab kein Gegengift, keinen wirksamen Schutz. Die Nazis hätten für einige Zeit ihre Niederlage aufhalten können und ungezählte Menschen in den Tod mitgenommen. Die Wahrheit über das Sarin-Werk in Falkenhagen trat erst 1993 stückchenweise an den Tag. Die DDR, auch angetreten, die Wahrheit über den Nazikrieg und das Verbrecherische dieses Krieges aufzuarbeiten, war offensichtlich gehindert, sich den Falkenhagener Vorgängen zuzuwenden. Hier, wo zu Nazizeiten in einer anderen Produktionslinie vermutlich an Raketentreibstoffen der dritten Generation (V-Raketen) gearbeitet worden war, setzte während der Zeit des Kalten Krieges die Sowjetunion neue Konditionen. Das Objekt hatte keinen der in der DDR üblichen Bezüge zur »befreundeten Öffentlichkeit«, sondern war völlig abgeschirmt. Auch erst seit 1993 ist bekannt: Im ehemaligen Sarin-Werk der deutschen Wehrmacht befand sich der Stab der sowjetischen Armee und der Staaten des Warschauer Vertrages für eine mögliche kriegerische Auseinandersetzung mit der NATO. In diesem Areal gab es keinen deutschen Angestellten. Die Anlage, von der niemand wußte, war eine Tabuzone. * In den vergangenen Jahren mehrten sich organisierte Angriffe gegen wahrhaftige Darstellungen des Ausmaßes deutscher Kriegsverbrechen und des Charakters des von den Nazis losgebrochenen Zweiten Weltkrieges. Ich beobachte eine Zunahme dumpfer deutscher Volksmeinung. Endlich ist der Deckel vom Topf, kann die wahre Meinung heraus. In meinem Umfeld wurde in den vergangenen Monaten um die Zahl der vernichteten Juden gestritten; ich hörte kaum verbrämte antisemitische Witze von Nachgeborenen; ich begegnete absoluter Unfähigkeit, Informationen zu werten und Zusammenhänge herzustellen; ich erlebte Ignoranz und Stolz auf die großväterliche Kriegsverletzung, die sich in Rente der Bundesrepublik münzt. Daran hängen die wahren und lauteren Geschichten: wie wir gekämpft haben... Mehrmals im Jahr sehe ich mich mit Mahnfeuern an der Oder konfrontiert, die nationalistisch gesinnte Jugendliche sichtbar zu Polen hin leuchten lassen mit dem Anspruch, auch östlich der Oder liege deutsches Land. »Ruhm und Ehre den deutschen Soldaten« gehört zu den Sprüchen, die hier täglich weitergegeben werden. Beständig tropft in die Hirne, wie Geschichte gewesen sein soll: unverschuldet, jungfräulich, angefüllt mit hehren Taten, auf die man stolz sein könne. Der Geschichtenerzähler von Falkenhagen/Mark bediente den Stolz in besonderer Weise. Er wies auf die Schienenstränge der Deutschen Reichsbahn, die im Werk verlegt worden waren. Sie zeigten nicht eine einzige Roststelle. Er pries den Beton, dessen Qualität die Sprengversuche der Nationalen Volksarmee an eine ehemaligen Eisenbahnbrücke überdauert habe. Er hob die Maurerleistungen der Wehrmachtssoldaten in den Himmel und setzte die sowjetischen Maurerversuche nach der Übernahme des Objektes durch die Rote Armee als dilettantisch dagegen. Er zeigte die Schweißnähte von Benzintanks, wie akkurat die gezogen waren unterm deutschen Schweißgerät, und die nachlässig gelegten Nähte der sowjetischen Armeeschweißer. Schwebte ihm da nicht anderes noch auf der Zunge? Das Sarin ist nicht mehr zum Einsatz gekommen. Der Geschichtenerklärer hatte Väter mit Kindern unter seinen Zuhörern. Ich kann nur hoffen, daß seine Texte relativiert worden sind durch die Väter. Am Ende teilte er den Besuchern mit, er werde in Kürze ein Buch zum »Seewerk. Bunker im Wald von Falkenhagen« veröffentlichen. Ein Verlag habe sich schnell gefunden. Das Buch wird sich wohl gut verkaufen lassen. Aber welcher Leser wird fähig sein, Falsches als falsch zu erkennen und dagegenzuhalten? Ist die Frage nicht zu beantworten, dann haben wir es mit dem Sarin-Effekt zu tun.
Erschienen in Ossietzky 2/2003 |
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