Schröders Neujahrsbotschaft

von Rainer Rupp

Um den Sozialstaat zu retten, muß er abgeschafft werden. Das war die Kernaussage der Neujahrsansprache des Bundeskanzlers, in der Gerhard Schröder die Bürger »auf weitere tiefgreifende Einschnitte ins Sozialsystem einstimmte«, wie es verharmlosend in den Agenturmeldungen hieß.

Der Kanzler malte das Bild eines Landes, das nur noch überleben kann, wenn die Wirtschaft von allen sozialstaatlichen Einschränkungen befreit ist und alle Schutzbestimmungen für die Lohnabhängigen entsorgt sind. Die Zukunft ist die uneingeschränkte kapitalistische Raubwirtschaft, oder es gibt gar keine Zukunft. In dieser Gesellschaft muß sich jeder ganz und gar auf seine eigenen Ellenbogen verlassen und selbst Vorsorge treffen. Arm sein wird bereits jetzt zunehmend lebensgefährlich.

Und wer arm ist oder wird, hat eben Pech gehabt? Nein, das wäre aus der neoliberalen Sicht, die uns der Kanzler vermittelt, eine falsche, gefährliche Annahme, denn darin schwingt mit, daß das Pech uns selber ganz unverschuldet treffen könnte. Sowie wir das für möglich halten, tritt schon das Böse heran, das die freie Marktwirtschaft zerstören will, nämlich die mitfühlend-solidarische Grundeinstellung der Lohnabhängigen, die letztlich auch der eigenen Absicherung dient, für den Fall der Fälle.

Wer arm ist oder wird, hat nicht Pech gehabt, sondern ist selber daran schuld. Die Schuld der Armen an ihrer Armut ist ein Eckpfeiler des Wertesystems, dem das internationale Kapital unter Führung der USA auch mit militärischem Zwang weltweit Geltung zu verschaffen versucht – womit ein Gesellschaftssystem, in dem die Menschen für die Wirtschaft, genauer für das Kapital da sind und nicht die Wirtschaft für die Menschen, in eine neue Phase seiner Entwicklung übergeht.

»Wir werden unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit, unsere guten Schulen, Straßen und Krankenhäuser – um die uns so viele Völker beneiden – nur erhalten können, wenn wir uns auf unsere Kräfte besinnen und gemeinsam den Mut zu grundlegenden Veränderungen aufbringen«, redete der Kanzler seine geplanten sozialen Grausamkeiten schön. Nach seinen Vorstellungen kann der Sozialstaat nur noch durch »mehr Eigenverantwortung jedes Einzelnen« gerettet werden, was letztlich, wie in den USA längst geschehen, zu seiner Abschaffung führt.

Schließlich – da sind sich die tonangebenden Sozialdemokraten und Grünen mit Freidemokraten und Christsozialen einig – es ist kein Geld mehr da. Das muß in ein großes Schwarzes Loch gefallen sein.

Deutschland war als Volkswirtschaft noch nie so reich wie heute. Bei näherem Hinsehen gibt es genug Geld. Nur bei denen, die es haben, will der Kanzler es nicht holen. Und von dem Geld, das er hat, muß er alljährlich Zigmilliarden ins Militär und alle möglichen neuen Tötungsmaschinen stecken. Denn Deutschland kommt überall auf der Welt »seinen neuen Verpflichtungen nach« – worauf alle Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger stolz sein dürfen, bitte sehr.

Erschienen in Ossietzky 1/2003