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Rechte Revolte gegen den Rest-Sozialstaat?

Nachtragshaushalt und Tarifrunde im Öffentlichen Dienst

Oder: Was die Gewerkschaften von und aus der Bild-Zeitung lernen könnten

von Gregor Kritidis (sopos)



Im Interesse größere Teile der herrschenden Klasse soll der Rest- Sozialstaat mit Hilfe einer rechten Revolte offensiv zerschlagen werden.

Zwei gegenwärtige politische Auseinandersetzungen werfen auf unterschiedliche Weise ein Schlaglicht auf die kommenden Ereignisse in Deutschland: Die Debatte um den Nachtragshaushalt 2003 von Finanzminister Hans Eichel und die anlaufende Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Was die Haushaltspolitik der Regierung Schröder/Fischer betrifft, so ließe sich eigentlich nicht viel Neues vermelden. Wie schon die Regierung Kohl, so setzt auch die gegenwärtige rot-grüne Bundesregierung ihren Kurs der Steuersenkung und Ausgabenkürzung mit leichten Modifikationen fort, nur daß diesmal der allgemeine Unmut eine neue Qualität erreicht hat. "Kanzler, uns reicht's!" titelte die Bildzeitung vom 20.11.2002 und präsentierte über die ganze Titelseite Normal-Bundesbürger mit Porträt-Fotos und deren Statements über die gegenwärtige Regierungspolitik. Tenor: Rot-Grün hat uns erst belogen, jetzt sind wir verraten und verkauft. "Zwei Monate nach der Wahl gipfeln Wut und Enttäuschung der Bürger in dem schlimmen Wort vom Wahlbetrug", heißt es im Kommentar auf Seite 2. "Die Volksseele kocht - eine gefährliche Mischung aus Aggression bei den einen, innerer Kündigung und Staatsverdrossenheit bei den anderen greift um sich", so der Kommentator Einar Koch.

Wie sich die "Bild" einen Ausweg aus der gegenwärtigen Vertrauenskrise vorstellt, kann man weiter unten nachlesen. Dort darf sich Arnulf Baring, nebenbei zu "unsere(m) bedeutendsten Historiker" geadelt, unter dem Titel "Die Geduld der Deutschen ist am Ende" äußern. "Selbst Kindern", so Baring, "ist inzwischen bewußt, daß Deutschland seit langem im steten Niedergang ist, der sich 2002 gewaltig beschleunigt hat und große Unruhe auslöst, weil keinerlei Aussicht besteht, unter den herrschenden Verhältnissen unserer Konsumgesellschaft die zunehmende Stagnation zu überwinden, die Situation des Landes zu stabilisieren". Diesen Niedergang des Abendlandes, gelte es mit "mehr Wettbewerb" umzukehren. Nicht ausdrücklich, aber doch deutlich, macht Baring den Sozialstaat als das Kernproblem aus: Es gehe um die Einsicht, "daß Deutschland schon lange chronisch krank ist, wir seit drei Jahrzehnten (d.h. seit der sozial-liberalen Reformpolitik der Regierung Brandt; G.K.) über unsere Verhältnisse gelebt haben und daher kräftig sparen, die Ansprüche aller Gruppen und Schichten eine Zeit lang reduzieren müssen". Deutschland sei eine Art westliche "DDR-light", das Parlament beherrscht von Bürokraten aus dem öffentlichen Dienst und den Gewerkschaften. Daß Baring dafür den Un-Begriff "Entartung" verwendet und beschwörend darauf verweist, "wir" seien in "unserer langen Geschichte mit ungleich größeren Herausforderungen fertig geworden" läßt ebenso Böses ahnen wie die Schlußfolgerungen, die er daraus zieht: "Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem. Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte Revolten liegen in der Luft. Bürger, auf die Barrikaden!"

Sollte es noch irgendwelche Illusionen geben, in welchem Kontext solche Äußerungen stehen, ist es mehr als ratsam, einen Blick in die von Baring beschworene Geschichte zu werfen. Schon einmal wurde in einer Zeit der sozialen Krise die "Revolution von rechts" (Hans Freyer) gegen eine sozialdemokratisch geprägte Republik ausgerufen, die in der Krise zwar kein offensives Programm entwickeln konnte, sich aber dennoch als äußerst resistent erwies: Zu Beginn der 30er Jahre, als allerlei nationale, konservative, national-soziale und sonstige Revolutionäre zum Sturm gegen das politische Establishment aufriefen. Der Vergleich hinkt, gewiß. Aber die Geschichte soll sich zuweilen als Farce wiederholen: Statt einer Gegenrevolution jetzt eine Gegenrevolte?

Der Aufruf Barings wurde am 19.11.2002 in der Frankfurter Allgemeinen publiziert, was die Stoßrichtung verdeutlicht: der mehr als berechtigte Protest gegen die Demontage der sozialen Sicherungssysteme soll in eine rechtspopulistische Volksbewegung kanalisiert werden. Aus Sicht der Rechts-"Konservativen" und im Interesse von größeren Teilen der herrschenden Klasse soll der Rest-Sozialstaat mit Hilfe einer rechten Revolte offensiv zerschlagen werden. Weitere Belege für diese These: Der "Spiegel" kritisiert vergangene Woche Schröder als Repräsentanten eines sklerotischen Verbände-Staates, in der Financial Times Deutschland wird der gegenwärtige "Winter der Unzufriedenheit" mit Großbritannien kurz vor dem Machtantritt Thatchers verglichen.

Die, die sich angesprochen fühlen sollten, bewegen sich offenbar in anderen Sphären. Im Unterschied zu "Bild" und "FAZ" ließt sich die Zeitschrift der Ver.di geradezu prosaisch; in der Ausgabe dieses Monats (ver.di-publik 11/2002) heißt es zwar auf Seite 1, eine schwierige Tarifrunde und ein "heißer Winter" könnten bevorstehen, aber sonst ist vom Ernst der Lage nichts zu bemerken. Dabei verschlingen sich im öffentlichen Sektor zwei Probleme, die jeden betreffen: Zum einen die fortgesetzte Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die Kürzung der Gehälter; zum anderen die Rücknahme des bisher staatlich garantierten Leistungskatalogs, der - glaubt man dem "Freitag" - in Berlin schon zur Demontage öffentlicher Mülleimer geführt hat. Das Patentrezept lautet nach wie vor "Privatisierung", sei es bei der Gesundheit, der Altersvorsorge oder im Bildungssektor. So oder so wird das Leben der lohnabhängigen Mehrheit zunehmend prekärer, werden Wut und Frust steigen. Aggression und Anpassung könnten durchaus in eine konformistische Revolte umschlagen. Ein Streik im öffentlichen Dienst, der das Diktat der leeren Kassen bricht, könnte diesen Trend nach rechts umkehren und all die kreativen Potentiale freisetzen, die für Veränderungen im öffentlichen Sektor notwendig sind. Der Streik in Frankreich 1995 steht für eine solche Möglichkeit. Die Gewerkschaften sind die einzige Großorganisation, die dem Programm der Regierung und der durch sie repräsentierten Kräfte effektiv Widerstand entgegensetzen könnten. Sollten sie das nur halbherzig oder so passiv wie bisher tun, werden die Vorschläge á lá "Deutschland, erwache!" von Leuten wie Baring an Boden gewinnen. Gegen die "Revolution von rechts" hilft aber nur eine Revolution von links. Es wird sich zeigen, inwieweit die Revolte von 1968 tatsächlich in Deutschland Spuren hinterlassen und die Republik zivilisiert hat. Die Menschen links der "Neuen Mitte" sollten dieses Erbe positiv aufgreifen.

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sopos 11/2002