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Sieben Vorschläge für ein innovatives Deutschland

von Hans Hund und Karl Kalisch

Daß der Blick in die bürgerliche Presse weit lehrreicher ist, als der Blick in die eigene, wußte schon Marx. Die "Financial Times Deutschland" veröffentlichte einen Artikel, in dem in 7 Punkten Lösungsversuche ( FTD vom 22.11.2002) gegen die momentane Krise angeboten wurden. Tatsächlich sind uns auch sieben Punkte eingefallen, die wir der Financial Times gegenüberstellen möchten. Bei Einführung dieser Punkte - so sind wir uns sicher - bräuchte man "den Kopf nicht in den Sand stecken". Der Originaltext der FTD ist grau unterlegt.

Das Kapital: Sieben Vorschläge für ein dynamischeres Deutschland Gut, mit Neuwahlen dürfen wir - noch - nicht rechnen. Und es stimmt auch, dass die politische Alternative alles andere als berauschend ist. Dazu kommt eine demografische Entwicklung, die sogar die brillanteste Regierung vor schwere Herausforderungen stellen würde. Aber müssen wir den Kopf wirklich in den Sand stecken? Mal angenommen, eine Regierung würde unter anderem folgendes Programm umsetzen:

Sieben Vorschläge für ein dynamischeres Deutschland. Gut, Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten. Und es stimmt auch, daß die politischen Alternativen alles andere als berauschend sind. Dazu kommt, daß eine Revolution sogar die brillanteste Regierung vor schwere Herausforderungen stellen würde. Aber müssen wir den Kopf wirklich in den Sand stecken? Mal angenommen wir würden, statt den Plänen der Financial Times folgendes Programm umsetzen.

Erstens: Alle Arten von direkter Sozialhilfe sowie die Arbeitsförderung werden - sagen wir für zehn Jahre - real auf dem Stand von 2002 eingefroren, steigen also nur noch im Einklang mit dem allgemeinen Preisniveau (partiell könnte man anfänglich sicher auch kürzen; dass es vereinzelt Übertreibungen gibt, ist unzweifelhaft). Wenn die Wirtschaft unterdessen um zwei Prozent jährlich zulegt, würden die entsprechenden Leistungen 2012 gut ein Prozent des BIP weniger absorbieren als heute, dann also rund 4,7 Prozent.

Erstens: Sämtliche Betriebe, Banken, Firmen und Fabriken werden verstaatlicht. Alle Arten direkter Sozialhilfe - darunter verstehen wir den Mehrwert, der dem Kapital als privatisiertem Reichtum zukommt - werden ersatzlos gestrichen. Sämtliches Vermögen, das 1 Million Euro übersteigt (was immer noch für ein glückliches Leben der jetzt schon zu Reichen langt) wird beschlagnahmt und zur Armutsbekämpfung eingesetzt.

Zweitens: Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt, geht leer aus, und zwar völlig. Der Kündigungsschutz wird ersatzlos gestrichen, damit die Unternehmen sich wieder trauen können, Stellen zu besetzen (Hartz reicht beileibe nicht). Die Lohnzuwächse bleiben zunächst unter dem Anstieg der Arbeitsproduktivität, wie es auch die Sachverständigen fordern. Wenn die Gewerkschaften da nicht mitspielen, sind sie eben zu entmachten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Zahl der Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger mit der Zeit halbiert, wäre in diesem Fall tatsächlich beachtlich hoch. Inklusive Punkt eins würden die entsprechenden Leistungen dann in zehn Jahren nur noch 2,35 Prozent des BIP kosten, gegenüber 5,8 Prozent 2001.

Zweitens: Wer es ablehnt, enteignet zu werden, muß eben entmachtet werden. Statt der Streichung des Kündigungsschutzes werden von dem enteigneten Reichtum Bildungszentren verschiedenster Art gefördert, so daß die Menschen nicht mehr gezwungen sind, ein Leben lang nur einer Tätigkeit nachzugehen. Des weiteren soll ein gros der zu fördernden Bildungszentren sich mit der Kunst und der Muße befassen, damit der homo öconomicus endgültig der Vergangenheit angehört. Unter großem Aufwand soll der Harz als Erholungsgebiet allen durch Arbeit geschundenen zugänglich gemacht werden. Aber der Harz reicht beileibe nicht aus. Die beachtlich hohe Anzahl an Gebäuden, die ehemalig Arbeitsämter waren, sollen zu Museen mit mahnendem Charakter an dreihundert Jahre Industrialisierung und Arbeitsgesellschaft ungewandelt werden.

Drittens: Die Menschen arbeiten wieder länger, wie es auch auf der Hand liegt, wenn sie immer älter werden. Gegenwärtig gehen die Menschen mit rund 60 Jahren in den Ruhestand, die Rentenbezugsdauer liegt im früheren Bundesgebiet bei 16,2 Jahren. Würde das mittlere Renteneintrittsalter um drei Jahre angehoben, wären rund ein Fünftel weniger Rentner zu finanzieren, zumindest wenn das abrupt und rückwirkend geschähe - was, zugegeben, unmöglich ist. Gleichzeitig würden natürlich mehr Menschen in das System einzahlen. Die finanziellen Wirkungen dieser Maßnahmen sind schwer zu bemessen, dürften aber grob überschlagen zwei Prozent des BIP ausmachen. Heute ist der Dumme, wer lange arbeitet. Extrajahre müssen sich auch lohnen.

Drittens: Durch die Aufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit wäre es möglich den Arbeitstag auf 4 Stunden oder weniger zu reduzieren. Bei einem solchen Arbeitspensum wäre es unerheblich, wann jemand in Rente geht, da Arbeit zum Leben gehörte und das Leben nicht Beiwerk der Arbeit wäre. Alter würde wie einstmals mit Weisheit gleichgesetzt werden. Die heutigen Altenaufbewahrungsstätten könnten abgeschafft werden. Da Profit und Kapitalakkumulation nicht mehr das goldene Kalb darstellten, klänge das Leben alter Menschen, die wegen ihres Ausfalls als lebendige Produktivkraft heute noch der gesellschaftlichen Nutzlosigkeit übergeben werden, in Würde aus.

Viertens: Im Gesundheitssystem wird auf mehr Eigenverantwortung gesetzt, Vorschläge dazu gibt es en masse; siehe Sachverständigenrat. Könnten die Gesundheitsausgaben nur um fünf Prozent eingeschränkt werden, entspräche das 0,53 Prozent des BIP.

Viertens: Für ein Gesundheitswesen, das seinen Namen verdient, gewährleistet ein allgemeines Recht auf Faulheit; Eigenverantwortung ist völlig unerheblich. Ein breites System medizinischer Betreuung wird installiert, und der technische Fortschritt würde für ein Leben der Erleichterungen jenseits der Pein und der Mühsal stehen. Forschung könnte tatsächlich zum Wohle der Menschen eingesetzt werden; weil das Militär abgeschafft wird, gäbe es auch keine Forschung mehr, die sich auf die Erweiterung des Wissens zur Destruktion unserer Welt konzentrierte.

Fünftens: Der Staat beschäftigt immer noch 2,7 Millionen Beamte und Angestellte, die ihn 98 Mrd. Euro oder 4,7 Prozent des BIP kosten. Weiter abbauen! Dazu kommen Subventionen von 34 Mrd. Euro, zumeist für alte Industrien. Weg damit! Und natürlich müsste der Staat steuerliche Ausnahme- und Sondertatbestände noch rigoroser angehen, das Steuersystem generell vereinfachen und bürokratische Hemmnisse beseitigen.

Fünftens: Ein Steuersystem existiert nicht mehr. Da die Ökonomie geplant und nicht mehr chaotisch organisiert und zum Wohle aller und nicht mehr zum Wohl des Kapitals eingesetzt würde, könnte die Verwaltung einen gänzlich anderen Charakter annehmen. Da jeder und niemand Beamter wäre bräuchte man sich über die totale Verwaltung keine Gedanken mehr machen.

Sechstens: Im Gegenzug verspricht die Regierung, die mit der Zeit frei werdenden Mittel durch Steuer- und Abgabensenkungen an die Bürger zurückzugeben. Würde die Staatsquote von 48,3 Prozent nur um fünf Punkte gesenkt, könnten Steuern und Abgaben um mehr als zehn Prozent zurückgeführt werden. Einen Teil der Ressourcen müsste der Staat allerdings für Bildung und Investitionen aufwenden. 2001 hat er für Letztere netto gerade noch für 1,86 Mrd. Euro ausgegeben. Unfassbar.

Sechstens: Da Bildung, Forschung und Kunst, neben der Muße zu den Idealen einer freien Gesellschaft gehören, würde und man sich nicht mehr um die Krisen des Kapitals zu kümmern brauchen; man wäre nicht mehr der Büttel der Ökonomie. Sankt-Nimmerleins-Versprechen bräuchten nicht mehr gemacht werden, da die Wirklichkeit bereits die Einlösung des Versprechens auf den sensus communis wäre.

Siebtens: Hätten wir unseren eigenen Währungsraum, wäre diese Politik natürlich mit expansiver Geldpolitik zu flankieren, anfangs vielleicht auch mit fiskalischen Impulsen im Rahmen des Gesamtkonzepts. Bei Lohnzuwächsen unterhalb der Arbeitsproduktivität wäre das kein Problem. Und falls eine expansive Fiskalpolitik erforderlich wäre, müsste sie auf höchstens zwei Jahre befristet werden. Danach wäre strikte Haushaltsdisziplin angesagt - und bei der Dynamik, die das Programm vermutlich entfalten würde, wäre die auch ohne größere Grausamkeiten zu haben. Wie die Dinge stehen, hätte die Regierung aber mit den europäischen Partnern zu reden. Vermutlich bedeutete das jedoch das Aus für den Stabilitätspakt. Also müssten wir auf einen fiskalpolitischen Anschub verzichten. Derweil könnten wir hoffen, dass andere Länder es uns nachmachen und die EZB das honoriert.

Siebtens: Da ein eigener Währungsraum nur in einer Übergangszeit zur Abschaffung monetärer Äquivalente existieren würde, bräuchte man sich über Finanzpolitik bald keine Gedanken mehr zu machen. Eine Steuerungspolitik, die sich zwischen Inflation und Deflation wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurchlavierte, bräuchte es nicht mehr.

Natürlich wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich die neue Aufbruchstimmung in der Welt herumsprechen würde. Vor qualifizierten Einwanderern könnten wir uns gar nicht retten. Und natürlich würde Kapital nach Deutschland fließen - statt wie bisher zu flüchten, wie man am Dax sieht. Die Refinanzierungskosten der Firmen würden sinken und Investitionen attraktiver machen.

Natürlich wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich die neue Aufbruchstimmung in der Welt herumsprechen würde. Vor qualifizierten Einwanderern könnten wir uns gar nicht retten. Und natürlich würden Gleichgesinnte nach Deutschland kommen - statt wie bisher vor Nazis flüchten. Im Gegenzug könnte man den Klerus in ein Land seiner Wahl ausweisen und die Aufführung religiöser Rieten aller Couleur in der Öffentlichkeit verbieten. Wer dennoch einen Gott anbeten will, soll das gefälligst in seinen eigenen vier Wänden tun. Satt dessen gäben die existierenden Kirchen großartige Gemeindezentren ab, in den denen gefeiert, gelebt und zusammen entschieden werden könnte.

Aber wir befinden uns ja in Deutschland. Die einzige Antwort, die uns zum Ungemach hier und in der Welt einfällt, ist Larmoyanz. Mehr noch, wir leisten uns eine Bundesregierung, die in fast jeder Hinsicht so miserabel ist, dass einem die Worte fehlen.

Aber wir befinden uns in Deutschland. Wir leisten uns ein Wirtschaftssystem und eine Presse, die so miserabel und menschenfeindlich ist, daß einem die Worte unverdaut wieder hochkommen. Die einzige Antwort, die uns zum Ungemach hier und in der Welt entfällt, ist Faschismus. Denn wenn all die Vorschläge der FTD umgesetzt würden, wäre die Armut in Deutschland noch unerträglicher, und traditionsgemäß trat in vergleichbaren Situationen in Europa der Faschismus und in der Welt die Diktatur eher auf den Plan als das Bild einer freien Gesellschaft.
Aber wir befinden uns in Deutschland. Dort wird bald wieder in die Hände gespuckt, und dann steigern sie das Bruttosozialprodukt. Wir befinden uns in Deutschland - des Meisters Auge ist blau, er trifft mit bleierner Kugel, er trifft genau, hetzt mit Rüden und beschenkt seine Opfer mit einem Grab in der Luft...

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sopos 11/2002