Zu Kreuze kriechen

von Gerhard Zwerenz

Pünktlich am 7. November 2002 druckte das Neue Deutschland zum "85. Jahrestag des Aufstands der Bolschewiki" eine Abrechnung mit ihnen. Unter dem Titel "Als Lenin nur noch Gemüse züchten wollte" wurden Marx und Lenin demontiert: Marx ein von Illusionen verführter Blinder, Lenin "ein verarmter Adliger" und lediglich durch das Schicksal seines gehenkten Bruders "auf den Pfad der Revolution getrieben". Nichts von diesen Behauptungen ist neu, nur Autor und Ort der Drucklegung sind es - im ND las man sowas noch nicht, und der Autor Wolfgang Ruge ist ein in Potsdam lebender Historiker, Mitglied der PDS, in deren Ältestenrat tätig. Was erleben wir da? Einen Aufstand der "Altkader"? Eine verspätete und nachholende Destruktion idealisierter Heroen? Die Aufregung ist vorprogrammiert, kollektive Proteste sind absehbar, denn es geht ans Eingemachte. Nachdem die PDS gewaltig ins Schlingern geraten ist, findet der Denkmalssturz statt.

Was aber wird mit den Antagonisten von Marx und Lenin? Vom deutschen Kaiserreich bis zum Zarismus, von Hindenburg, Ludendorff über die weißrussischen Generäle bis zu Hitler und seinen Helfern beim Vernichtungskrieg gegen den "jüdischen Bolschewismus" - sind das nun die ebenso alten wie neuen himmlischen Heerscharen? Wenn Marx blind und Lenin bloß der Rächer seines Bruders gewesen sein soll, was sind dann die mordsmächtigen Gegenspieler, die die Staats- und Kriegsmaschinen im 19. und 20. Jahrhundert kommandierten?

Professor Ruges Sicht ist mir nicht fremd. Vieles sagte ich schon zu Zeiten, als es nicht ungefährlich war. Ich weiß nicht, wie der Historiker es früher gesehen hat. Strittig bleiben wohl die Konsequenzen. Sind Marx wie Lenin das, was Ruge von ihnen übrig läßt, dann schrumpft der Marxismus auf das Schreckensbild ein, das Kaiser, Zar, Mussolini, Franco und Hitler in ihm sahen und das es mit und unter Stalin tendenziell geworden ist - ein nichts als barbarisches System, in dessen Schatten Adolf Hitler zum Europa verteidigenden Helden mutiert. Genau dies ist das Resultat jener jetzt publizierten geschichtsliquidatorischen Demontage.

Ich fürchte, die von den Sowjets betriebene Dogmatisierung des Marxismus führt damit lediglich zur Auswechslung der Vorzeichen. Aus plus wird minus. Und umgekehrt. Die Dogmatiker kennen kein Maß und handeln mit ideologischen Minen. Was sie nicht sehen wollen oder können, ist die Haltung. Da sie selbst darüber nicht verfügen, begreifen sie nicht, daß von Spartacus über Thomas Müntzer, Marx, Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht eben diese aufrechte Haltung das Wesentliche und Bleibende ist. Als die SED anno 1956/57 Ernst Bloch aus der Karl-Marx-Universität Leipzig vertrieb, gingen ihr brave Parteisoldaten flugs zur Hand und bezichtigten Bloch der "Revision des Marxismus", ohne zu ahnen, daß sie ihm eben damit ein zeitloses Lob spendeten. Die Revision war bitter notwendig. Sie zu verdammen der Anfang vom Ende. Wolfgang Ruge: "Geschichte ist brutal." Nun mal langsam, Herr Professor. Sie ist nur brutal, wenn die Menschen sich ihr brutal entgegenstellen. Der Versuch, 1945 ein anderes, nicht dem Kapital unterworfenes Deutschland aufzubauen, ist an der Erstarrung des von der Sowjetunion gewollten Parteimodells gescheitert. Der Versuch selbst bleibt ehrenwert. Damit zu scheitern war unser Risiko. Ich habe nicht vor, mein Gedächtnis an der Frankfurter Börse zu verkaufen. Wer das Projekt eines alternativen Deutschland vom Tisch fegt und Marx wie Lenin, Marxisten wie Leninisten ins Schattenreich verbannen möchte, der verkennt völlig den Wert von Haltungen, Handlungen und Charakteren. Spartacus wurde besiegt, beidseits der Via Appia schlugen die siegestrunkenen Römer 6000 gefangene Aufständische ans Kreuz. Mag sein, von den Besiegten kriechen nach der Schlacht immer welche freiwillig zu Kreuze. Wenn das ein aufrechter Gang sein sollte, haben die Schnecken Hochkonjunktur.

Erschienen in Ossietzky 23/2002