Johannes Rau, Bundespräsident. – Als Staatsoberhaupt haben Sie vor dem 22. September dringlich dazu aufgerufen, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Ihr Argument: "Auch wer nicht wählt, trifft eine Entscheidung. Wer nicht handelt, der wird behandelt." Der Gedanke, mit dem Sie den Bürgerinnen und Bürgern behilflich sein wollten, ist allerdings unvollständig. Auch diejenigen, die bei der Wahl ihre Stimme abgegeben haben (prozentual waren es weniger als vier Jahre zuvor), werden jetzt behandelt, und viele von denen, die am 22. September so gehandelt haben, daß Rot–Grün weiterregieren kann, werden sich gewiß noch wundern, wie sie in Zukunft behandelt werden.

Jürgen Rüttgers, CDU–Chef in Nordrhein–Westfalen. – Was manche Ihrer Freunde in der Unionsführung schon seit längerem denken, haben Sie nach der Bundestagswahl ausgesprochen und dafür Beifall in der Partei erhalten: Die Union brauche eine neue "strategische Option", die Partnerschaft mit den Grünen. Auf einen Wahlerfolg der gelben Junioren ist kein Verlaß, und zwischen der Union und den Grünen gibt es, wie Ihr Kollege Christoph Böhr (CDU–Landesvorsitzender in Rheinland–Pfalz) angemerkt hat, "Wertegemeinsamkeiten". Das wird, wenn die Machtarithmetik es erfordert, auch ehemaligen Turnschuhträgern einleuchten.

Olaf Scholz, General in spe. – Ein Veto des SPD–Parteitags ist nicht zu erwarten, also werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Auftrage von Gerhard Schröder neuer Chefmanager der SPD. Franz Müntefering wird an anderer Stelle gebraucht. In Ihrer bisherigen Parteiheimat Hamburg gelten Sie als "strammer Max"; Sie wollen, daß "Liberalität nicht mehr mit Laxheit verwechselt wird". Die politischen Ansichten des sozialdemokratischen Kanzlers haben Sie, nach eigener Aussage, "immer mit vertreten", und zwar "mit guten Gründen". Das werden Sie sicher weiterhin tun, auch wenn Gerhard Schröder immer mal etwas anderes einfällt. Gute Gründe für dies und für jenes wird ein fähiger Generalsekretär stets finden. Aber ob Sie so den Mitgliederschwund aufhalten können?

Ossietzky–Leserinnen und –Leser. – Vor fünf Jahren, Ende September 1997, wurde der Presse verkündet, daß Rolf Gössner, Arno Klönne, Otto Köhler, Reinhard Kühnl und Eckart Spoo unter Mitarbeit von Daniela Dahn, Dietrich Kittner und Peter Turrini die 1993 eingestellte Weltbühne wiederaufleben lassen würden. Die Null–Nummer werde Anfang Dezember erscheinen – wie es dann auch geschah, allerdings unter einem anderen Titel: Ossietzky. Denn gleich nach unserer Ankündigung kamen aus verschiedenen Ecken Ansprüche auf den Titel Weltbühne – obwohl der letzte Herausgeber und Chefredakteur, Helmut Reinhardt, ihn schon 1991 beim Bundespatentamt hatte schützen lassen und inzwischen uns zugesprochen hatte. Am heftigsten trat eine webe Verlags– und Beteiligungs–GmbH c/o MOZ GmbH auf, die mit der Satire–Zeitschrift Titanic in Verbindung stand. Diese Gruppe eröffnete später in Berlin–Mitte ein Speiselokal namens "Weltbühne", das sich aber nicht lange hielt. Für juristische Auseinandersetzungen, auf die wir uns eigentlich hätten einlassen müssen, fehlte uns beides: Zeit und Geld. Auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1997 stellten wir unsere Zeitschrift dann unter dem Titel Ossietzky vor. Die dramatische Gründungsgeschichte, nach der viele von Ihnen gelegentlich gefragt haben, hätte längst ausführlich erzählt werden sollen. Der verantwortliche Redakteur gesteht, daß auch noch andere versprochene Texte der Veröffentlichung harren. Der ewige Platzmangel. Carl von Ossietzky schrieb in der Weltbühne vom 10. Mai (als er die Haftstrafe antreten mußte, zu der ihn das Reichsgericht verurteilt hatte): "Alle Autoren, die ich zu lange auf den Abdruck ihrer Manuskripte warten ließ, bitte ich hiermit inständigst um Vergebung. Item alle, zu denen ich am Telephon sagte: Nächste Woche..." Eckart Spoo schließt sich den Worten des großen Vorredners an. Und in den nächsten fünf Jahren soll alles besser werden.

Erschienen in Ossietzky 20/2002