Der Friedhofsgärtner

von Barbara Thalheim/Leo Kettler

Der Friedhofsgärtner läßt die Schippe tanzen
Sie wirbelt hoch auf seiner rechten Hand
Er wirft sie in den blauen Friedhofshimmel
Als wollt er Nelken in die Wolken pflanzen
Sie dreht sich mehrfach über ihm,
fliegt hoch, steckt dann im Sand
Tagtäglich drehn sie ihre Pirouette
Der Friedhofsgärtner auf dem Rasenbette
Und seine Schippe über ihm, im Himmel
Zu Rhythmen, die aus seinem Walkman dröhnen
Tom Wayts und Piazzolas genialen Tangotönen

Friedhof Berlin–Neukölln – durch meine Fenster
Seh ich den Zauberlehrling mit dem Besen
So tanzen sonst nur weltentrückte Wesen
Wie hoffnungslos Verliebte und Gespenster
Auf leerem Marktplatz, wenn der Morgen graut
in einem Kaff, in das sich sonst kein Hund mehr traut
Berlin–Neukölln

Zehn Meter weiter wird ein Mensch begraben
Der Pastor redet, ich kann nichts verstehn
Die Trauergäste schmunzeln, denn sie haben
Dafür nicht Aug noch Ohr. Sie alle sehn
Zum Gärtner hin, wie er dahinten seine Schippe packt
Die in der Mittagssonne fröhlich blinkt
Und wie er über sie im Tangotakt
Als wäre sie ein Schlappseil, tanzt und springt
Man fragt sich, treibt ein Irrer hier sein Spiel?
Der schwebt davon – der Himmel, nur der Himmel ist sein Ziel

Doch wenn der Friedhofsgärtner hier ein Grab
Zu schippen hat, dann sieht er traurig aus
Er tanzt nicht mehr und stellt den Walkman ab
Holt keuchend aus der Tiefe Stein und Bein
Zuletzt schruppt er die Schippe wieder rein
Und nimmt sie wie schon immer mit nach Haus
Berlin–Neukölln

Der Friedhofsgärtner war in frühren Tagen
Enorm gefeiert worden als Artist
Der auf dem Hochseil, wie die Leute sagen,
In einem Zirkus aufgetreten ist
Doch plötzlich war sein Zirkus pleite, wie sein ganzer Staat
Was war zu machen ohne Job und Geld?
Er tauschte Zirkuskuppel gegen Himmelszelt
Nun tanzt der Friedhofsgärtner Tag für Tag
Mit seiner Schippe Tango ganz allein
So seh ich ihn vor meinem Fenster morgens um halb neun
Und viele Trauergäste, die ihn kennen
Wolln nur, wenn sie von dieser Welt sich trennen,
Daß er sie hier in der Neuköllner Erde
Begraben und zuletzt umtanzen werde
Der Mann, wo kam er her? Kaum einer weiß Bescheid
Man sagt, er kam von Osten, kam von weit:
Und daß er irgendwo bei Leuten pennt
Und, wenn ums Grab er mit der Schippe tanzt
Daß er als Zelt das ganze Firmament
Weit über Lebende und Tote pflanzt
Hier in Berlin–Neukölln

Friedhof Berlin–Neukölln – durch meine Fenster
Seh ich den Zauberlehrling mit dem Besen
So tanzen sonst nur weltentrückte Wesen
Wie hoffnungslos Verliebte und Gespenster
Auf leerem Marktplatz, wenn der Morgen graut
In einem Kaff, in das sich sonst kein Hund mehr traut
Berlin–Neukölln

Erschienen in Ossietzky 20/2002