Türkisierung von Amts wegen

von Uwe Reinecke

Seit zwei Jahren versuchen deutsche Behörden, mehr als tausend aus dem Libanon nach Deutschland geflohene Menschen abzuschieben: 500 allein in Bremen, mehrere hundert in Essen und dem übrigen Ruhrgebiet, 120 im Landkreis Northeim (Niedersachsen). Einige sind bereits abgeschoben worden, gescheucht auch durch eine öffentliche Kampagne. Die Ausländerbehörden hielten Pressekonferenzen ab, und die Zeitungen, unkritisch wie gewöhnlich, titelten daraufhin bundesweit: "Sozialhilfebetrug in Millionenhöhe". Der geneigte Leser sollte denken: "Kriminelle Asylanten."

Was war wirklich geschehen? Diese Menschen hatten im Libanon viele Jahre Bürgerkrieg erlebt. Sie wollten nicht töten und nicht getötet werden. Deswegen flohen sie nach Deutschland. Das geschah vor etwa 18 Jahren. Sie gehören einer arabisch sprechenden kurdischen Minderheit an. Ihre Vorfahren lebten im Osmanischen Reich und wanderten nach dem Esten Weltschlachten aus dem Gebiet der heutigen Türkei nach Syrien, Irak und Libanon, wo sie als staatenlos galten. Die Türkei türkisierte alle Minderheiten, kurdische und arabische Familiennamen wurden zwangsweise in türkische geändert – die in anderen Staaten lebenden Familienangehörigen aber behielten ihre angestammten Namen. Als sie nun die Flucht planten, besannen sich einige auf die Verwandtschaft in der Türkei und beantragten türkische Papiere, die sie auch erhielten. So bahnten sie sich den Weg nach Deutschland, der ihnen sonst versperrt gewesen wäre, denn die deutschen Behörden wissen es zu verhindern, daß Staatenlose aus dem Libanon einreisen. Andere kamen ohne Papiere.

In Deutschland leben sie mit arabischen Namen, sprechen arabisch und kein Türkisch. In der Türkei sind sie nie gewesen. Sie heirateten in Deutschland, bekamen Kinder, die hier zur Schule gehen, fanden Ausbildungs– und Arbeitsplätze, bezogen vorher Sozialhilfe. Nun sollten sie abgeschoben werden, doch Abschiebungen in den Libanon sind zur Zeit nicht möglich, wohl aber in die Türkei.

Da sich deutsche Behörden in der Identität eines Menschen besser auskennen als dieser selber, kommt jetzt der Betrugsvorwurf ins Spiel. Deutsche Amtspersonen haben selbstverständlich Brecht gelesen und wissen daher, daß der Paß der edelste Teil eines Menschen ist. Er wird anerkannt, wenn er gut ist. Ein Mensch kann noch so gut sein, muß aber nicht anerkannt werden. Was also taten die deutschen Behörden? Sie machten die Menschen ungefragt einfach zu Türken, und der Sozialhilfebetrug ließ sich dann ganz einfach begründen: Diese Menschen hätten sich ein Aufenthaltsrecht erschlichen, indem sie ihre "wahre" türkische Identität verschwiegen hätten. Denn hätten sie sofort ihr "Türkischsein" bekannt, dann hätten sie nicht in Deutschland bleiben dürfen und daher auch keine Sozialhilfe erhalten.

Gerichte wurden nun bemüht, um den in Deutschland geborenen Kindern mit arabischen Namen die von deutschen Behörden gewünschten türkischen Namen zu geben. Im Zusammenhang mit dem Betrugsvorwurf wurden Häuser durchsucht. In einem Kühlschrank fand man den klaren Beweis der türkischen Identität: türkischer Käse wurde in den Akten vermerkt.

Am 5. September sollte eine Familie aus dem Landkreis Northeim abgeschoben werden. Ein ärztliches Attest wies ein langfristiges Abschiebehindernis nach; medizinische Hilfe ist in der Türkei in diesem Fall nicht möglich, wie das Auswärtige Amt bestätigte. Der Landrat aber versuchte seinen Willen durchzusetzen. Ein Arzt sollte mitfliegen. In der Türkei würde der kranken Frau dann wohl irgendwie weitergeholfen werden.

Jetzt geschah etwas Unerwartetes. Kein Arzt wurde gefunden, der dieses Spiel des sozialdemokratischen Landrates mitspielen wollte. Im Gegenteil: Die Niedersächsische Ärztekammer erklärte, daß "die von der Ausländerbehörde des Landkreises Northeim verfügte ärztlich begleitete Abschiebung einer fünfköpfigen Familie nicht mit den ethischen Grundsätzen des Arztberufes zu vereinbaren" sei. Das Göttinger Verwaltungsgericht stoppte die Abschiebung.

Ein Bleiberecht für alle libanesischen (staatenlosen) KurdInnen in Deutschland ist damit nicht erreicht. Aber es zeigte sich, daß man gegenüber rabiater Abschiebepolitik nicht ohnmächtig ist. Mitglieder einer Gruppe, die sich für das Bleiberecht engagiert, lieferten für das Gerichtsverfahren wichtige Informationen und korrigierten das miserable Aktenmaterial des Landkreises.

Erschienen in Ossietzky 20/2002