... weiß der Wolf

von Käthe Reichel

Vor ungefähr zwei Monaten las ich in der International Herald Tribune einen Artikel über den bevorstehenden Wahlkampf in Deutschland. Er prophezeite dem deutschen Leser und natürlich dem deutschen Wähler, der jetzige Kanzler werde "im Wahlkampf zum Wolf werden".

Da ich alt bin und da alte Leute sich bekanntlich intensiver an ihre Kindheits erfahrungen erinnern, fielen mir bei diesem Wort sofort Grimms Märchen ein, auch gleich die bekannte Stelle, wo es heißt: "Wie das Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wußte nicht, was das für ein Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm."

Aber als Kind fürchtet man sich, wenn vor dem Einschlafen der Wolf Augen und Ohren aufreißt und empfindsameren Seelen im Morgengrauen noch einmal im Alptraum lebendig am Bettrand erscheint, wenn er in einer weißen Nachtjacke und der großen Haube der Großmutter auf dem Kopf jetzt zu dir ins Bett will, um sich dort breit zu machen, bis das leckere Rotkäppchen kommt und fragt: "Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?" und er perfekt in deutscher Sprache antwortet: "Daß ich dich besser fressen kann." Kaum hat der Wolf das geantwortet, tut er einen Satz aus dem Bett und verschlingt das arme Rotkäppchen ganz. Kindliche Seelen glauben im Alptraum daß sie selber das arme Rotkäppchen sind, das verschlungen wird, wenn er springt. Dann schreien sie im Bett, schreien: Nein! Nein! Nein! Bis sie vom eigenen Schrei hochfahren und felsenfest glauben, daß es kein Traum war. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen, sagen sie, sein Gebiß, sein rotbraunes Fell, als er mich mit geöffnetem Maul schlucken wollte. Vorher, erzählen sie aufgeregt, hat er immer drumrumgeredet und gesagt: Er habe so große Ohren, damit er mich besser hören kann, und so große Augen, damit er mich besser sehen kann. Und die großen Hände, damit er mich besser packen kann. Er hat auf alle Fragen immer drumrumgeantwortet, so daß man gar nicht wußte, was er meint, was er will, was er vor hat. Er ist auch gar nicht eingeschlafen wie im Märchen, und ich konnte hinterher gar nicht rufen: "Wie war es so dunkel in dem Wolf seinem Leib?", denn ich kam gar nicht mehr aus ihm raus, und da war auch kein Jäger weit und breit, der mich jetzt aus dem dunklen Leib herausholte, bis ich mich selber schreien hörte: Nein, nein, nein! Da war ich auch schon wach, hellwach und hatte aus dem alten Märchen erfahren: daß man laut schreien muß, bevor man gefressen wird. Schon beim Drumrumreden sofort mit der Faust auf die christliche Bibel haun, daß die Fetzen fliegen, und zitieren: "Deine Rede sei ›ja, ja‹, ›nein, nein‹, was darüber ist, ist von Übel."

In einem zweiten Märchen erzählen die Gebrüder Grimm von einem durch vieles Reden ständig heiseren Wolf, der sogar weiße Kreide frißt, damit sich seine Stimme wie die Stimme eines Menschen anhört, wenn er seine meterlangen Lügen hinter dem Fenster hält und mit dieser menschlichen Stimme sechs dumme Geißlein auf einmal einfängt. Das kam daher, weil er sie dreimal hintereinander so nach Strich und Faden belog, daß sie ihm beim vierten Mal glaubten. Weil er es nicht bei der ersten Lüge beließ, weil er sie wiederholte, glaubten sie ihm dann aufs Wort; denn der von den Menschen ausgekundschaftete Satz "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" gehört unter den vielen dummen Sätzen, welche die Menschen sich ausbaldowert haben, zu den dümmsten - weiß der Wolf.

Erschienen in Ossietzky 19/2002