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Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft« geht zurück auf ein Gespräch zwischen Günter Grass und dem kürzlich verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu, zu dessen meistdiskutierten Veröffentlichungen das umfangreiche Werk »La misère du monde« gehörte (deutsch »Das Elend der Welt«, Konstanz 1997). Unser Buch verfolgt ein ähnliches Anliegen, doch von Anfang an war uns klar, daß wir uns der Dramatik der Wirklichkeit mit einer anderen Methode nähern müßten. Und das nicht nur, weil es hierzulande keine vergleichbaren soziologischen Forschungen gibt, auf die man aufbauen könnte, und auch kein »Ministerium für Kultur und Kommunikation«, das die Veröffentlichung unterstützen würde. Sondern weil die Aufnahmebereitschaft für pure oral history, für ausführliche, »brutal unverzeichnete« Interviews hier vermutlich geringer ist. Die Faszination für Tonbandprotokolle liegt lange zurück. So haben die Herausgeber den 40 Autoren, darunter nicht wenige, die auch in Ossietzky veröffentlichen, weitgehend freie Hand gelassen, inwieweit sie ihre Gespräche mit literarischen Mitteln zu Reportagen, Portraits und Geschichten verdichten wollten. Thema sind die Verwerfungen in einem reichen Land, das alltägliche Unglück, welches sozialer Abstieg oder die Angst davor mit sich bringen. Trotz Wohlstand und relativer sozialer Sicherheit wirken die Mechanismen der traditionellen Ausgrenzung, wird Chancengleichheit zur Illusion. »Auch außerhalb unsrer Sphäre leben andre Leute ein Leben: das ihre.« Was Kurt Tucholsky ironisch auf den Punkt bringt, ist scheinbar eine Selbstverständlichkeit. Und doch beschreibt er einen symptomatischen Mangel, der sich erhalten, wenn nicht verschärft hat: Wir leben nebeneinander, nicht miteinander. Wir wissen letztlich herzlich wenig vom konkreten Dasein der Menschen, mit denen wir nicht unmittelbar zu tun haben. Das gilt um so mehr für die Schichten, die in der Öffentlichkeit nicht oder nicht ausreichend zu Wort kommen – weil ihr Leben auf den ersten Blick nicht nur unspektakulär ist, sondern in seiner trostlosen Unausweichlichkeit auch ein Anklagepotential enthält, das wahrzunehmen wir uns ganz gern ersparen. Hat sich doch eine Ahnung in uns erhalten über einen verhängnisvollen Zusammenhang: Es geht vielen Leuten nur deshalb recht gut, weil es noch mehr Leute gibt, denen es recht schlecht geht. Eben deshalb ist die Kommunikation zwischen oben und unten nicht zufällig gestört. Wenn schon die horizontalen Informationskanäle verstopft sind, so gilt dies erst recht für die vertikalen. Die Autoren dieses Buches haben sich vorgenommen, durch schlichtes Zuhören und Aufschreiben denen eine öffentlich wahrnehmbare Stimme zu geben, die sonst keine haben. Ihnen sollte Gelegenheit gegeben werden, die tiefe Unzufriedenheit mit ihren Lebensbedingungen zum Ausdruck zu bringen. In der Annahme, daß durch die Summe der Einzelfälle eine Dimension von alltäglichem Frust entsteht, die schwerer zu verdrängen ist als die meist verkürzten Einzelschicksale, die in den Medien gelegentlich vorkommen. Für jeden zweiten Europäer ist die Arbeitslosigkeit die größte Sorge im Leben. Folgerichtig konzentrieren sich unsere Beiträge auf die zentralen Themen: Wie man sich für eine Arbeit bildet, wie man Arbeit bekommt, wie man Angst hat, sie zu verlieren, wie man sie verliert, wie es ist, wenn man keine Arbeit hat. Wie fließend dann die Übergänge zu Leih- und Schwarzarbeit sind. Wie das Überangebot von Jobsuchenden zu sozialem Dumping führt und Integration nur um den Preis der radikalen Selbstausbeutung möglich wird, wenn überhaupt. Wie all das krank macht. Wie der Konkurrenzdruck jeden Lebensbereich erfaßt – auch intellektuelle Tätigkeiten, bei denen es nicht selten zu Selbstzensur kommt. Wie insbesondere das Fernsehen mit seinem gewaltstrotzenden Verblödungsprogramm zur Gefahr für die Demokratie wird. Den Kapitalismus begleitet die Ideologie der Selbstsucht und des irrationalen Individualismus, die das Gefühl für Zusammengehörigkeit zerfrißt und die Menschen vereinzelt. Ein Freiheitsbegriff, der sich weitgehend aus der ökonomischen Struktur erklärt und von aller Gemeinschaftlichkeit abgelöst ist, muß zu Selbstüberforderung führen. Die strukturelle, wirtschaftliche Gewalt demoralisiert zwangsläufig und führt zu Gewalt der Menschen untereinander: zu Kriminalität, Rassismus, Alkohol- und Drogenkonsum. In dieser Atmosphäre sinkt die sowieso geringe Toleranz gegenüber Minderheiten weiter, was besonders Ausländer und Asylbewerber zu spüren bekommen. Aber auch die staatliche Toleranz gegenüber Abweichlern oder Protestgruppen läßt nach. Wiederum nicht zufällig, treffen die Repressionen zunehmend gerade die jungen Leute, die sich für Demokratie in der Wirtschaft einsetzen, wie die Anti-Atombewegung oder die Globalisierungsgegner aus aller Welt. Heraus kommt ein Parallelogramm der Kräfte, in dem die Dargestellten und die Autoren, die Herausgeber und der Verlag die Vektoren bewegt haben. Die Beiträge veranschaulichen, daß die Ursachen für das »Leiden an der Gesellschaft« im Zentrum eines Staates liegen, der sich selbst immer mehr der Logik der Privatwirtschaft unterwirft. Pierre Bourdieu: »Man ist dabei, die europäische Staatszivilisation, die mehrere Jahrhunderte gebraucht hat, um sich zu entwickeln, zu zerstören – und das im Namen des dümmsten Gesetzes der Welt, nämlich der Gewinnmaximierung.« Das heißt, der Staat müßte sich mehr gegen den »Terror der Ökonomie« wehren, sich im eigenen Interesse für die Rückgewinnung des Primats der Politik engagieren, um sich für das Gemeinwohl stark machen zu können. Ja, warum in aller Welt tut er das denn nicht? Weil aus der Perspektive einer mächtigen Lobby, der so mancher Staatsdiener durchaus nahe steht, das Gesetz der Gewinnmaximierung alles andere als dumm ist. Auf die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte »entfallen« 42 Prozent des gesamten Privatvermögens, während sich die untere Hälfte aller Haushalte 4,5 Prozent der Bestände teilen muß. »Für die Bundesregierung ist die Existenz von Armut, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung in einem wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik Deutschland eine Herausforderung«, heißt es in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht von 2001. Wer nicht bereit ist, radikaldemokratisch einer Umverteilung zugunsten der Habenichtse zuzustimmen (nach Art. 14 und 15 GG), wird dieser Herausforderung nicht gerecht werden – auch das sollen die in unserem Buch zusammengetragenen Geschichten nachvollziehbar machen. Was die darin geschilderten verschiedenartigsten Schicksale letztlich verbindet und, wie wir hoffen, eine Brücke zur Anteilnahme der Leser baut, ist der allen eigene Anspruch auf Glück. Günter Grass, Johano Strasser, Daniela Dahn (Herausgeber): »In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft«, Steidl Verlag Göttingen, 672 Seiten, 34 €.
Erschienen in Ossietzky 18/2002 |
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