Archibald als Penner

von Manfred Hocke

Ein Freund, den Archibald von früher her kannte und der jetzt Produzent bei einer sogenannten Daily-Soap-Opera war – Archie verstand diesen Begriff nicht –, rief an und plauderte: »Hör zu, alter Junge, wir brauchen für eine kleine Rolle einen gemütlichen Pennertyp, leicht versoffen, mit grauem Bart, aber unverzagt. Du könntest so ein Unikum spielen, wir zahlen hier sehr gut, das Buch ist schon unterwegs!« Kurz darauf klingelte es, ein junger Mann gab ihm ein Manuskript und rief euphorisch: »He, Dad, du bist okay! Du packst es, alles paletti, übermorgen drehen wir. Dein Kostüm kann so bleiben wie es ist« – und verschwand.

Archie sah an sich herunter und fand sich nicht pennerhaft. Er kaufte sich die Obdachlosenzeitung Die Platte und verbrachte den Abend in einer Wohnwagen-Kolonie in Berlin-Kreuzberg. Da erfuhr er, was ein Penner ist: »Du wirst irgendwie plötzlich obdachlos, und dann sagen die anderen zu dir >Penner>, weil du nicht weißt, wo du pennen sollst.« Auf seine Bitte hin gaben ihm die Männer im Wohnwagen Sprech- und Bewegungsunterricht und schüttelten sich vor Lachen, wenn er sie mit verstellter, heiserer, kratzig-kehliger Stimme nachahmte. »Zum Penner fehlt dir noch 'ne ganze Menge!« Archie gab ihnen zum Abschied noch ein »Pfund« für Nachschub, und einer rief: »Komm wieder, Archie, bei uns kannst du lernen, wie das Leben wirklich ist! Am besten du packst deine Klamotten über Nacht in die Mülltonne und versuchst, sie am nächsten Morgen wieder sauber zu klopfen, dann wirkt es echter!«

Am nächsten Tag las Archie das Manuskript und fand keinen Ausdruck und keine Wendung wieder, die er bei seinen neuen Freunden im Bauwagen gelernt hatte. Er brachte Korrekturen an und lernte den Text. Am Tag darauf wollte man Archie nicht ins Studio lassen, weil der Pförtner ihn für einen Penner hielt. Sein früherer Freund, der Produzent, rettete ihn und klagte: »Meine Fresse, du siehst ja aus, als hätte man dich durch die Wolhynisch-Podolischen-Sümpfe geschleift, komm erst mal in die Kostümabteilung!« Archie erklärte: »Das gehört zu meinem Rollenstudium!« »Paperlapapp,« entgegnete der Freund von früher mit schrägem Blick: »das kommt in der Kamera nicht!«

Als Archie mit Kostüm und Maske zurückkam, kam er sich vor wie ein Operettenkomiker. Während der Aufnahmen sagte einer: »Was redet der denn bloß für einen Text?« Der Regisseur aber brüllte los: »Laß ihn doch, die Texte sind ohnehin alle beschissen, so kriegen wir wenigstens einen Hauch von Realität!«

Am nächsten Abend rief der frühere Freund an und ächzte mit Grabesstimme: »Archie, du kriegst die Gage, aber wir mußten den ganzen Komplex rausschmeißen! Wir brauchen einen Kunst-Penner, du warst zu realistisch! Gesucht wird ein Lebenskünstler, der eigentlich nur Penner sein will und nichts anderes, ein Typ, der stolz darauf ist, Penner in der BRD zu sein, ein patriotischer >Profi-Penner< sozusagen. Dein Penner fiel aus dem Figuren-Ensemble, das – unter uns gesagt – auch nicht realistisch ist, verstehst du?« Archibald verstand. Er begriff jetzt auch, warum die Mitarbeiter die Serie »Meine Fresse, deine Fresse« nannten, obwohl sie anders hieß. Und »Daily-Soap«. Das ist wohl die Seife, mit der die Zuschauer täglich eingeseift werden. 4,5 Millionen Einschaltquote. Selbstverdummung ist schlimmer als Selbstverstümmelung – dachte Archie.

Uwe Kunstreich, Archibald in der Ausbildung zum "obdachlosen Penner" (29. Apr. 2006, 17:52)

Erschienen in Ossietzky 17/2002