Armut wird im öffentlichen Bewußtsein bestenfalls am Rande wahrgenommen; ansonsten gilt: wer arm ist, hat selbst Schuld.
Armut wird im öffentlichen Bewußtsein bestenfalls am Rande wahrgenommen; ansonsten gilt: wer arm ist, hat selbst Schuld. Zwar haben Sozialverbände und Gewerkschaften mit ihren Armutsberichten wiederholt auf den Skandal der Massenarmut in Deutschland hingewiesen, und die Bundesregierung hat erstmals im Jahr 2000 einen Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt und damit die zunehmende soziale Polarisierung anerkannt. Faktisch hat das jedoch nichts an einer Politik geändert, die einen Teil der Bevölkerung in wachsendem Maße zu sozialen Parasiten umdefiniert und immer mehr in prekäre, erniedrigende Armutslagen drängt. Gegen dieses gesellschaftliche Klima der Ausgrenzung und der Verdrängung des Armutsproblems wendet sich ein in diesem Jahr erschienenes Memorandum der Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das sich kritisch mit dem Armutsbericht der Bundesregierung auseinandersetzt und die offiziellen Zahlen in den gesellschaftlichen Kontext einordnet.
Als arm gilt offiziell ein Haushalt, der über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens verfügt. Diese Armutsgrenze lag 1998 bei 1.332 EUR, wobei im Durchschnitt 2,2 Personen in einem Haushalt lebten. Eine erschreckend große Minderheit von über acht Millionen Menschen befindet sich demnach in der Bundesrepublik in Armut. Besonders Migranten und alleinerziehende Frauen sind überdurchschnittlich oft von Armut betroffen, Kinder sind für viele Menschen in unserer Gesellschaft ein Armutsrisiko. Wer arm ist, wird häufiger krank, hat eine niedrigere Lebenserwartung, geringere Bildungschancen und weniger Möglichkeiten, seine Lebenssituation grundlegend zu verbessern.
Im Vergleich zu den Lebensbedingungen vieler Menschen in der Zweiten und Dritten Welt mag die Armut in den industriellen Metropolen zwar als ein relativ kleines Problem erscheinen - für die Wissenschaftler der Loccumer Initiative geht es jedoch um Grundsätzliches, wie Oskar Negt in der Einleitung ausführt: So wie die Probleme der eigenen Gesellschaft angegangen würden, "wird sich auch die Globalisierung gestalten lassen". Zudem habe in einer Gesellschaft mit industrialisierter Kultur und Kommunikation die Armut einen anderen Charakter bekommen, wie das Memorandum herausarbeitet: Wer früher mit wenig Geld wenn auch eingeschränkt am sozialen Leben teilhaben konnte, sei heute davon weitgehend ausgeschlossen. Die Zerstörung der öffentlichen Infrastruktur von kommunalen Schwimmbädern bis zu Stadtteilbibliotheken verfestige diese Entwicklung - eine Tendenz, die bei der alleinigen Betrachtung der Einkommensverhältnisse überhaupt gar nicht berücksichtigt werde.
Von Armut sind zudem weit mehr Menschen betroffen, als die Zahlen auf den ersten Blick vermuten lassen: Viele Menschen sind nur vorübergehend arm, könnten aber ihren Lebensunterhalt dauerhaft aber nur mit großer Mühe aus eigener Kraft sichern. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung ist von Armut unmittelbar betroffen oder bedroht. Das sei, so das Memorandum, "deshalb so dramatisch, weil infolge der Erosion von Solidarität auch die Hoffnungen armer Menschen, von ihren staatsbürgerlichen Freiheiten und produktiven Fähigkeiten zukünftig wieder sinnvoll Gebrauch machen zu können, zerstört werden". Die Übertragung der Konkurrenzlogik in die sozialen Beziehungen zerstöre den gesellschaftlichen Zusammenhalt, untergrabe demokratische Prinzipien und setze Gewalt frei. Anfällig für aggressive Vorurteile und Formen der "verwilderten Selbstbehauptung" seien insbesondere diejenigen, die sich vom sozialen Abstieg bedroht sehen und denen die Erfahrung solidarischer Gegenwehr fehle. Es bestehe "die akute Gefahr eines Zusammenwachsens von noch virulenten, weiterwirkenden sozialdarwinistischen und rassistischen Mentalitäten aus der Nazizeit mit neuartigen wohlstands-chauvinistischen antisozialen Einstellungen und einer populistischen neo-liberalen Propaganda und Politik".
Die offizielle Politik verschärfe die soziale und politische Polarisierung, wie im Memorandum kritisiert wird: Mit der geplanten Absenkung der Sozialhilfe und deren Zusammenlegung mit der Arbeitslosenhilfe etwa würde der Druck auf die unteren sozialen Schichten verstärkt werden. Die Orientierung an US-amerikanischen Modellen, wie sie der neoliberale Mainstream propagiere, führe zu einer Kombination von repressiver Kontrolle und "autoritärer Umerziehung der Armen mit kommerzialisierter Armutsbekämpfung durch öffentlich finanzierte profitorientierte Unternehmen". Diese Politik sieht das Memorandum in Zusammenhang mit der Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Schon jetzt schütze ein Erwerbseinkommen nicht zwangsläufig vor Armut: 7,6% der Erwerbstätigen beziehen Einkommen, die sie nicht über die Armutsschwelle bringen. Bislang schütze die Sozialhilfe noch vor einer ungezügelten Senkung der unteren Einkommen, da sie wie ein Mindestlohn wirke. Eine Senkung der Sozialhilfe und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe würde dagegen die Zahl der "working poor" vergrößern und den Druck auf die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen. Der Kampf gegen die Armut sei daher nicht nur eine Frage von Solidarität, sondern unmittelbar im eigenen Interesse der lohnabhängig Beschäftigten. Das Memorandum plädiert daher für eine Verteidigung der zumindest auf bescheidenem Niveau grundsichernd wirkende Sozial- und Arbeitslosenhilfe, "solange das Lebensrisiko der Arbeitslosigkeit nicht durch eine deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegende Grundsicherung abgesichert" sei.
Die neo-liberale Politik, so macht das Memorandum deutlich, zielt aber nicht in erster Linie auf die Armen: "Die Angst vor dem sozialen Abstieg in die Armut betrifft nicht nur die unteren sozialen Schichten, sondern auch wachsende Teile der angeblichen Globalisierungsgewinner, deren Interesse an sozialer Sicherheit politisch und sozial nicht mehr repräsentiert wird". Der Adressat des Memorandums ist daher auch nicht in erster Linie das (partei)politische Establishment, sondern die breite Schicht derjenigen, deren Unbehagen an der vorherrschenden Politik wächst und deren soziale Interessen mittelbar durch die zunehmende Ausgrenzung der Armen betroffen sind. Notwendig sei eine "oppositionelle Bewegung gegen Armut und Ausgrenzung", die sich mit "den entstehenden internationalen Bewegungen für radikale Strukturreformen mit systemüberwindender Zukunftsperspektive" verbinde. Auch wenn es diese erst in Ansätzen gibt - das Memorandum zeigt deutlich, daß auch ein Teil des intellektuellen Spektrums zunehmend auf Distanz zu den etablierten politischen Kräften geht.
Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht. Ein Memorandum. Mit einer Einführung von Oskar Negt, Kritische Interventionen Bd. 7, Hannover 2002.
https://sopos.org/aufsaetze/3d668a229d5f1/1.phtml
sopos 8/2002