Nehmt 20 Millionen Iraker auf!

von Erika Kosse

Da nun die USA, politisch repräsentiert durch Manager und Großaktionäre der Ölindustrie, mit ihren Verbündeten die Vernichtung des Irak planen – und zwar nicht weil Präsident Saddam Hussein zu wenig demokratisch ist oder weil er vielleicht Waffen entwickeln läßt, über die aus US-amerikanischer Sicht möglichst nur die USA selber verfügen sollen, sondern weil die US-Konzerne an die irakischen Ölvorräte heranwollen –, steht jeder, der dieses Interesse nicht teilt, sondern den Krieg und seine Folgen fürchtet, vor der Frage: Was tun?

Ich habe einen Vorschlag, in dem inspirierende Kraft stecken könnte: Wir müssen die Evakuierung der irakischen Zivilbevölkerung fordern, genau gesagt: ihre Aufnahme in die NATO-Staaten.

Das ist menschen- und völkerrechtlich notwendig, und ich halte es auch für realistisch – wenngleich es auf den ersten Blick wahnwitzig erscheinen mag. Es ist jedenfalls weit weniger wahnwitzig als der geplante Krieg, zumal wenn er als Atomkrieg geführt wird, wie man in Washington ernsthaft erörtert; in der Debatte um den Internationalen Strafgerichtshof haben sich die USA auch schon Straffreiheit für alle Kriegsverbrechen zusichern lassen, die ihre Politiker und Militärs in den nächsten zwölf Monaten begehen werden.

Realistischer als die Hoffnung, imperialistische Kriege allein mit dem Sammeln von Unterschriften unter den Wunsch nach Frieden verhindern zu können, ist mein Vorschlag allemal. Die Forderung nach Evakuierung der irakischen Zivilbevölkerung (über 20 Millionen Menschen) könnte, gerade weil sie auf den ersten Blick wahnwitzig erscheint, helfen, die Sperre des öffentlichen Bewußtseins zu brechen. Sie könnte den Wahnwitz des Anspruchs nun auch auf dieses Land bewußt machen. Sie könnte zeigen, daß es den Irakern unmöglich ist, sich vor den geplanten »Vernichtungsschlägen« zu schützen. Und sie könnte die Dimensionen verdeutlichen, die dieser Krieg für seine Mitmacher und im Weltzusammenhang hat.

Wer brav den offiziellen Darstellungen glaubt, der Krieg richte sich nur gegen »den Diktator« und dessen Aufrüstung, und wer auf die Verpflichtung zur Humanität vertraut, die noch zum machterhaltenden Image der NATO-Regierenden gehört, wird sich der Logik nicht entziehen können, daß die Zivilbevölkerung davor bewahrt werden muß, unschuldiges Opfer des Krieges zu werden. Insofern könnte die Forderung nach ihrer Evakuierung als Auflage erscheinen, unter der ein Angriffskrieg als »gerechter Krieg« geführt werden dürfte. Gerade in ihrer Konkretheit konterkariert diese Forderung aber jede Vorstellung vom »gerechten Krieg«. Je konkreter sie als Angebot der Humanität und Solidarität der Völker formuliert wird, desto wirksamer wird die Auflage zur Gegenmaßnahme. Detaillierte Aufklärung über die bisher geleugneten immensen Schäden, die der NATO-Bombenkrieg in Jugoslawien angerichtet hat, und über die zumeist verschwiegenen Leiden der Zivilbevölkerung in anderen Kriegen – bis hin zu den heutigen Militäraktionen der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Afghanistan – wird dazu beitragen, daß die geforderte Evakuierung als humanitäre Notwendigkeit und die Kriegsplanung gegen den Irak als inhuman erkannt wird.

Aus meinem Vorschlag ist nicht abzuleiten, daß dem irakischen Volk das Recht auf Selbstverteidigung bestritten würde – auch nicht unter der Prämisse, daß gegenüber der militärischen Übermacht der USA und ihrer Verbündeten Selbstverteidigung unmöglich ist. Selbstverteidigung bleibt in der Freiheit eines Volkes, das seine Würde und staatliche Souveränität gegen das große Sterben der Menschen, das Verderben des Landes und der Kultur abwägt und seinen eigenen Weg durch die Apokalypse bestimmt, in der wir uns befinden.

Mark-Arne Fuhl, Brilliant (11. Aug. 2002, 18:40)

regimekritiker, ich staune! (13. Aug. 2002, 16:21)

Erschienen in Ossietzky 15/2002