Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Unser russisches Jahrhundert?von Leonhard Kossuth Fritz Mierau hatte seine mit Beifall bedachte Lesung aus Mein russisches Jahrhundert im dicht besetzten Literaturforum im Brecht-Haus beendet, da fragte Franz Rump, einst Chefredakteuer des Westberliner DSF-Journals, woran wohl vor einem Jahr das von ihm vorbereitete Podiumgespräch »Unser russisches Jahrhundert« mit Fritz Mierau, Ralf Schröder, Leo Kossuth gescheitert sei. Mieraus Buch, kürzlich bei Nautilus in Hamburg erschienen, legt mir eine andere Frage nahe: War es denn unser russisches Jahrhundert? Mieraus Arbeit besticht als glänzende Autobiographie, sie vermittelt seine Sicht auf die Wirklichkeit und auf seinen Platz in ihr. Bewundernswert ist, welche Kontinuität er – schon von den Kindheiterlebnissen her – in seinem Lebensweg herausarbeitet, welche Logik seiner Hinwendung zur russischen Literatur, der kompromißlosen Hingabe an die Projekte seiner Wahl innewohnte. Als Autobiographie nicht anzufechten, fordert das Buch aber Autoren mit anderer Sicht auf die Wirklichkeit zur Gegenüberstellung heraus – schon gar, wo sich ihre Wege mit den seinen kreuzten. Geradezu den Angelpunkt einer solchen Alternativsicht bildet für mich Mieraus Aufzählung der in einem ersten Universitätslehrprogramm ungenannten russischen Autoren: von Babel, Schklowski, Pasternak, Mandelstam, Zwetajewa, Tynjanow, Tretjakow, Platonow bis zu Samjatin, Olescha, Bulgakow. Diese Liste belegt einen Gipfelpunkt der vom Dogmatismus in der UdSSR ausgehenden Verfälschung der Literaturgeschichte. Aber ich kann diese Namen nicht lesen, ohne an einen entgegengesetzten Vorgang zu denken, an dem nicht einzelne Lektoren, sondern DDR-Verleger und Verlage mit einer Vielzahl engagierter und qualifizierter Mitarbeiter beteiligt waren. Babel zum Beispiel stand schon im Verlagsprogramm von Kultur und Fortschritt, als ich im Januar 1958 dort anfing. Ihm galt mein erstes Gutachten im Verlag, de facto schon ein Positionspapier zur Verlagspolitik. Als Cheflektor des Verlags lud ich Mierau ein, ein neues Vorwort zu schreiben. Zu mehr als der Hälfte der Autoren auf Mieraus Liste ließe sich allein für Volk und Welt belegen, wie sie teils ohne, teils trotz Schwierigkeiten deutsch herausgegeben wurden – sorgfältig ediert, von BRD-Verlagen gern in Lizenz übernommen. Nach Widerspruch verlangt die Sicht auf verlegerische Prozesse. Die Literaturarbeitsgemeinschaften (LAG) – dienten sie »tatsächlich als Zensurinstrument«? Selbst an die zwanzig Jahre Vorsitzender der LAG Sowjetliteratur, berufe ich mich hier auf Hans Looses, des zeitweiligen Reclam-Lektors, von Mierau zitierten Brief. Da gab es eine Sitzung wie üblich, man »haspelte sein Zeug ab«, die Frage nach dem bösen Pasternak stand an – da »riß ich das Maul auf«, es gehe nicht nur um seinen Shiwago, »wesentlich sei er als Dichter« usw. Und siehe da: »Das wurde auch akzeptiert.« Tatsächlich versammelte die LAG alle, die als Wissenschaftler oder Praktiker kompetent und zur Teilnahme bereit waren. Was sie bei den Plan-Diskussionen bewirkten, hing auch von ihrer Engagiertheit ab – ungeachtet vorhandener Editionshindernisse. Einen Pasternak-Lyrikband veröffentlichte Volk und Welt 1969, bei Reclam Leipzig erschien Pasternaks ausgewählte Prosa erst 1986 (»Luftwege«), und der erste Band der noch zu DDR-Zeiten konzipierten Pasternak-Sammelausgabe bei Aufbau kam gar erst 1991 heraus. Volk und Welt konnte natürlich weder ein Mierau- noch ein Schröder-Verlag werden. Der Verlag hatte die Bedürfnisse eines großen, heterogenen Publikums zu befriedigen, sicherte tatsächlich verlegerische Pionierarbeit gelegentlich mit Zugeständnis-Titeln ab. Interessant wären die heutigen, bei völliger editorischer Freiheit sich auf dem Büchermarkt ergebenden Relationen zwischen künstlerischer »Kür« und dem Profit Geschuldetem. Für Volk und Welt war Mierau gerade als der »Exzentriker« ein willkommener Partner – als Herausgeber wie als Nachwortautor oder Anreger (Mandelstam, Tynjanow, Marienhof, Block, Sprache und Stil Lenins). So, wie es die Stärke des Verlags ausmachte, daß er als Lektoren und Redakteure hochqualifizierte, eigenwillige, Widersprüche einbringende Persönlichkeiten in seinem Haus versammelte. Da Mierau Briefe von Ralf Schröder zitiert, die Verunsicherungen hinsichtlich seiner Stellung im Verlag spiegeln (die Kritik »einiger milder Damen wegen seiner forcierten Originalität« ist freilich ein Traum), will ich eine seiner mir zugeeigneten Widmungen anführen, die fast eine Bilanz zieht. In der dtv-Ausgabe von Bulgakows »Die weiße Garde« mit Kapiteln aus der Urfassung des Romans schrieb er am 27. Januar 1998 unter Anspielungen auf eigene Nachworte: »Leo zur guten Erinnerung an unsere DDR-Zeit, mit Dank für den Erstdruck des Textes und des Podtextes 1968, mindestens 80% der Nach-Katastroika-Fassung, des Verständnisses, was es heißt, ›wir sind besiegt‹ (S. 400), und daß es keine endgültigen Zäsuren gibt...« (»Katastroika« ist ein russischer volkstümlicher Name für »Perestroika«, »Podtext« für erkennbar Unausgesprochenes.) Im übrigen – aber da denke ich schon an den Widerhall auf Mieraus Buch, besonders an Klaus Bellins Rezension – hatte Schröder so vielfältige Verdienste, daß er nicht mit der Behauptung geschmückt werden muß, er habe im Verlag »Bulgakow durchgesetzt«; entgegen anderen Projekten mußte Bulgakow weder im Verlag noch außerhalb »durchgesetzt werden«. Nach Widerspruch verlangt ein Kapitel von Mieraus Autobiographie, das in gewissem Sinne die Grundlage für seine Sicht auf erlebte Wirklichkeit bildet. Sein »Willkommen in Utopia!« ist für sich genommen eine glänzende Satire. Was soll man auch dagegen sagen, wenn er den Bogen schlägt von der »Werkstatt der Gentlemen-Bolschewiken«, in der an »mächtigen Zaubermaschinen zur Welterlösung gearbeitet« wurde (Majakowski, Samjatin, Platonow usw), zur »Lachküche«, in der die Begegnung mit den »Kostümierten« (mit Babel, Tretjakow, Gladkow) zu der Frage führt: »Von wem möchtest du lieber erschlagen werden?« Keine Berufung auf andere blutige Exzesse in der Geschichte schafft diese Anklage gegen die stalinistische Pervertierung der »Utopia« aus der Welt. Aber wenn schon nach der Sicht auf die Wirklichkeit gefragt wird: Erweist sich nicht im heutigen Weltzustand, daß die gesellschaftlichen Probleme, deren erhoffter Lösung – vielfach doch realisiert – mit Majakowski und anderen auch Chlebnikow, Jessenin ihr Willkommen schenkten, nun erst recht ungelöst sind und neue Katastrophen versprechen? Jetzt ist es der ökonomische Totalitarismus (Robert Kurz), aus dem Abscheulichkeiten hervorgehen – von Krieg bis zum Amoklauf des in der Gesellschaft Vereinsamten. Nicht »Utopia«, sondern global-kapitalistisches Profit- und Machtstreben sind daran schuld! Unakzeptabel ist es schließlich, die »ungewöhnliche Nähe« der russischen Philologie zur Exekutive über die Ehemänner von Mirowa-Florin, Nyota Thun, die Seminarleiterin Emmi Wolf zu personifizieren. Ließen sich so nicht auch umgekehrte Rechnungen aufmachen? (Der künftige »Literaturminister« Klaus Höpcke als Student von Ralf Schröder! Der Ehemann einer als »Staatsfeindin« Verurteilten – nämlich ich – als Cheflektor!) Mieraus russisches Jahrhundert umfaßt eine literarische Welt, der gegenüber uns vieles verbindet. Lese ich fast am Ende seines Buches von »Entwürfen für die Übertragungen aus der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts...«, die Mierau »seit den sechziger Jahren besonders am Herzen gelegen« haben, so sehe ich mich auf einem Feld, auf dem wir bei unterschiedlicher Spezialisierung Verbündete waren und sind. Engagement für die deutsche literarische und verlegerische Rezeption russischer Literatur kann auch nicht an Mieraus glänzender sprachlichen Interpretation von Gabriele Leupolds Bely-Übersetzung (»Petersburg«) vorbeigehen. Mein eigenes Verhältnis zu einem russischen Jahrhundert muß ich dennoch insofern modifizieren, als für mich zum großen Erlebnis nicht nur die russische Literatur geworden ist, sondern die nationale Literaturen-Vielfalt der einstigen Sowjetrepubliken. Fritz Mierau: »Mein russisches Jahrhundert«, Edition Nautilus, 320 Seiten, 19.90 €
Erschienen in Ossietzky 13/2002 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |