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Daneben liegt ein Truppenausweis aus dem Nachlaß meines Vaters: »Dr. Ernst Kittner; Dienstgrad: Stabsarzt; Waffengattung: Heer; Soldbuchnummer: 82.« Ausgestellt ist das Papier im Oktober 1945. Ja, im Oktober fünfundvierzig. Im Januar 1945 hatte meine Mutter mit uns Kindern von Schlesien »fortgemacht«, und nach endlosen Güterzugreisen über Prag, Österreich, Bayern und einem längeren Aufenthalt im berüchtigten hannoverschen Bahnhofsbunker waren wir Rucksackgesindel schließlich als mehr oder minder zähneknirschend geduldete Einquartierung auf einem Bauernhof in der Nähe von Bremen gelandet. Zu essen gab es nicht viel, aber wenigstens hatten wir eine Dachkammer mit Kanonenofen, und ich Zehnjähriger durfte sogar für ein paar Monate in der Kreisstadt Syke wieder zur Schule gehen. Die dort täglich neu an die Tafel geschriebene Klassenstärke pendelte, wie ich mich genau erinnere, zwischen 72 und 78. Der Klassenlehrer, Herr H., war, wie man munkelte, »frisch aus dem Kazett gekommen«. Darüber erzählte er jedoch nichts, sondern las uns – wohl in Ermangelung altersangemessener Literatur – aus Gottfried Kellers »Zürcher Novellen« vor und brachte es dabei tatsächlich fertig, daß die aus »Einheimischen« und Flüchtlingskindern bunt zusammengewürfelte Horde mucksmäuschenstill lauschte. (Der Gefreite Ruckstuhl ist seit damals für mich jedenfalls ein feststehender literarischer Begriff.) Eines morgens stellte sich uns statt seiner überraschend eine neue Klassenlehrerin vor: Herr H. komme nicht mehr. Später ließ sie nebenbei fallen, H. sei Kommunist gewesen. Wir wußten zwar nicht so recht, was wir uns unter einem Kommunisten vorzustellen hatten, aber irgendwie schwang in ihrer Stimme etwas mit, das uns gruseln ließ. Im Januar oder Februar erhielt meine Mutter über den Suchdienst des Roten Kreuzes die Mitteilung, unser Vater, von dem wir zuletzt aus Ostpreußen gehört hatten, habe sich wohlbehalten aus Prisdorf bei Kummerfeld in der Nähe von Hamburg gemeldet, und bald kam auch eine Postkarte, auf der er schrieb, leider sei es ihm unmöglich, zu uns zu kommen, wir jedoch dürften ihn gern besuchen, für Quartier und Verpflegung wäre gesorgt. Nach den damals nötigen umständlichen Reisevorbereitungen war es endlich soweit: Meine Mutter und ich besaßen Fahrkarten (hin und zurück!) nach Kummerfeld, einem Dorf an der Bahnstrecke nach Elmshorn. Dort auf dem tiefverschneiten Bahnsteig erwartete uns Vater – zu meiner Überraschung in voller Wehrmachtsuniform: langer Mantel, Mütze mit Kokarde, umgeschnallt die Waffe in der Pistolentasche – so, wie er während des Kriegs immer auf Urlaub gekommen war. Nur das Hakenkreuz in den Klauen des »Hoheitsadlers« war herausgepolkt. »Der Wagen wartet schon,« sagte Vater, »und bringt Euch ins Quartier.« Auf der Straße stand tatsächlich mit laufendem Motor ein ziviler DKW. Der Fahrer in makellosem Feldgrau stieg aus, salutierte, öffnete dienstfertig die Türen und ließ uns einsteigen. Im Anfahren sagte Vater vom Beifahrersitz her: »Ich muß aber vorher noch schnell beim Stab vorbeischauen.« Wir hielten vor dem niedrigen Dorfgasthof. Ein Posten an der Tür, ebenfalls in Uniform, nahm Haltung an. Hier war also tatsächlich »der Stab«. Drinnen in der überheizten Gaststube stöpselten Unteroffiziere vor Klappenschränken Verbindungen. Ordonnanzen kamen, gingen, grüßten je nach Rang schneidig oder lässig. Hier herrschte Betrieb, und zwar militärischer. Weil selbst ich nun wirklich genau wußte, daß der Krieg vorbei und die deutsche Wehrmacht aufgelöst war, starrte ich ungläubig auf die drei oder vier Pistolentaschen, die samt dazugehörigen Koppeln an einem Kleiderständer hingen. »Natürlich sind nur die Offiziere bewaffnet,« klärte mich der Vater auf, »die Waffen der Mannschaften sind eingelagert.« Am Abend saßen wir dann »im Quartier«, einem Bauernhof in der Nähe, mit der Wirtsfamilie um den Abendbrottisch. Es gab Milchsuppe und Bratkartoffeln. Ich kann mich genau daran erinnern, denn die mit mir gleichaltrige Bauerntochter hatte Ziegenpeter, konnte deshalb nicht kauen, und ich durfte so zu meinem unsäglichen Glück ihre Kartoffelportion zusätzlich verdrücken. »Nun geht es wohl bald weiter, gegen die Russen?« sagte irgendwann später die Bäuerin. »Ja«, antwortete mein Vater, »mit den Engländern zusammen.« Erst viel später habe ich erfahren, daß tatsächlich noch bis spät ins Jahr 1946 hinein in der sogenannten Zone F, die sich von Flensburg bis kurz vor Hamburg erstreckte, eine strukturell völlig intakte deutsche Armee stand, Gewehr bei Fuß, bzw. Waffen »eingelagert«. Infolgedessen ist der Truppenausweis meines Vaters vom October 1945, der volle Bewegungsfreiheit im Bereich des 8. CORPS DISTRICTS der britischen Besatzungsarmee gewährte, auch vom Hauptquartier der 159.&nbps;Infantery Brigade ausgestellt und zweisprachig gehalten. Rank: CPT DOCTOR; Service: army; Personal Number: 82. Bescheinigt wird mit all dem die Zugehörigkeit zum Frozen Personnel, was auf der Rückseite in deutsch korrekt mit »Eingefrorenes Personal« übersetzt wird. So bildhaft hat man es auch später selten vernommen. Weiß der Henker, warum mir diese alte Geschichte heute wieder einfällt, während unsere tapferen Jungs streng geheim am Hindukusch kämpfen. Mein Vater ist 1996 gestorben. Als ich den Truppenausweis im Nachlaß fand, konnte noch niemand an eine deutsche Kriegsbeteiligung in Jugoslawien, geschweige denn in Afghanistan denken. – Oder gerade eben doch? Stramm rechts gerichtete Mitbürger erkennt man häufig am Gebrauch eines angeblich aus dem Jahr 1945 stammenden Churchill-Zitat: »Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.« Seit Deutschland wieder gleichberechtigt in die Gemeinschaft kriegführender Nationen aufgenommen ist, schwingt in diesen Worten regelmäßig und unüberhörbar ein triumphierender Unterton mit.
Erschienen in Ossietzky 13/2002 |
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