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Mitgehangen, mitgefangen: Gewerkschaften und linksliberale Intellektuelle im Schlepptau der SPD

von Gregor Kritidis (sopos)


Anstatt vorbereitet in die Phase nach dem 22. September zu gehen, droht nun konzeptionslose Handwerkelei. Aber darin liegt die historische Mission der SPD: ihr Klientel solange mitzuschleppen, bis für Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals und rechtsextremistischer Bewegungen keine Kraft mehr vorhanden ist.

Häufig zeigt sich schon zu Beginn des Sommers, daß eine große Ernte im Herbst nicht erwartet werden kann. Wer zu Beginn des Jahres noch auf mögliche Veränderungen spekuliert hat, darf sich jetzt enttäuscht sehen: Wie Mehltau hat sich der Wahlkampf über das Land gelegt und droht, jede vernünftige politische Auseinandersetzung im Keim zu ersticken. Das wird an der Positionierung der Gewerkschaften einerseits, an der der linksliberalen Intellektuellen andererseits deutlich.

Die Gewerkschaften haben bei den Tarifrunden in diesem Jahr mit Rücksicht auf die SPD mächtig auf die Bremse getreten. Erstmals seit Jahren gab es in den Betrieben wieder die Stimmung, reine Lohnforderungen zu stellen und diese an den eigenen Bedürfnissen zu bemessen. Die übliche Relativierung der eigenen Interessen an der "gesamtwirtschaftlichen Vernunft", wie Schröder in trauter Eintracht mit den Arbeitgeberverbänden gefordert hatte, sollte es nicht geben. Forderungen der Belegschaften, die in einzelnen Betrieben wie Porsche oder Daimler-Chrysler Bremen zweistellige Prozentzahlen erreichten, belegen dies. Selbst das Einlenken der IG-Chemie konnte einen Metallerstreik nicht verhindern.

Der IG-Metall Führung gelang es allerdings, die offizielle Forderung auf 6,5% zu drücken und mit ihrer "Flexistreik"-Strategie den Unmut ins Leere laufen zu lassen. Der niedrige Abschluß von 4% (bei zwei Nullmonaten und 120 € im Mai - je nach Rechnung sind das insgesamt real nur 3,5 bis 3,9%) für dieses und 3,1% im nächsten Jahr hat vor allem deutlich gemacht, daß die IG-Metall nach zwischenzeitlich deutlicher Kritik an der Bundesregierung auf eine Burgfriedenspolitik zurückgeschwenkt ist. Der scheidende DGB-Chef Dieter Schulte formulierte diese Haltung für die Gesamtheit der Gewerkschaften, als er sagte, ihm sei ein Zipfel der Macht lieber als Gewerkschaftsforderungen auf Büttenpapier zu schreiben. Anhängsel der SPD oder politische Ohnmacht - in diesen Scheinalternativen denkt der durchschnittliche Gewerkschaftsfunktionär.

Der üblicherweise gegen eine härtere Gangart vorgebrachte Einwand, man würde zwar gerne richtig streiken, doch könne man das ohne vorherige politische Reformen nicht, erweist sich wiederum als Ausflucht: Was will man denn nun von einer SPD-geführten Regierung nach dem 22. September erwarten? Doch wohl nicht die Änderung des § 146 SGB III, dem früheren § 116, der bei kalter Aussperrung im Falle eines Arbeitskampfes den Ausgesperrten das Kurzarbeitergeld verweigert? Haben sich die Gewerkschaften etwa in den letzten vier Jahren ernsthaft bemüht, diesen Anti-Streik-Paragraphen zu beseitigen? Indem die Gewerkschaften jetzt wieder Schröder unterstützen, vermeiden sie zwar jegliches Risiko, das eine offensive Frontstellung gegen Rot-Grün mit sich bringen würde, aber ein Durchwursteln wie bisher ist erst recht riskant, wie die Debatte um die Inflation zeigt: Die Preissteigerungen der letzten zwei Jahre hätten mit einer expansiven Lohnpolitik ausgeglichen werden müssen; stattdessen ließ man sich die unisono in der bürgerlichen Presse verbreitete Behauptung, es gebe keine Preissteigerungen, widerspruchslos gefallen. Alles Einbildung, lautete die Botschaft, und die Hannoversche Allgemeine erdreistete sich sogar, den Ausdruck "gefühlte Inflation" zu verwenden. Resultat: der Unmut über die Abschlüsse wendet sich gegen die Gewerkschaften, die ihre Mitgliedsbücher jetzt von der Straße sammeln können. Der Spruch "Lieber ohne Glied im Puff als Mitglied in der IG-Metall" bringt die Frustration der Gewerkschaftsbasis auf volkstümliche Weise auf den Punkt. Andererseits wird das Thema "Teuro" nun von rechts ausgebeutet, zunächst von der Bild-Zeitung. Deren Populismus gegen Preistreiber und ihre "Erfolge" bei der Senkung einiger Preise bei den großen Konzernen ersetzen virtuell das, was real hätte passieren müssen: eine Verteidigung des Lebensstandards der Lohnabhängigen durch Forderungen, die den Bedürfnissen und der Stimmung insbesondere der Bezieher niedriger Einkommen entsprechen.

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie sich französische, österreichische oder italienische Zustände in Deutschland gestalten werden: Die untergründig populistisch-antisemitistische Positionierung der FDP oder das Phänomen Schill in Hamburg zeigen die Richtung an. Wie die Interessen der Lohnabhängigen unter Bedingungen eines zunehmenden Autoritarismus und Sozialdarwinismus realisiert werden sollen, kann man sich ebenfalls vorstellen - als sozialdemokratisch verbrämte Betriebsgemeinschaftspolitik. Das linksliberale, intellektuelle Spektrum hält wie die Gewerkschaften nach einer Phase kritischer Distanzierung an der Politik des kleineren Übels fest: Martin Walser am 8. Mai im Kanzleramt? - Kein Protest, von Ausnahmen wie Günter Gaus einmal abgesehen. Eine Antisemitismusdebatte, die den Namen nicht verdient, weil sie nicht auf dessen soziale und ideologische Wurzeln zu sprechen kommt? - Schweigen im Walde. Stattdessen ein peinlich-inkonsequentes Herumeiern in den linksliberalen Gazetten, warum eine Regierung Schröder doch besser sei als eine Regierung Stoiber. Es geht aber nicht darum, mit Stoiber ein größeres Übel zu verhindern, sondern die neoliberale Hegemonie aufzusprengen, deren Exponenten die beiden Kanzlerkandidaten gleichermaßen sind. Was nützt eine Neuauflage der rot-grünen Regierungskoalition, wenn von dieser die Faschisierung der Gesellschaft vorangetrieben wird, und sei es unbewußt und mit noch so lauteren Absichten? Hier zeigt sich, wie sehr in Deutschland Intellektuelle vom Format Pierre Bourdieus fehlen: Solidarität gibt es in Deutschland nur uneingeschränkt und intellektuelle "Nestbeschmutzer" fallen umso sicherer aus dem gesellschaftlichen "Anerkennungszusammenhang" heraus, weil die sozialen Voraussetzungen für eine intellektuelle Opposition (noch) fehlen.

Armes Deutschland! Aber es gibt ja noch Jürgen W. Möllemann, der mit dem untrüglichen Instinkt eines Opportunisten die Lücke zu besetzen versucht, die durch das Fehlen einer linken Position in der Öffentlichkeit entsteht. Diese Karikatur eines Oppositionellen mimt den Rebellen gegen das Establishment (zu dem er selbst gehört), der den Politikern mal die Meinung sagt und nicht einfach einknickt. Daß er dabei antisemitische und rassistische Grundstimmungen aufwühlt, entspricht der Natur eines solchen Rechtspopulismus, der schlechterdings darauf verzichten muß, reale Interessenlagen zu artikulieren. Aber die Politik der FDP hat eine reale soziale Grundlage, die durch die Inaktivität der Linken und das Herumschrödern der Linksliberalen stetig vergrößert wird. Eine autonome Gewerkschaftspolitik im Verbund mit intellektuell fundierter Kritik am herrschenden Konsens hätte diesem Treiben entgegengewirkt und eine ganz andere Debatte ausgelöst als der derzeitige "Antisemitismus- Streit". Vielleicht hätte das zum Ende der rot-grünen Koalition in Berlin beigetragen. Aber was wäre daran schlimm? Erstens kommt dieses Ende ohnehin, ein Blick in die europäischen Nachbarländer sollte selbst Skeptiker davon überzeugen. Und zweitens hätte eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung angesichts einer erstarkten und gut positionierten Gewerkschaftsbewegung weniger Spielraum gehabt, als Rot-Grün in den letzten vier Jahren.

Anstatt vorbereitet in die Phase nach dem 22. September zu gehen, droht nun konzeptionslose Handwerkelei. Aber darin liegt die historische Mission der SPD: ihr Klientel solange mitzuschleppen, bis für Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals und rechtsextremistischer Bewegungen keine Kraft mehr vorhanden ist und die bisherigen Wortführer der sozialdemokratischen Linken in Gewerkschaften und Universitäten ihren letzten moralischen Kredit bei der Bevölkerung eingebüßt haben.

Was bleibt? - Satire: Alle Hoffnungen lasten nun auf der IG-Bau. Sie wird am 17. Juni den Streik am Bau ausrufen, dem Tag, an dem 1953 ausgehend von den streikenden Bauarbeitern auf der Stalinallee die Revolte gegen die SED-Bürokratie losbrach. Eine Welle wilder Streiks korrigiert die bisherigen Tarifergebnisse und eine allgemeine Protestbewegung gegen die Sozialkürzungen und technokratischen "Reformen" zieht der Regierung Schröder den Boden unter den Füßen weg. Selbst der Aufmarsch der bayrischen Schützenvereine kann die politische Krise nicht abwenden. Möllemann rückt zum obersten Arbeiterfreund auf und entschärft mit einer Reihe arbeitnehmerfreundlicher Reformen die Situation auf Basis einer von ihm geführten Allparteienregierung. Die Gewerkschaften gehen politisch gestärkt in die Opposition, wo sie hingehören. Die nächste Runde im Klassenkampf ist damit eröffnet. Einen solchen "Ruck" könnte Deutschland durchaus gebrauchen. Aber von Wiesehügels müden Truppen ist wohl keine napoleonische Durchbruchsschlacht zu erwarten.

Dennoch: Öffentliche Kritik an Rot-Grün und Solidarität mit den kämpferischen Teilen der IG-Bau ist nun das Mindeste, was man tun kann.

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