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Eine ungeheure Propagandamaschinerie trommelte zum Krieg. Anders-denken war Verrat. Auf Verrat stand Todesstrafe. Er wurde zu Tode gefoltert. Heute, 64 Jahre später, ehren wir Carl von Ossietzky als den wahren deutschen Patrioten. Als einen Propheten der neuen Zeit. Als den Realisten, der seiner Zeit weit voraus war. Der nicht die Trommel der widerwärtigen Gegenwart, sondern die Musik der Zukunft hörte. Für viele seiner Volksgenossen, vielleicht für beinahe alle, war er ein Verräter. Aber es gibt Zeiten, in denen ein anständiger Mensch eben ein Verräter sein muß. Zeiten, in denen wahrer Patriotismus und Verrat ein und dasselbe sind. In denen die Ehre eines Volkes von den wenigen Verrätern aufrecht erhalten wird, die den unglaublichen moralischen und physischen Mut haben, Nein zu sagen, wenn alle um sie herum Ja schreien. Die für den Frieden eintreten, wenn ein ganzes Volk vom Wahnsinn des Krieges besessen ist. Die gegen Rassenwahn und nationalen Sadismus auftreten, wenn die Demagogen des Hasses mit ihren hysterischen Stimmen die Luft verseuchen. Millionen von Menschen in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt mußten ihr Leben hergeben, gefoltert, zerschossen, zerfetzt, verbrannt, vergast werden, bis die Völker Europas sich im Frieden zusammenfanden, wie Carl von Ossietzky es wollte. Die Bibel erzählt, wie der Prophet Elia König Ahab traf: "Und als Ahab Elia sah, sprach Ahab zu ihm: ›Bist du es, der Verderber Israels?‹ Er aber sprach: ›Nicht ich bin der Verderber Israels, sondern du und deines Vaters Haus dadurch, daß ihr des Herrn Gebote verlassen habt und wandelt den Götzen nach!‹" Das ist für mich Carl von Ossietzky, ein deutscher Prophet, ein Mann, der der Generation meines Vaters angehörte, der im selben Jahr ins Konzentrationslager kam, in dem mein Vater mich, als neunjährigen Jungen, aus Deutschland rettete, um in Palästina ein neues Leben zu beginnen. (...) Ich komme aus einem Land, in dem in den letzten Wochen täglich schreckliche Dinge passieren. Die Armee, in der ich selbst vor 53 Jahren als Kommando-Soldat gedient habe und schwer verwundet worden bin, hat unser Nachbarvolk angegriffen, Hunderte getötet, Tausende verwundet, überall Verheerung angerichtet. Kriegsgetöse bringt jede vernünftige Stimme zum Schweigen, Kampfbegeisterung "einigt" das Volk, Propaganda füllt unsere Medien, ein Mann der brutalen Gewalt ist am Steuer. Es ist nicht leicht für die Wenigen - leider noch zu Wenigen -, auch in dieser Lage aufrecht zu stehen, zu protestieren, die Stimme der Vernunft und des Friedens zu erheben. Aber es gibt eine wachsende Friedensbewegung in Israel, die das tut. Wir haben schon in der ersten Stunde dieser zweifelhaften so genannten "Operation Schutzschild" gegen sie protestiert. Tausende sind nach Dschenin und Ramallah marschiert, um Lebensmittel und Medizin in die belagerten palästinensischen Städte und Flüchtlingslager zu bringen. Man hat uns mit Tränengas und Gummikugeln beschossen. Aber schlimmer als Gas und Kugeln war der Haß, dem wir begegnet sind, das Geschrei unserer haßerfüllten, gehirngewaschenen Mitbürger, die uns als Verräter und Nestbeschmutzer beschimpfen und uns Todesdrohungen zuschicken. Wir halten Stand, weil wir sicher sind, daß wir die wahren Patrioten Israels sind, daß wir die Ehre unseres Volkes aufrecht erhalten, daß unsere Stimmen am Ende die Trommeln des Hasses und der nationalen Überheblichkeit besiegen werden. Es ist für viele Menschen, und besonders für Deutsche, schwer, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu verstehen. Manche stellen sich ganz auf die Seite Israels in dem Glauben, daß sie damit die Sünden der schrecklichen Vergangenheit sühnen. Andere verdammen Israel und stellen sich ganz auf die Seite der Palästinenser. Wir aber sagen: Sie brauchen nicht zwischen den beiden zu wählen, sie können für beide sein, für Israel und für Palästina, für den Frieden zwischen beiden Völkern, für die Versöhnung, für die gemeinsame Zukunft. Der Historiker Isaac Deutscher hat diesen Konflikt so zu beschreiben versucht: Ein Mensch wohnt im oberen Stockwerk eines Hauses, in dem ein Brand entsteht. Um sich zu retten, springt er aus dem Fenster und landet auf dem Kopf eines Passanten, der auf diese Weise zum Invaliden wird. Zwischen den beiden entsteht ein lebenslanger Konflikt. Wer von ihnen hat Recht? Die zionistische Bewegung ist im deutschen Kulturkreis entstanden. Der Gründer der Bewegung, der Schriftsteller und Journalist Theodor Herzl, lebte in Wien - in der Stadt, in der zum ersten Mal in Europa ein eingefleischter Antisemit zum Bürgermeister gewählt wurde. Er sah, wie am Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa nationale Bewegungen die Oberhand gewannen, in denen für Juden kein Platz mehr war. Von den Pogromen im zaristischen Rußland bis zu den Ausschreitungen der Dreyfus-Affaire in Frankreich - überall waren die Juden durch diesen modernen Antisemitismus gefährdet. Die zionistische Antwort war: Wenn für uns kein Platz in den Nationen Europas ist, dann konstituieren wir Juden uns als eine separate Nation und gründen unseren eigenen Staat, in dem wir unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Es war eine richtige Antwort, und sie hat vielen von uns - auch mir - das Leben gerettet. Die Schattenseite war, daß der Zionismus, der sich in Palästina etablierte, die Tatsache ignorierte, daß im Lande seit vielen Jahrhunderten ein anderes Volk lebte. Das einheimische, arabisch-palästinensische Volk wehrte sich, ganz natürlich, gegen die fremden Eindringlinge, wie es jedes andere Volk getan hätte. So entstand der Konflikt, der uneingeschränkt bis heute - und besonders heute - weitergeht; ein Konflikt, in den schon die fünfte Generation hineingeboren ist und der unser ganzes Leben bestimmt. Er begann mit Stöcken und Steinen. Als ich mit 15 Jahren einer terroristischen Untergrundorganisation beitrat, um gegen die britische Kolonialregierung zu kämpfen, hatten wir schon Pistolen. Heutzutage setzt unsere Armee Panzer, Kanonen, Kampfflugzeuge und Hubschrauber ein, und die Palästinenser Selbstmordbomber. Und überall im Nahen Osten warten die Massenvernichtungswaffen, biologische, chemische und atomare. So ein Konflikt erzeugt Haß, Vorurteile und Angst, hauptsächlich Angst. Jede Seite verteufelt die andere, Propaganda ersetzt die Vernunft, Mythen entstellen die Wahrheit. Jede Seite sieht nur die Greueltaten der anderen und ignoriert die eigenen, jede glaubt an ihr absolutes Recht und an das absolute Unrecht der anderen. Der erste Schritt zum Frieden ist, die Traumata, die Ängste, die Hoffnungen der anderen Seite zu verstehen. Für die Palästinenser bedeutet das, die Nachwirkungen des Holocausts auf die Seele der Israelis zu begreifen; für uns bedeutet das, die Nachwirkungen der Nakbah, d.h. der Katastrophe, der Massenvertreibung von 1948 auf die Seele der Palästinenser zu verinnerlichen. Der zweite Schritt ist, eine Vision des Friedens zu zeichnen, die die gerechten Ansprüche und Aspirationen beider Seiten berücksichtigt. Der dritte Schritt ist, die moralischen und politischen Kräfte zu entwickeln, um diesen Frieden zu verwirklichen, nicht nur in Israel und Palästina, sondern in der ganzen Welt, in Amerika, in Europa, auch in Deutschland, vielleicht besonders in Deutschland. Keiner kann und darf vergessen, was in Deutschland geschehen ist. Was in Deutschland vor 60 Jahren passiert ist, hat einen großen Einfluss auf das gehabt, was heute in unserem Lande passiert. Das darf nicht dazu führen, daß Deutsche sich jeder moralischen Kritik gegenüber Israel enthalten. Ganz im Gegenteil - das wäre genauso unmoralisch wie antisemitische Hetze. Das Gedächtnis des Holocausts darf nicht manipuliert werden, um Unrecht zu rechtfertigen. Der Holocaust ist einmalig, er darf nicht für aktuelle Politik benutzt werden. Weder die Israelis noch die Palästinenser sind Nazis. Jeder Antisemitismus ist abscheulich, ganz egal gegen welches semitische Volk er gerichtet ist - der alte anti-jüdische Antisemitismus genauso wie der neue anti-arabische, anti-islamische Antisemitismus. Seit mehr als 50 Jahren setze ich mich für eine Friedenslösung ein, die das Recht beider Seiten auf Freiheit, Selbstständigkeit und Gerechtigkeit berücksichtigt. Natürlich besteht keine Symmetrie zwischen den beiden Seiten - wir sind die Besetzer, sie sind die Besetzten, wir haben eine gewaltige Übermacht, sie haben die Hartnäckigkeit eines bedrohten Volkes. Aber so viel Blut auch fließt, so viel abscheuliche Dinge auch passieren, wie gerade jetzt in Dschenin, am Ende werden unsere beiden Völker in diesem kleinen Lande nebeneinander und zusammen leben müssen, weil jede andere Lösung zu schrecklich ist, um auch nur an sie zu denken. So dunkel auch die Gegenwart aussieht, ich glaube, daß wir heute dem Frieden näher sind als je. Auf beiden Seiten besteht eine große Mehrheit, die den Frieden will, sie glaubt aber nicht, daß der Frieden möglich ist. Die Verteufelung des Feindes, die Angst vor dem Fremden, das Unverständnis für das Recht des Anderen - sie führen dazu, daß dieser Friedenswille nicht zum Ausdruck kommt. Wir in der israelischen Friedensbewegung, und besonders in Gusch Schalom - dem Friedensblock, in dem ich wirke -, betrachten es als unsere Aufgabe, auch in den schwersten Zeiten und unter den schwersten Bedingungen dieses Ziel klar im Auge zu behalten. Wir sind engagiert, um unser Volk, das Volk Israels, zu überzeugen, daß der Frieden möglich ist, daß der Preis des Friedens viel, viel billiger ist als der Preis des Krieges, nämlich: ein freier Staat Palästina in allen besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt Israels und Palästinas, die Auflösung aller israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten und eine gerechte, praktische und vereinbarte Lösung für die Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge. Wenn das Verrat ist, dann sind wir Verräter. Wenn es Patriotismus ist, sind wir Patrioten. Jedenfalls sind wir keine Träumer. Wir sagen unserem Volk, was der Gründer des Zionismus vor 100 Jahren gesagt hat: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. * Die Laudatio auf Uri Avnery hielt auf Wunsch der Jury Eckart Spoo. Daraus einige Sätze zur Person des Preisträgers: 1933, als Ossietzky seine Tochter Rosalinde ins Exil schickte, während er selber das Martyrium auf sich nahm, verließ auch die Familie Ostermann Deutschland und wanderte nach Palästina aus, wo aus Helmut Ostermann Uri Avnery wurde. Schon bald beteiligte er sich als Jugendlicher aktiv an den Anstrengungen, den Juden dort eine feste Heimstatt, bleibenden Schutz vor Verfolgung, Raum für selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Mit knapp 15 Jahren wurde er Mitglied einer Untergrundorganisation gegen die britische Herrschaft - aus der Sicht der Briten war es selbstverständlich eine terroristische Organisation. Als 17jähriger verließ er die Gruppe, weil er sich mit ihrer araberfeindlichen Haltung nicht identifizieren wollte. Über diese Zeit sagt er, sie helfe ihm zu "verstehen, was in den Köpfen junger Palästinenser vorgeht, die sich den Fedajin-Gruppen anschließen". Beruflich war er zeitweilig als Anwaltsgehilfe tätig, der junge Ossietzky war Gerichtsschreiber gewesen. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde Avnery schwer verwundet. "Als ich im Hospital lag", schrieb er später, "kam ich zu der Überzeugung, daß Frieden unmöglich ist, solange keine Rücksicht darauf genommen wird, daß in diesem Land zwei Völker wohnen und daß jedes von beiden einen eigenen Staat braucht, in dem es leben kann." Über seine Kriegserfahrungen veröffentlichte er zwei Reportagenbände. Der erste wurde gleich ein Bestseller. Der fortsetzende zweite Band - "Die andere Seite der Münze" (Die Kehrseite der Medaille) war der Titel - wurde boykottiert, weil er darin über Grausamkeiten und über die Vertreibung von Palästinensern berichtete. Da sich ihm die große Presse verschloß, kaufte er sich vom Erlös seines ersten Buches eine kleine Zeitschrift, Diese Welt, als Wochenblatt vergleichbar Ossietzkys Weltbühne. Als die Knesset 1965 ein Gesetz verabschiedete, das sich eindeutig gegen Diese Welt richtete, gründete er eine Partei gleichen Namens, die ein Mandat gewann, sein Mandat. In Israel gilt keine Fünf-Prozent-Klausel. Später kandidierte er noch zweimal für kleine Parteien zum Parlament und nutzte die Möglichkeiten des Mandats, um in die Öffentlichkeit zu wirken, ohne Fraktionszwang, so unabhängig, so frei, wie wir uns im Deutschen Bundestag wohl kaum einen Abgeordneten vorstellen können. Heftigste Reaktionen löste er aus, als er 1982 als erster Israeli Yassir Arafat zu einem Interview aufsuchte. Er war von Arafat stark beindruckt und resümierte: "Eine Million geschriebener Worte ersetzen nicht eine Minute des persönlichen Gesprächs. Das ist für mich zum Glaubenssatz geworden. Es gibt keine Alternative zum Dialog - zum offenen, direkten Dialog von Angesicht zu Angesicht." Der israelische Generalstaatsanwalt wollte Avnery wegen des Treffens und des Interviews mit Arafat als Hochverräter vor Gericht stellen - was daran erinnert, daß Ossietzky wegen Landesverrats angeklagt und tatsächlich verurteilt wurde; das Urteil ist bis heute nicht aufgehoben. Avnery blieb straffrei. Kontext:
Erschienen in Ossietzky 10/2002 |
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