Die schuldigen Lehrer

von Matthias Biskupek

Vor vielen vielen Jahren gab es bekanntlich in dieser Gegend Deutschlands sowohl Zensur als auch Die Weltbühne. Wegen ersterer konnte man in letzterer nicht alles schreiben - doch viele versuchten es hartnäckig. Es lag damals allerlei im Argen - und bei öffentlichen Diskussionen suchte man immer mal wieder so ein bißchen nach Schuldigen. Zum Beispiel galten vielen Leuten damals die Lehrer als Schuldige: Warum sind denn unsere Kinder so lustlos? Weil die Lehrer sie nicht zu begeistern vermögen. Warum gibt es Gewalt unter Jugendlichen? Weil die Lehrer nicht gegensteuern. Warum verstehen unsere Menschen neue Kunst und Literatur nicht? Weil die Lehrer sie nicht dazu befähigt haben. Warum sind Behörden bürokratisch und denkfaul? Weil Lehrer sie weder Freundlichkeit noch Fleiß gelehrt haben.

Weil natürlich nichts am System liegen konnte, und schon gar keine Fehler von parteilichen Lenkern und Leitern begangen werden konnten, mußten es immer nur einzelne mürbe Kettenglieder dieses Systems sein - zum Beispiel hie und da Lehrer. Also schrieb ich einen geharnischten Beitrag für die damalige Weltbühne über "Die schuldigen Lehrer", die nun wirklich an allem im Staate schuld waren, weil sie doch schließlich alle im Lande gebildet und erzogen hatten. Die Lehrer waren schuld am fehlenden Baumaterial und der schlechten Produktqualität, an den zerfallenden Innenstädten und der allgemeinen Unfreundlichkeit aller Angestellten dieser Welt.

Siehst Du, lieber Leser, so machte man damals Satiren, und manches zensurgestählte Organ wie eben Die Weltbühne druckte sie sogar. Und sie wurden manchmal auch verstanden im Ländchen, nur von der damaligen Deutschen Lehrerzeitung nicht, die zornbebend meinte, hier habe doch ein Autor ganz gewaltig überzogen.

Kommen wir endlich zu unserer Zeit, in der alles demokratisch überall ausdiskutiert wird. Da sind sechzehn Menschen zielgenau abgeknallt worden in einer europäischen Gegend, wo man sonst unvorhergesehen nur durch Autounfall aus dem Leben scheiden muß. Direkt vor der Haustür unserer Gegend kommen zwar täglich Menschen durch Selbstmordattentate, militärische Säuberungen, quasi als Kollateralschäden ums Leben, da wird abgeknallt, daß der Patronenverbrauch sich wirtschaftlich recht gut rechnet - doch diese fremde Gegend ist vielleicht nicht so zivilisiert wie unsere. Drum muß man kräftig nach den Ursachen des Erfurter Schupwaffengebrauchs forschen.

Unsere Gesellschaft kennt keine Zensur, deshalb dürfte man durchaus sagen und auch schreiben, daß am System etwas faul ist. Doch der Leser möchte es gern konkret, quasi voll im Bild sehen. So kann man vorsichtig anmerken, daß in Deutschland im allgemeinen und in der DDR im besonderen vielleicht aus gu tem Grunde Waffen jahrzehntelang kaum in Privathand gelangten. Da darf man über Schützenvereine sich auch mal aufregen - aber eigentlich sind die Schützen die besten Sponsoren unserer Faschingsumzüge. Und Sponsoren sind nicht wirklich böse.

Also suchen wir nach den wahren Schuldigen. Wenn eine Schule der Ort solchen Massakers ist, kann doch auch nur dort der Grund liegen. Und wer geht am längsten zur Schule, wer bestimmt dort eigentlich? Richtig: die Lehrer. War nicht die nächstliegende Frage nach dem Massaker, die gleich in mehreren Talk-Shows gestellt wurde: Wieso wird da ein Schüler zwei Monate vor dem Abitur von der Schule verwiesen? Wer hat das veranlaßt? Wieso ist da ein Schüler überhaupt durch eine Prüfung gerasselt? Was sind das für Lehrer, die nicht merken, daß es einen großen Schießfreund und Computerschützen in ihrer Klasse gibt? Ist nicht so ein unaufmerksamer Lehrer im Grunde selbst schuld, wenn ein Schüler da mal ausrastet?

Wer hat denn unsere Rechtsradikalen erzogen? Wer hat denn unsere Schulsystemverordner in all ihrer Kleingliedrigkeit ausgebildet? Wer hat denn all den Juristen, die aus demokratischen Gründen an Führers Geburtstag marschieren lassen, das Einmaleins beigebracht? Wer hat all die Wirtschaftsbosse, Parteifunktionäre, Kanzler und Kanzlerkandidaten den mündlichen und schriftlichen Ausdruck gelehrt? Alles Lehrer. Lehrer, wohin das deutsche Auge schweift. Steht da nicht die Schuldfrage so klar, sauber und übersichtlich wie eine Schießscheibe mitten im Raum?

Erschienen in Ossietzky 10/2002