Käthe Reichel, Intifada in Erfurt

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Intifada in Erfurt

Warum nennen die Politiker samt ihrem Anhang in den Medien den Schüler, den das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt kurz vor der Abiturprüfung hinausgeworfen hatte, einen "Amokläufer"? Amok ist der Zustand, den jedes Fremdwörterbuch so beschreibt: anfallartig auftretender Affekt- und Verwirrtheitszustand mit Panikstimmung und aggressiver Mord- und Angriffslust, blindwütig rasend zerstörend und tötend. Nichts von alledem - das Töten ausgenommen - trifft auf diesen jungen Mann zu. Er hat sein Selbstmordattentat so exakt vorbereitet wie die palästinensischen Selbstmordattentäter in der gegenwärtigen Intifada. Er ist in seinen Schützenverein gegangen und, weil doppelt besser hält, auch noch in ein Ausbildungslager der deutschen Polizei. Dort hat er das genaue Zielen auf den Kopf studiert. Alle Lehrer starben an Kopfschüssen. Keinen Augenblick ballerte er "anfallartig" und in "verwirrtem Zustand" oder "blindwütig" um sich. Er zielte nicht auf Schüler, aber 13 mal auf Lehrer. So klar zu planen, so überlegt zu handeln, läßt keine Panik zu. Über die war er längst hinaus, als er ein Munitionslager in der Schule anlegte, nachdem er von ihr verwiesen worden war und erfahren hatte, daß ihm dadurch auch der Hauptschulabschluß fehlte, daß er deswegen keine Lehrstelle in Deutschland bekommen würde, daß er als ungelernter Arbeiter zum Billiglohn ins Leben treten sollte, daß man ihn zu Staub gemalmt hatte, bevor sein Leben anfing.

Intifada heißt wörtlich: "Staub von sich abschütteln - wach werden - zum Bewußtsein kommen - sich erheben - Aufstand". Als Staub ging dieser von einer Mitschülerin als klug und politisch interessiert beschriebene junge Mann an einem Freitag Ende April in die Schule, die ihn verstoßen hatte. Die Wahrheit, die seitdem mit deutschen Fahnen auf Halbmast verhangen ist, lautet: Dieser Täter ist vor allem ein Opfer. Damit gleicht er den palästinensischen Selbstmordattentätern, deren Grundmotiv Verzweiflung ist.

Verzweiflung ist die verlorene Hoffnung am Grund des Lebens. Mit globaler Gewaltbereitschaft richtet sie sich gegen die viel beschworene "Wertegemeinschaft", die sich auf den Besitz von Wertpapieren beschränkt und den Menschen entwertet.

Zu den schnellen Reaktionen gehörte die Forderung, für jede Schule einen Psychologen zu engagieren. Aber kein Psychologe kann die Kinder von der Angst befreien, keine Ausbildung zu bekommen. Er kann sie nur für das System abrichten, das nicht jedem eine Ausbildung bewilligt - abrichten für den Terror der Ökonomie, für das Zwangsgesetz der Konkurrenz, abrichten wie Tiere, die durch den brennenden Reifen springen müssen oder abstürzen.

Diese gewaltige Macht nahm er an einem Freitag im April maß. Maß sie mit dem Maßband der Ohnmächtigen.

Wir können diesen jungen Mann ein Kind des berühmten Michael Kohlhaas nennen, der wegen des Unrechts, das ihm geschah, Wittenberg in Brand setzte, um das Unrecht an Ort und Stelle mit Feuer und Schwert auszubrennen, damit es nie wieder aufflammen sollte. Dafür wurde er am 22. März 1540 in Berlin gerädert.