Zur normalen Fassung

Hat der Rechtsstaat immer Recht?

Einige Erinnerungen für uns selbst und andere aus täglich aktuellem Anlaß

von Wolf-Dieter Narr


Wenn man sich seit 1949 auf den Rechtsstaat beruft, müßte diese Berufung durchgehend ein mehr als schmückendes Beiwort hinzunehmen: grundgesetzlich demokratischer Rechtsstaat oder menschenrechtlicher Rechtsstaat.

Rechtsstaat. RECHTSSTAAT. Wenn dieses kraftvolle Wort ertönt, sind Schweigen, Sich-Verneigen und Gehorsam-Zeigen geboten. Alles ist in Ordnung. Rechtsstaat. Mehr: RECHTSSTAAT. Der große Legitimator ordentlich in Gesetze gegossener Politik. Der Rechtsstaat hat gesprochen. Rechte sind verfahrensförmig korrekt gesetzt worden. Grundgesetzgemäß heißt dies, daß sie parlamentarisch verabschiedet worden sind. Schon gesatzte Rechte sind in ordentlichen Gerichtsverfahren verbindlich ausgelegt worden. Das heißt: Sie sind im Namen des deutschen Volkes rechtskräftig. Welche Kraft. Diese wird, wenn sie nicht an sich selbst ausreicht, rasch gewaltig unterstrichen. Rechtsstaat ist nämlich nicht "nur"grundrechtekomitee Recht. Er ist auch Staat. Und das sogar primär. RechtsSTAAT. Recht ist mit dem staatlichen Gewaltmonopol auf's innigste verbunden. All das ist Recht, was ordnungsgemäß von der Legislative verabschiedet wird. Das ist die eine Seite. Die andere, notwendig damit verbundene, besteht in der Sanktion des rechtlich Verabschiedeten durch das staatliche Gewaltmonopol. Dasselbe unterliegt letztlich in Form der Strafgerichtsbarkeit, des Strafvollzugs, der Polizei und im Notstand des Militärs allen gesetzesförmigen Verlautbarungen. Recht und Sanktion durch das Gewaltmonopol des Staates sind die beiden Seiten der einen Rechtsstaatsmedaille. Das staatliche Gewaltmonopol wird rechtlich legitimiert. Seine Organisations- und Einsatzformen werden in verschiedenem Ausmaß verrechtlicht. Änderungen werden in neue Gesetze gefaßt. Die staatliche Rechtsform wird durch das staatliche Gewaltmonopol garantiert. Das ist das "do ut des", das "gib und nimm" des Rechtsstaats.

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Jüngst verabschiedete eine parlamentarische Mehrheit des deutschen Bundestages zwei üppige Bündel gesetzlicher Änderungen, genannt Antiterrorismusgesetze. Allen Bedenken gegen diese kleinen, sich insgesamt groß akkumulierenden Ermächtigungsgesetze der Institutionen des nach innen gewandten staatlichen Gewaltmonopols wurde pauschal entgegengehalten: diese seien strikt rechtsstaatlich. Der Innenminister und sein parlamentarisches Pendant, der Vorsitzende des Innenausschusses taten sich besonders hervor. Sie stampften geradezu nachhaltig mit dem rechtsstaatlichen Stiefel auf. Also dürfen die Entwarnungssirenen grundrechtlich demokratisch jubeln, auch wenn sie ansonsten nur Heultöne von sich geben. In diesen Tagen und Wochen, da ich diese erinnernden Notizen schreibe, wird, es sei denn eine Mehrheit im Bundesrat komme nicht zustande, ein Einwanderungsgesetz verabschiedet. Auch hier gibt es viele warnende Stimmen. Dieses Einwanderungsgesetz produziere Ausländerfeindlichkeit und beute, kurz- und tiefsichtig passend, ausgewählte Ausländer nur im deutsch-ökonomischen Interesse aus. Indes: die warnenden Stimmen murmeln nicht nur minderheitlich. Und was ist eine Minderheit schon angesichts der Mehrheitsherrschaft und der Veränderungsmöglichkeiten einer pluralistischen Demokratie. Morgen dürfen, wenn sie denn Mehrheit werden, die aktuellen Minderheiten. Vor allem aber spricht gegen die Einwände, daß das Einwanderungsgesetz GESETZ ist, wenn es dann bundestäglich und bundesrätlich abgesegnet ist. Dann ist es Teil des Rechtsstaats. Dann ist der Refrain angezeigt: Schweigen-Sichverneigen-Gehorchen.

Der Rechtsstaat als durchschlagendes, Debatten beendendes, Verhalten dirigierendes Argument und als eine sanktionsmächtige, abweichendes Verhalten bedrohende Tatsache wird nicht nur von den etablierten Schichten ins ansonsten konfliktoffene Feld geführt. Auch kritische Gruppen, Bürgerrechtsgruppen zumal, einschließlich des Komitees für Grundrechte und Demokratie, ziehen immer erneut den Rechtsstaat als Argument aus der Tasche. Ein bestimmtes Vorhaben, so wird beispielsweise kritisiert, sei nicht "rechtsstaatlich". Diese oder jene Maßnahme werde "rechtsstaatlichen" Standards nicht gerecht. Was ist aber dann zu machen, wenn das kritisierte Vorhaben oder die gescholtene Maßnahme nach allen Regeln der parlamentarischen, verfassungsgelegten Kunst, "strikt rechtsstaatlich" normiert worden sind? Ist dann die Kritik am Ende, wenn gar alle Rechtswege dreiinstanzlich, einschließlich eventuell des Bundesverfassungsgerichts vergebens ausgekostet worden sind? Ist dann der große Konsens angezeigt, das, was man den allenfalls von "Extremisten" in Frage gestellten GRUNDKONSENS aller Demokratinnen und Demokraten nennen könnte, nennen muß? Und wer wollte schon nicht Teil dieses rechtsstaatlich einig Volk von Brüdern und Schwestern sein. Vor allem wenn innere und äußere Erosionsgefahren drohen. Und das tun sie doch immer. Heute im Zeichen weltweiten Terrorismus-Antiterrorismus zumal. Wenn schon über politische Inhalte demokratischer Streit unvermeidlich erscheint - leider: wie man angesichts der deutschen Lust am allemal herrschenden Konsens qualifizieren möchte -, dann sollte doch über die Formen des politischen Umgangs und die eindeutigen Grenzen der Konflikte Einigkeit bestehen, so wie über die Unveräußerlichkeit der Grund- und Menschenrechte. Also RECHTSSTAAT.

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Schweigen-Sichverneigen-Gehorchen, wer möcht-könnte diese wohlüberlieferte deutsche Tugend verweigern. Und endlich ein Gehorsam dem Recht gegenüber. Also Rechtsgehorsam, gehorsam im Recht, rechtens im Gehorchen?! Wie könnte das schön sein. Deutschsein, aber "im Westen", wie von bedeutenden Historikern anerkannt, "angekommen". Wie schön lebt sich's bundesdeutsch etwa im Zeichen der rechtsstaatlichen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl - gültig seit dem 1.7.1993. Oder gleicherweise seit den strikt rechtsstaatlichen Veränderungen des Straf- und Strafprozeßrechts Mitte der 70er Jahre, die die Verteidigungsrechte einschränkten und das aufklärerische Strafrecht subjektiv beliebig dehnten. Auf beide rechtsstaatlichen Änderungen ist bekanntlich gerade antiterroristisch rechtsstaatsdienlich erneut normativ und institutionell dehnend und mehrend draufgesattelt worden.

Ein vertrackter Rest bleibt jedoch zu tragen peinlich, und wäre er rechtsstaatlich geformt, er ist menschenrechtlich demokratisch nicht "reinlich". Es ist nämlich mitnichten klar und eindeutig, was Rechtsstaat ganz genau heißt; schlimmer noch, dieser selbst ins Englische nicht mühelos übersetzbare Begriff, vereint nicht nur allzu harmonisch "Recht und Gewalt". So daß alle herrschaftskritischen Bedenken sofort "rechtsstaatlich" unterdrückt werden. Und willst du nicht mein rechtsstaatlicher Bruder sein, dann hafte ich dich freiheitssträflich ein. Diesen anarchistischen Einwand, der deutscher Tradition gemäß schon fast nach terroristischer Gewalt riecht, mag man noch leicht, zutreffender verfassungsschutzfüßig übergehen. Eine kurze genetische, also die Entstehung und Hauptgebrauchsart des Rechtsstaatsbegriffs apostrophierende und eine ergänzend funktionale, also die heutige Gebrauchsweise des Rechtsstaats bedenkende Betrachtung bringt erheblichere Schwierigkeiten. Wenn ich diese knapp und kursorisch besehe, mir und, so hoffe ich, den Lesenden über die Grade und Grenzen des politisch normativen, also legitimatorischen Gebrauchswerts "Rechtsstaat" etwas mehr Klarheit verschaffend, will ich zusammenfassend sagen, wie man diesen Begriff maßstäblich allein gebrauchen sollte. So man dabei auf Demokratie und Menschenrechte als Maßstab des Maßstabs achten will.

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(1) Rechtsstaat ist ein Ausdruck und eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, genauer: des 2. deutschen Kaiserreichs nach 1871. Die Errungenschaft besteht in einem Doppelten. Zum einen darin, daß das, was damals als Politik, noch monarchisch, fürstlich gekrönt verstanden worden ist, verfaßt wurde. Das 2. deutsche Kaiserreich erhielt eine sogar mit einem allgemeinen, geheimen und männlich gleichen Wahlrecht ausgestattete Verfassung (dem freilich die Verfassung seiner Länder nicht entsprach. Das größte Land, Preußen, erhielt ein Dreiklassenwahlrecht). Die andere, davon abhängige Eigenschaft bestand in der Versicherung des Rechtsstaats. In bürgerliche Rechte, vor allem solche des Eigentums sollte unbeschadet vieler ausgesparter Bereiche des Staates (u.a. die "Besonderen Gewaltverhältnisse") nur aufgrund eines förmlich zustande gekommenen Gesetzes eingegriffen werden dürfen. Das, und allein das, meinte Rechtsstaat.

Diese Art des Rechtsstaats besaß einen großen potentiellen Gewinn. Bürger im klassenspezifischen Sinne, aber auch substantiell systematisch diskriminierte Arbeiter, zum Teil auch Frauen verschiedener Klassen besaßen so etwas wie Rechtssicherheit. Sie waren sich als Arbeiter beispielsweise einigermaßen sicher - in weiten polizeilichen Grenzen, versteht sich -, wann und wie sie staatlich diskriminiert worden sind. In Form von Gesetzen. Und diese Rechtssicherheit, bürgerlich errungen, ist nicht gering zu achten.

Die Kosten des "bismarckschen" Rechtsstaats bestanden darin, daß das liberale Bürgertum sich seinerzeit zugunsten der alle sonstigen Ziele überbordenden nationalstaatlichen Reichseinigung mit dem rechtstaatlichen Linsengericht zufrieden gegeben hat. Es verzichtete auf das politisch bürgerliche Erstgeburtsrecht: einen gültigen Katalog von Grund- und Menschenrechten samt seinen demokratischen Konsequenzen.

(2) Dieser Begriff des Rechtsstaats blieb auch in der Weimarer Republik prinzipiell unverändert - trotz dem erheblichen, demokratisch weisenden Verfassungswandel. Der inhaltlich beträchtliche, im 2. Teil der Weimarer Verfassung befindliche Grund- und Menschenrechtskatalog war bekanntlich unverbindlich. Ein qualitativer Sprung fand hier erst mit der Verkündigung des Grundgesetzes am 8.5.1949 statt. Seitdem sind gemäß Art. 1 Abs. 3 GG in Verbindung mit Abs. 19 GG (der differenzierten Rechtswegegarantie) Grund- und Menschenrechte "unmittelbar geltendes Recht".

Diese Änderung bedeutet einen Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. Rechtsstaat meint weiter: daß staatliche Eingriffe eine formell rechtliche Ermächtigung voraussetzen. Rechtsstaat meint nun aber, daß zu den Rechten die Grund- und Menschenrechte dazukommen, die alle Menschen, das gilt durchgehend für die Menschenrechte, die alle (Staats-)Bürgerinnen und Bürger mit einem ihre Person schützenden und ihre Person handlungsspezifisch ausstattenden Schutz- und Kompetenzmantel ausstatten. Damit werden alle Menschen eigenrechtlich, eigenpolitisch umfangreicher. Und dieser neue Umfang ist in allen Rechtsbereichen zu achten.

Der damit notwendige neue Rechtsstaatsbegriff wird in der Bundesrepublik jedoch vor allem von jeweils politisch Regierenden und ansonsten Privilegierten nur selten gebraucht. Wenn man sich seit 1949 auf den Rechtsstaat beruft, müßte diese Berufung durchgehend ein mehr als schmückendes Beiwort hinzunehmen: grundgesetzlich demokratischer Rechtsstaat oder menschenrechtlicher Rechtsstaat. Dann kämen aber viele derjenigen, die legitimatorisch mit ganzer rechtsstaatlicher Sohle auftreten, in arge Not. Etwa die Schilys und die Wiefelspütze und tutti quanti in Sachen "Antiterrorismusgesetze"; oder die Asylkompromißler alle seit 1993; oder die neuen Einwanderungsgesetzler mitsamt ihrer populistischen Mehrheit (wohlgemerkt bis hin zum Bundesverfassungsgericht, das etwa normativ unmöglicher, politisch opportunistisch aber möglicher Weise den Art. 16 a GG als grundgesetzkonform dekretiert hat). Würden nämlich all diese und andere Gesetze Norm für Norm und Wort für Wort in verbindlich genauem Verhältnis zum Maß der Grund- und Menschenrechte gesetzt, das nämlich erst bedeutet der in verfassungsgerichtlichen Interpretationsrang gehobene Grundsatz der "Verhältnismäßigkeit", dann würde offenbar, daß selbige nicht gegeben ist. Gleiches träfe für eine genaue und also skrupulöse "Güterabwägung" zu. Etwa zwischen dem "Gut" des Grundrechts auf politisches Asylrecht und dem "Gut" der Abschiebung, mit dessen Hilfe angebliche Gefahren für die Bundesrepublik Deutschland abgewehrt werden sollen. Mit einer solchen Generalklausel dürfte grund- und menschenrechtlich ohnehin nicht gearbeitet werden.

(3) Als die Bürger (und später die Bürgerinnen) gegen die Willkür des un- oder kaum verfaßten Obrigkeitsstaates darauf ausgingen, Rechtssicherheit zu ergattern, verlangten sie nicht nur, daß Politik in rechtliche Flaschen gegossen werde. Sie waren auch darauf aus, daß gesetzliche Normen möglichst klar und deutlich formuliert würden. Damit zuerst bürokratischer, dann gerichtlicher Willkür der Interpretation enge Spielräume gesetzt würden. Der große Jurist Feuerbach hoffte sogar übersystematisch und unhistorisch, Gesetze könnten so formuliert werden, daß man die einzelnen Fälle geradezu automatisch unter den Normen einordnen könne. Dann hätte man auf alle Kommentare und Streitigkeiten der Interpretation wie auf einen Großteil der auslegungskundigen und auslegungslüsternen Juristen verzichten können.

Gesetze waren immer auslegungsbedürftig. Von allen bürgerlichen und staatlich verfaßten Rechtsstaatsversuchen an gab es nicht nur höchst auslegungsoffene Gesetze; es gab von allem Anfang an auch Generalklauseln (Generalklauseln vor allem, die in Notfällen die nicht weiter verrechtlichte staatliche Notbremse gewaltmonopolfest ziehen lassen sollten); und es gab sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe wie "politisch" im Kontext des Grundrechts auf "politisches Asylrecht" beispielsweise oder neuerdings "Organisierte Kriminalität" oder "Werbung für eine terroristische Vereinigung" oder "gemäß dem Stand der wissenschaftlichen Entwicklung" und so weiter und so fort. Neuere Gesetze wuseln geradezu über von "unbestimmten Rechtsbegriffen". Es kommt hinzu, daß paragraphenreiche Gesetze ihrerseits einen erheblichen Spielraum interpretatorischer Slalomkunst freisetzen.

Umso wichtiger ist das immer erneute nachdrückliche Verlangen gesetzesförmiger, gerade auch sprachlicher Präzision, samt möglichst eindeutigen Angaben, wie umfänglichere Gesetze in ihren einzelnen Abschnitten zusammenzusehen sind.

Indes: diesen und anderen notwendigen Forderungen, wenn Rechtssicherheit nicht zum bloßen gesetzlichen Schein verdämmern soll, wird durch eine Fülle von Entwicklungen entgegengearbeitet. Als da sind: Zunahme der staatlichen Aufgaben; Zunahme vor allem von deren Komplexität; wachsende Bedeutung internationaler Regelungen; im bundesdeutschen Zusammenhang der sich weitenden Bedeutung der EU; wissenschaftlich technische Innovationen, die fortlaufend innoviert werden, also sich verändern. Und ähnliches mehr. In diesem Zusammenhang nehmen nicht nur komplizierte Gesetze enorm zu, die nur noch von Rechtsspezialisten, meist ihrerseits Interessenten, handhabbar sind. Vielmehr wächst die Zahl verschiedener Arten unbestimmter Rechtsbegriffe. Aus dem Recht (den Gesetzen) als eher rückwärtsgewandter Normierung im wenn-dann-Stil - wenn X passiert, dann Y, Niklas Luhmann hat dies das Konditionalprogramm genannt, auf ihm fußt der allenfalls Rechtssicherheit garantierende Rechtsstaat - wird ein Recht, das vorausgreifend Ziele in der Zukunft einfangen lassen soll. Das Luhmann-genannte Zweckprogramm. Man will etwa humangenetische Probleme rechtlich fassen, obwohl die Entwicklungen dahingehend im Fluß sind, obwohl das, wohin diese Entwicklungen gehen, nicht zureichend bekannt ist, obwohl nicht einmal das einigermaßen klar ist, was man genau, wenn dieses oder jenes möglich sein sollte, will oder wollen können sollte. Ähnliches gilt anders für die "innere Sicherheit". Man will, ohne auch nur genau zu wissen, wie diese Sicherheit zu definieren wäre, und vor allem, ohne genau zu wissen, welche Risikofaktoren heute und vor allem morgen anzunehmen sind, pauschal Sicherheit gewährleisten. Damit "feste" Sicherheitsgefühle vermittelt werden können. Da jedoch zukünftige Gefahren von heute erst geborenen oder sich so verändernden Menschen hier und anderwärts nicht klar und deutlich ermittelt werden können, schafft man mit entsprechend pauschal, sprich unbestimmt formulierten Gesetzen Behörden, die je nach Lage, also nach Opportunität mit einem breit veranlagten Set von Mitteln und mit breitem Ermessen auch lange vorausgreifend ein- und zugreifen, beobachten, Daten sammeln und überwachen können. Das heißt: Gesetze dieser Art stellen alle Rechtssicherheit, auch alle Grund- und Menschenrechtssicherheit prinzipiell und in jeder ihrer vagen, behördlich ermächtigenden Normen zur Disposition. Von Rechtsstaat kann hier nicht einmal mehr im eingeschränkten Sinne der Zeit des 2. deutschen Kaiserreiches die Rede sein. Deshalb wäre es längst an der Zeit, andere Regelungsverfahren zu finden und zu erproben, die der Sicherheit und den Grund- und Menschenrechten der Bürger in neuen Problemlagen, so sie denn durchgehend gegeben sind, eher entsprächen. Die Rasterfahndung gibt ein winziges Exempel des gerade Angedeuteten. Mit deren Hilfe wird nicht nur die bekannte Nadel im Heuhaufen gesucht. Mit einem mehr oder minder willkürlich konstruierten "Raster" wird vielmehr eine unbekannte Nadel im Heuhaufen gesucht. Entsprechend hoch sind die Fahndungsmißerfolge; entsprechend hoch sind die bürger- und menschenrechtlichen Kosten.

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Der herrschende Rechtsstaatskonsens ist also um der Bürger- und Menschenrechte willen in einer Demokratie kategorisch aufzukündigen. Und dies gerade, weil das hohe Gut bürgerlicher, allgemein menschlicher Sicherheit nicht willkürlich preisgegeben werden soll. Alles das, was sich so Rechtsstaat oder rechtsstaatlich nennt, bedarf also der wenigstens dreifachen Nagelprobe. Wie steht es mit dem Zustandekommen des Gesetzes (auch hier ist angesichts neuerlicher Eile, mit der die Exekutive Gesetze im weithin ohnmächtig atemlosen Parlament durchpaukt, erhebliche Kritik angezeigt); wie steht es mit der peinlich zu überprüfenden Grund- und Menschenrechtsqualität angeblich rechtsstaatlicher Maßnahmen; welche rechtsförmliche Qualität besitzt ein neues Gesetz, wieweit handelt es sich um die Legalisierung bürokratischer, interessengruppenbezogener Opportunitäten? Wohlan denn im Kampf um einen demokratischen, einen grund- und menschenrechtlich fundierten und allseits orientierten Rechtsstaat.


Wolf-Dieter Narr lehrte bis zum letzten Semester Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Das Komitee begreift als seine Hauptaufgaben, einerseits aktuelle Verletzungen von Menschenrechten kundzutun und sich für diejenigen einzusetzen, deren Rechte verletzt worden sind (z.B. sogenannte Demonstrationsdelikte, Justizwillkür, Diskriminierung, Berufsverbote, Ausländerfeindlichkeit, Totalverweigerung, Asyl- und Flüchtlingspolitik), andererseits aber auch Verletzungen aufzuspüren, die nicht unmittelbar zutage treten und in den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen angelegt sind (struktureller Begriff der Menschenrechte).

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