von Gisela Neunhöffer
Während des Auflösungsprozesses der Sowjetunion erklärte auch die Teilrepublik Tschetscheno-Inguschetien ihre Unabhängigkeit. 1992 trennten sich Tschetschenien und Inguschetien. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Tschetschenien ca. 1 Mio. Menschen. In den Jahren danach blieb der Rechtsstatus der Republik ungeklärt. Nach Moskauer Lesart war die Tschetschenische Republik eines der 89 Subjekte der Russischen Föderation. Real konnte Rußland die Region jedoch nicht kontrollieren. Die postsowjetische Wirtschaftskrise wie auch innertschetschenische Machtkonflikte führten dazu, daß tragfähige politische und wirtschaftliche Strukturen nicht entstanden. Die bestehende Industrie lag größtenteils brach.
1994 marschierten zum ersten Mal russische Truppen ein. Der erhoffte schnelle Durchmarsch in die Hauptstadt Grozny realisierte sich jedoch nicht. Der Krieg forderte mindestens 25.000, nach anderen Angaben bis zu 70.000 Todesopfer. In Rußland formierte sich eine kleine, aber aktive Antikriegsbewegung.
Der Krieg endete 1996 mit dem Abzug der russischen Truppen und einem Abkommen, das die Klärung des tschetschenischen Status (Unabhängigkeit, Autonomie, »normales« Föderationssubjekt) auf 2001 verschob. Seit dem Abzug der russischen Truppen zerfiel die Republik weiter. Illegale Aktivitäten waren oftmals der einzig mögliche Erwerbszweig. Der tschetschenischen Regierung unter Aslan Maskhadov gelang es nicht, eine staatliche Ordnung wiederherzustellen, geschweige denn gesellschaftliche Entwicklung zu gewährleisten.
Im September 1999 ließ die russische Regierung erneut Truppen einmarschieren. Seither halten sie die Republik besetzt, konnten die bewaffneten tschetschenischen Gruppen jedoch nie unter Kontrolle bringen. Kleinere Gefechte, Bombardierungen und sogenannte »Säuberungen« finden ständig statt. Willkür und Terror sind an der Tagesordnung, vor allem in den so genannten »Filtrationslagern«. Nach offiziellen Angaben gab es bisher über 3.000 Opfer auf Seiten von russischem Militär und Polizei, 11.000 TschetschenInnen starben. Die Angaben sind vermutlich stark untertrieben. Hunderttausende sind über die Grenze in Flüchtlingslager ausgewichen, wo eine permanente humanitäre Katastrophe herrscht. Grozny und die wirtschaftliche, politische und kulturelle Infrastruktur des Landes sind völlig zerstört. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht.
Zur Jahreswende 2001/2 nutzte das Moskauer Regime die Feierstimmung in Rußland und im Ausland, um relativ unbeachtet eine neue Offensive in der Kaukasus-Republik Tschetschenien zu starten. Damit wurde eine weitere Runde im seit zweieinhalb Jahren andauernden zweiten Tschetschenienkrieg eingeleitet. Fast täglich veröffentlicht das russische Militär seither Erfolgsmeldungen über Opfer auf Seiten der »terroristischen Kämpfer«. Real wird jedoch zwischen bewaffneten KämpferInnen und ZivilistInnen kaum unterschieden. Menschenrechtsorganisationen haben seit Beginn der neuen Offensive Hunderte von Opfern gezählt. Die russische Regierung versucht dies als »Krieg gegen den Terrorismus« zu verkaufen. Auf der anderen Seite benutzen Feldkommandeure der tschetschenischen Seite islamistische Jihad-Metaphern, um ihren Kampf zu rechtfertigen. Wie paßt dieser Krieg in die Konturen von neuer Weltordnung und in die Reihe interventionistischer »Polizei«-Kriege der letzten Jahre?
Während der erste Tschetschenienkrieg von Seiten der russischen Politik offiziell mit der Wahrung der territorialen Integrität der Russischen Föderation, der »Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung« und dem Kampf gegen die »illegitime« Führung des Präsidenten Dschochar Dudajew begründet wurde, stand der zweite Krieg seit Beginn im Zeichen des »Kampfes gegen den Terrorismus«. Den Einmarsch einer Gruppe tschetschenischer Bojewiki (Kämpfer, Rebellen) in die Nachbarrepublik Dagestan und Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Südrußland mit mehreren hundert Todesopfern nutzte der damalige Ministerpräsident und spätere Präsident Vladimir Putin, um den erneuten Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien zu begründen. Obwohl bis heute nicht geklärt ist, wer für die Anschläge verantwortlich ist und es ernstzunehmende Hinweise auf eine (Mit-)Täterschaft des russischen Geheimdienstes FSB gibt, gehen Politiker und die öffentliche Meinung davon aus, daß tschetschenische Kreise hinter den Anschlägen stecken.
TschetschenInnen werden in der russischen Presse oftmals mit Terroristen und Banditen gleichgesetzt. Diese Charakterisierung baut auf tief verwurzelten rassistischen Vorurteilen gegen KaukasierInnen im allgemeinen und TschetschenInnen im besonderen auf. Eine anhaltende Welle von staatlich organisiertem und »spontanem« Rassismus in ganz Rußland ist die Folge. So werden z.B. aus Moskau systematisch TschetschenInnen ohne Aufenthaltsgenehmigung vertrieben.
Auf der Basis seiner durch den Krieg stark gestiegenen Popularität gewann Putin die Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2000. Die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung durch einen starken, repressiven Staat ist seither eines der wenigen erkennbaren Markenzeichen des inhaltlich schwer zu verortenden Präsidenten. Gleichzeitig wurde mit der Wahl Putins der Abgang seines Vorgängers Boris Jelzin und des ihn umgebenden Machtklüngels gesichert. Neben dem Signal an andere Regionen, separatistische Bestrebungen wie in Tschetschenien zu unterlassen, sind es letztlich vor allem diese innenpolitischen Kalküle, die als Motiv für den Einmarsch identifiziert werden können, weniger strategische Interessen an Erdölpipelines oder an den Ressourcen Tschetscheniens.
In Tschetschenien gibt es relativ geringe Erdölvorkommen. Die eine wichtige Erdölpipeline über tschetschenisches Gebiet (Baku-Novorossijsk) ist inzwischen weitgehend durch eine »Umgehung« ersetzt. Das heißt nicht, daß geostrategische Erwägungen Rußlands über das kaspische Öl und seine Transportrouten, die Stabilität der Region oder die militärische und politische Vorherrschaft gar keine Rolle spielen, sondern soll lediglich deutlich machen, daß für viele Entscheidungen innerrussische Machtlogiken ein größeres Gewicht haben.
Von Beginn an hat die russische Führung den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus und Islamismus geltend gemacht, um den Krieg in Tschetschenien zu begründen und eventueller Kritik der westlichen »Partner« den Wind aus den Segeln zu nehmen. Anfangs bildete noch, eher konfrontativ zum Westen, der Kosovo-Krieg 1999 den Hintergrund, vor dem Rußland das Recht einforderte, ebenfalls selbstlegitimierte Kriege führen zu dürfen. Früh brachte die russische Regierung jedoch auch das Stichwort Islamismus ins Spiel und verwies auf angebliche Verbindungen der tschetschenischen Islamisten zu Osama bin Laden und nach Afghanistan hin.
Putin äußerte schon im September 1999: »Rußland und die USA haben einen gemeinsamen Feind - den internationalen Terrorismus«. Und: »Wir wissen, daß bin Ladens Leute vor Ort sind und das sollte unseren amerikanischen Partnern nicht gleichgültig sein.« Rußland sei damit ein Frontstaat im Kampf gegen den Terrorismus, bei dessen Bewertung man nicht zimperlich sein dürfe.
Kritik wurde vom Westen tatsächlich bestenfalls halbherzig geäußert. Das Recht Rußlands, seine territoriale Integrität zu verteidigen, wurde stets betont. Andererseits bot der Tschetschenienkrieg ein Forum für Menschenrechtsrhetorik ohne reale Konsequenzen. Ansonsten interessierte man sich im Westen eher dafür, ob unter Putin endlich profitable Investitionsbedingungen in Rußland geschaffen, ob die russischen Auslandsschulden rechtzeitig bedient werden und ob »Stabilität« herrscht.
Das änderte sich mit dem 11. September 2001. Rußland beeilte sich, ins Boot der »Allianz gegen den Terror« zu steigen und seinen Krieg erneut als Front in dieser Auseinandersetzung darzustellen. Zumindest in den ersten Monaten wurde die Kritik am russischen Terror in Tschetschenien deutlich zurück genommen. Kanzler Schröder sprach von einer »differenzierteren Bewertung«, NATO-Generalsekretär Robinson äußerte, die Allianz habe seit den Terroranschlägen vom 11. September ihre Meinung in dieser Frage geändert. Allerdings enthalten diese und ähnliche Äußerungen stets auch einen stereotypen Satz zur »Besorgnis über die Menschenrechtslage«. Auf der rhetorischen Ebene lassen sich weder das US-Außenministerium noch Joseph Fischer und andere europäische PolitikerInnen das Recht nehmen, zu definieren, was zivilisiert ist. So ganz läßt man Rußland doch nicht aus der Schmuddelecke heraus. Ein gleichberechtigter Partner, wie die russischen Medien es glauben machen wollen, ist Putin bei weitem nicht. Nicht zuletzt wird mit der folgenlosen Kritik an Rußland betont, daß der eigene Krieg in Afghanistan und anderswo angeblich humaner verläuft. Eine konkrete Konsequenz wird daraus jedoch nicht gezogen, und das neue russisch-westliche Verhältnis wird allgemein positiv eingeschätzt.
Getrübt wird es allerdings durch die Bestrebungen der USA, den »Kampf gegen den Terrorismus« zur Etablierung von Militärstützpunkten im bisher russischen Einflußgebiet zu nutzen. Letztes Beispiel dafür ist die Entsendung von US-«Beratern« nach Georgien, die bei der Bekämpfung tschetschenischer Kämpfer und dem Aufspüren von Al-Quaida-Mitgliedern im georgischen Grenzgebiet zu Tschetschenien eingesetzt werden sollen. Während Militärs und vom Großmachtstatus träumende Nationalisten in Rußland deutlichen Unmut äußern, gibt sich Putin gelassen. Seine Duldsamkeit gegenüber dieser US-amerikanischen Expansion wird jedoch immer stärker zum Stein des Anstoßes gerade bei den Gruppen, die durch die harte Tschetschenienpolitik an das Regime gebunden wurden.
Dennoch haben die russischen Kriegsherren bisher weder aus dem Aus- noch aus dem Inland ernsthafte Opposition zu befürchten, und so gehen der Terror gegen die verbliebene Bevölkerung und das Elend in den Flüchtlingslagern unvermindert weiter. Das russische Terrorregime und der teilweise offen geäußerte Vernichtungswille gegen die »Schwarzen«, so der rassistische Sammelbegriff für KaukasierInnen, sind inzwischen vielfach dokumentiert. Berichte über »Säuberungen« (Durchsuchungsaktionen, bei denen es zu schweren Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung kommt) sowie über Mord und Vergewaltigung werden regelmäßig von Menschenrechtsorganisationen veröffentlicht. Russische Militärs rechtfertigen diese »Strafmaßnahmen« mit dem Argument, nur so könnten die »Wahhabisten« eingedämmt werden.
Die Existenz einer islamisch-fundamentalistischen Strömung unter den Separatisten ist jedoch in erster Linie eine Konstruktion, die erst im Lauf der Zeit realitätsmächtig geworden ist. Der Islam baute im Kaukasus vor allem auf den Strukturen verschiedener »Sufi-Bruderschaften« auf, d.h. religiös motivierter Netzwerke über die verschiedenen Clanstrukturen hinweg. Er hatte den Alltag im Kaukasus historisch relativ schwach überformt und war eher »volkstümlich«. Die Bruderschaften waren zwar wichtige Strukturen im Widerstand gegen den russischen Kolonialismus. Diese Strömung ist jedoch weit entfernt vom »Wahhabismus« (offizielle Staatsdoktrin Saudi-Arabiens und eine Lehre, die versucht, den Islam ausschließlich aus der Überlieferung und deren Interpretation durch konservative Religionsgelehrte zu definieren). Erst in den letzten Jahren gewinnt der Wahhabismus durch die Suche nach radikalen Lösungen und durch Unterstützung anderer islamistischer Bewegungen in Tschetschenien an Boden.
Die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung Anfang der 90er war wiederum nur zum Teil über den traditionellen Islam definiert, teilweise bestand sie schlicht aus säkularen Verfechtern einer »nationalen Selbstbestimmung«, für die neben kulturell-nationalistischen Beweggründen auch die Schaffung einer eigenen nationalen Machtbasis wichtiges Motiv war. Letztere Fraktion, beispielsweise um den Präsidenten Aslan Maskhadov, ist jedoch inzwischen geschwächt und hat keine Kontrolle über die verschiedenen Milizen. Weder wird sie von der russischen Seite als Verhandlungspartner anerkannt, noch hat sie jene ideologische, finanzielle und personelle Unterstützung von außen, die islamistische Gruppen anscheinend über verschiedene Netzwerke erhalten. Die offensichtliche Perspektivlosigkeit des »nationalen Befreiungskampfes« ist eine weitere Ursache für die Ausbreitung religiöser Argumentationsfiguren innerhalb der Milizen, die sich z.B. in Bestrebungen äußern, die Scharia einzuführen. Die Bevölkerung steht dieser Form des Islam jedoch weiterhin reserviert gegenüber.
Konnten während des ersten Krieges die verschiedenen Fraktionen noch deutlich unterschieden werden, so scheinen die Fronten inzwischen unklarer. Viele Motivationen sind weniger ideologisch als durch die in den letzten Jahren entstandene Kriegsökonomie bestimmt. Diese drückt sich vor allem in der absoluten Käuflichkeit von allem aus - Geiseln, Waffen, Bewegungsfreiheit - und hat zu einer Eigendynamik geführt, die sowohl beim russischen Militär als auch bei tschetschenischen Kampfverbänden ein Interesse an der Verlängerung des Krieges entstehen läßt.
Man kann durchaus Parallelen sehen zwischen dem Afghanistankrieg und dem Tschetschenienkrieg - angefangen von Anschlägen auf die jeweiligen Zentren als Auslöser über den als islamistische Verschwörung deklarierten Feind bis zur Unmöglichkeit, bandenförmige organisierte Guerillakrieger im Bergland mit den Mitteln einer regulären Armee zu besiegen. Doch letztlich erfaßt diese Analogie den Charakter des Tschetschenienkrieges nur teilweise.
Zum einen ist er kein Krieg gegen einen souveränen Staat, sondern gegen ein Territorium, das als zum eigenen Staat gehörig betrachtet wird. Paradoxerweise kann gerade dadurch Rußland nicht den Eindruck erwecken, eine Polizeifunktion wahrzunehmen: Als ehemalige Kolonialmacht ist es historisch und aktuell viel klarer als Partei in den Tschetschenienkrieg verstrickt als beispielsweise die NATO im Kosovo. Sich selbst als externen Schiedsrichter und - wenn auch hart durchgreifenden - Friedens- und Zivilisationsbringer hinzustellen, wird zwar gelegentlich versucht, doch glaubwürdig ist es nicht. Bilder von jubelnden Kindern beim Einmarsch russischer Truppen in tschetschenische Dörfer, wie sie in den letzten Wochen aus Afghanistan übermittelt wurden, finden sich kaum. Die Legitimation des eigenen Handelns als »gerechter Krieg« bleibt deutlich erkennbare Propaganda.
Zum anderen hat Rußland weder die materiellen noch die ideologischen Ressourcen, um ein ähnliches Bild zu erzeugen wie die USA. Die Kriegsopfer mit der Aussicht auf die mögliche Teilnahme an »Wohlstand« und »Freiheit« trösten zu wollen, ist angesichts des Elends des russischen Kapitalismus eine Farce. Als »Selbstverteidigung« kann der Krieg jedoch gegenüber der russischen Bevölkerung legitimiert werden, auch wenn die Zustimmung in den letzten Monaten zurückgegangen ist.
Rußland ist auch nach dem 11. September nicht in die Runde der großen Weltpolizisten aufgenommen worden. Aber eine »kleine Großmacht« darf es wohl sein, und der wachsende und zunehmend ethnisch definierte russische Nationalismus ist der Kitt dafür. Der erste Tschetschenienkrieg wurde für die russischen Machthaber neben der Unmöglichkeit des Sieges im Guerillakrieg auch deshalb zur Niederlage, weil er durch eine kleine, aber lautstarke kritische Öffentlichkeit in den russischen Kernstädten, vor allem in Moskau, delegitimiert wurde. Im zweiten Krieg ist diese Öffentlichkeit zu weiten Teilen verstummt - aufgrund des ideologischen Erfolges der anti-tschetschenischen Stimmungen, aber auch weil kritische Medien systematisch zum Schweigen gebracht wurden. Auch die Strategien der Militärführung gegen das Aufkeimen von Protest spielen eine Rolle: so werden in Tschetschenien z.B. nicht mehr Wehrpflichtige aus den großen Städten eingesetzt, sondern überwiegend Zeitsoldaten, die vor allem in den Provinzregionen mit desolater Wirtschaftslage angeworben werden, wo die Wahrscheinlichkeit der Bildung von Protestbewegungen wie der der »Soldatenmütter« eher klein ist.
Die verstärkte Repressivität des Regimes führt zu einer »Schließung« der russischen Gesellschaft, die oppositionellen Strömungen immer weniger Raum läßt. Neben der Solidarität mit den Opfern des Tschetschenienkrieges ist die Unterstützung für diejenigen, die versuchen, diesen Raum wieder zu erweitern, eine der wenigen Handlungsmöglichkeiten für Linke im Westen.
Gisela Neunhöffer ist Mitglied der
Berliner Osteuropa-AG, der ebenso wie dem Ost-West-AK des
Bildungswerks ein großer Dank für Diskussion, Kritik
und Anregungen gebührt.
Der Aufsatz erschien zuerst in der Nr. 260 der iz3w - blätter des
informationszentrums 3. welt.
https://sopos.org/aufsaetze/3c9b80adcbb00/1.html