Für BeobachterInnen der Entwicklung in Argentinien war die Eskalation der politischen und wirtschaftlichen Krise im Dezember letzten Jahres keine große Überraschung. Die Vehemenz der Proteste gegen die staatliche Politik erstaunte indes selbst die AktivistInnen vor Ort. Voraussetzungslos waren sie aber nicht, wie Verónica Gago und Diego Stzulwark vom »Colectivo Situaciones« betonen. Denn trotz Militärdiktatur und Neoliberalismus gibt es auch in Argentinien eine lange Geschichte des sozialen Widerstandes.
Das Colectivo Situaciones in Buenos Aires ist ein Zusammenschluß von AktivistInnen mit akademischem Hintergrund, die in sozialen Bewegungen arbeiten und über sie forschen. Sie bezeichnen sich selbst als »investigadores militantes«. Das Kollektiv gibt mehrere Zeitschriften heraus (u.a. »situaciones«) und spielt in der radikalen Linken Argentiniens eine immer größere Rolle. Im Februar sprachen Bettina Köhler und Ulrich Brand in Buenos Aires mit V. Gago und D. Stzulwark.
Wie habt ihr die großen Protestaktionen vom 19. und 20. Dezember 2001 erlebt?
Diego Stzulwark: Als wir in den Zeitungen lasen, daß
die Regierung den Ausnahmezustand erklären will und das Militär
auf die Straße geht, war uns klar, daß das Repression bedeutet,
insbesondere gegen die politischen AktivistInnen. Wir dachten, es
würde sich der Militärputsch vom März 1976 wiederholen. Wir waren
unglaublich deprimiert. Auf einmal hörten wir dann, daß Kochtöpfe
geschlagen wurden. Einige Wochen vorher gab es einige schwache
Versuche dazu. Aber jetzt fingen alle an. Wir telefonierten mit
unseren Freunden und die sagten, daß das überall passierte. Wir
gingen auf die Straße und waren total überrascht: Straßensperren,
Barrikaden mit Feuer und die öffentlichen Plätze waren besetzt.
Hunderttausende von Menschen befanden sich auf der Straße. Der
Wirtschaftsminister trat zurück und die Regierung meinte, damit
würden die Proteste aufhören. Aber die Leute demonstrierten bis
vier, fünf Uhr morgens.
Am nächsten Tag ging die Repression los. Im Stadtzentrum gab es
einen wahren Bürgerkrieg. Immer mehr Menschen stießen vor, die
Polizei drängte sie sehr gewaltsam zurück. Offiziell gab es
insgesamt etwa 30 Tote.
Welche Vorgeschichte hat diese scheinbare soziale Explosion?
DS: Es erschien alles wie eine Explosion, weil bislang
90 Prozent der ArgentinierInnen - die Mittelklasse oder die
Jugendlichen, die in Buenos Aires leben - die Augen davor
verschlossen hatten, was wirklich im Land geschah. Das Bild, das
die Welt von Argentinien hat, ist jenes, das diese Leute
vermittelten. Doch schon lange vorher formierte sich der
Widerstand in einem evolutionären Prozeß. Zwei Aspekte sind dabei
zentral: zum einen die Militärdiktatur von 1976-83 und zum anderen
die Regierung Menems von 1990-98. Beides führte zu einer starken
ökonomischen, politischen und kulturellen Marginalisierung von
immer mehr Menschen.
Am 19. Dezember meldeten sich alle Fragmente der verlorenen
Kämpfe der letzten 25 Jahre wieder zu Wort. Als wir am 19. auf
die Straße gingen, sangen z.B. einige der älteren Nachbarn
anti-britische Lieder, die an den verlorenen Malvinen-Krieg zu
Beginn der 80er Jahre erinnern. Das macht in der aktuellen
Situation natürlich keinen Sinn, aber das sind Leute, die damals
Angehörige verloren und die sich seither nicht mehr politisch
geäußert haben. Andere sangen »An die Wand, an die Wand,
Politiker!« Denn eine der wichtigsten Parolen der
Demokratiebewegung gegen die Militärs hieß »An die Wand,
Militärs!« Ein wichtiger Vorläufer der aktuellen Proteste waren
natürlich auch die Kämpfe gegen die Privatisierungen, die in den
90er Jahren eine fürchterliche Niederlage erlitten. Außerdem gab
es die Mütter von der Plaza de Mayo und vieles mehr.
Es ist also sehr wichtig, zu sehen, daß in Argentinien immer
wieder etwas passierte. Seit Mitte der 90er Jahre kam es immer
wieder zu spontanen, unorganisierten Aufständen. Es revoltierten
vor allem die Ärmsten, die Ausgeschlossenen, nicht die
Industriearbeiter, die noch in den 60ern die Kämpfe
anführten. 1995/96 entstanden im Binnenland die so genannten
»Piquetes«. Das sind vor allem Straßensperrungen an strategischen
Punkten wie den Haupthandelsstraßen nach Brasilien und
Paraguay. In wenigen Wochen gab es an sehr vielen Orten Piquetes:
Die Straße wurde gesperrt, die AnwohnerInnen kamen, es wurden
Zelte aufgestellt und Essen gemacht. Dann zwangen die Piqueteros
die Politiker, zu ihnen zu kommen. Ihre konkreten Forderungen
waren Arbeit, Unterstützung für kleine Unternehmen und deren
Angestellte, Unterstützung von Frauen, Nahrung oder Freiheit für
die Gefangenen.
Wie reagierte der Staat darauf?
Verónica Gago: Von staatlicher Seite gab es in der Regel Zugeständnisse wie z.B. Beschäftigungspläne. Die Piqueteros setzten eine Dynamik in Gang: Denn als die ersten erfolgreich waren, haben die nächsten angefangen. Nach dem Regierungswechsel 1999 in der Provinz Corrientes wurde dann das erste Piquete mit Gewalt beendet, was zu den ersten beiden Toten führte.
Inwieweit ging diese Entwicklung mit Organisierungsprozessen einher?
DS: Es gab eine erste Welle, Arbeitslosengewerkschaften
zu gründen. Da diese aber nicht auf traditionelle Strategien wie
Streiks zurückgreifen konnten, entwickelten sie eigene Formen:
Straßensperren, Demonstrationen und andere direkte
Konfrontationen.
Die Piquetes, die am weitesten im Hinterland lagen, konnten am
leichtesten unterdrückt werden. Für die Mittelklasse in Buenos
Aires sind jene dort lebenden Menschen ohnehin »Halb-Indios«. Und
solange die nicht nach Buenos Aires kommen, haben sie politisch
wenig Einfluß, weil hier die wichtigen Wahlbezirke sind. Dennoch
sind die Piqueteros sehr kämpferisch. Sie werden zu einer Art
Vorbild für die großen Städte. Die Menschen sehen, daß dies eine
geeignete Kampfform ist. Solche Kämpfe nehmen seit 1995
kontinuierlich zu. Wir schätzen, daß ihre Zahl sich jedes Jahr
ungefähr verdoppelt. Die PolitikerInnen reagieren ratlos: Sie
wollen die finanziellen Ausgaben für die Anliegen der
Protestierenden erhöhen, können es aber nicht, weil sie beim IWF
weiterhin kreditwürdig sein möchten.
Anfangs waren die Piqueteros überhaupt nicht vernetzt. Sie
kannten sich nicht einmal. Das änderte sich, als 2001 ein sehr
großes Piquete in Mosconi im Nordwesten unterdrückt wurde und es
mehrere Tote gab. Da zeigten sich alle Piqueteros im Süden der
Stadt Buenos Aires solidarisch.
Was ist das Herausragende an dieser Bewegung der Piqueteros?
DS: Zum einen handelt es sich dabei um die erste
radikale Bewegung nach der Diktatur. Sie kämpft für ihre Rechte,
ohne vom Terror der Diktatur gezeichnet zu sein. Zum anderen
verkörpern die Piquetes einen Kampf für Gerechtigkeit und Würde -
in einer Zeit, in der der Staat und die traditionellen Parteien
nicht mehr die geeignete Form des Kampfes sind. Die traditionellen
marxistischen, revolutionären Ansätze, insbesondere die
Orientierung auf die Übernahme staatlicher Macht, werden zur Seite
geschoben.
Natürlich gibt es auch innerhalb der Bewegung Differenzen: Die
Moderaten glauben noch immer, daß es sich lohnt, sich innerhalb
des kapitalistischen Systems zu engagieren. Das birgt die Gefahr,
daß die Kategorie »Arbeitsloser« und »Piquetero« von der Politik
aufgesogen wird. So hat das Sozialministerium Arbeitspläne für die
Arbeitslosen und die Unis forschen über Arbeitslose. Damit könnten
alternative Ansätze jedoch unsichtbar gemacht werden.
Insgesamt könnte man die Piquetes mit dem Zapatismus in Mexiko
vergleichen. Auch die Zapatistas wollen soziale Verhältnisse
umfassend verändern. Das findet zwar lokal statt, aber sie laden
die ganze Welt ein, an diesem Suchprozeß teilzunehmen.
Viel stärker mit dem Aufstand vom 19. Dezember verbunden sind jedoch die Cacerolazos, die Kochtopfdemos. Stimmt es, daß es sich bei den Piqueteros um eine Bewegung der Unterklasse und bei den Kochtopfdemos und Asambleas (Versammlungen) um eine Bewegung der Mittelklasse handelt?
VG: So interpretieren es die Medien. Das ist aber sehr vereinfacht. Es handelt sich vielmehr um zwei Artikulationsformen einer gemeinsamen Suche, die weniger mit Klassenfragen zu tun haben, als damit, an welchen Orten sie entstehen. Die Asambleas nach dem 19. Dezember haben die langjährigen Erfahrungen der Piqueteros zur Voraussetzung.
DS: Es gibt sehr traditionalistische Piquetes, aber auch sehr neuartige. Ebenso aber auch in der Mittelklasse - es wollen eben nicht alle nur ihre Dollars retten. Spannend ist nun, wie sich die verschiedenen Zusammenhänge verbinden, die nicht nur um die unmittelbare Veränderung ihrer eigenen Situation kämpfen, sondern um eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft.
Wie hat sich der 11. September 2001 in Argentinien ausgewirkt?
VG: Eine wohl sehr verbreitete Stimmung war: Jetzt ist auf die USA das zurückgefallen, was diese seit vielen Jahren in Lateinamerika an interventionistischer und imperialistischer Politik betreiben. Ein Indikator dafür mag der bescheuerte Vergleich zwischen den Toten von Hiroshima und denen der Anschläge sein. Auf Demos wurden in einigen nationalistischen Blöcken Bilder von Bin Laden gezeigt. Bin Laden ist vielen sympathisch, weil es so absurd ist, wie die USA ihn dämonisieren. Das Zentrum des Imperialismus benötigt einen Gegner, den es dämonisieren kann. Insofern wird die Figur Bin Laden dazu benutzt, um gegen die USA zu protestieren.
DS: Jenseits der Tatsache, daß es bei vielen eine mehr
oder weniger offene Schadenfreude gab, wirft der 11. September
Fragen auf. Zum Beispiel, ob und wie der 11. September das
Verhältnis zwischen den sozialen Kämpfen und der Macht verändert.
Zu Beginn schien uns das der Fall zu sein. Die Wahrnehmung war:
Die Macht kann die Ordnung nicht mehr garantieren. Die Leute
sahen, daß es neben dem Imperialismus und dem Kapital noch andere
Mächte gibt, die agieren können. Es ging gar nicht darum, den
11. September zu bewerten, sondern lediglich um das Wissen darum,
daß Macht immer angreifbar ist.
Zum anderen stiftete der 11. September einige Verwirrung. Denn
in den Anschlägen scheinen keine neuen Werte auf. Was heißt es
denn, Bomben zu werfen? Es geht doch um die Entwicklung einer
neuen Ethik, einer neuen Gesellschaftlichkeit. Dies wird nicht mit
den Mitteln der Mächtigen erreicht.
VG: Mit den Ereignissen seit dem 19. Dezember wurde der
11. September jedoch als politischer Bezugspunkt ausgelöscht.
Direkt nach den Anschlägen in den USA gab es Befürchtungen
darüber, daß nun ganz Lateinamerika militarisiert werden könnte,
ähnlich wie mit dem »Plan Colombia«. In allen Versammlungen wurde
berichtet, daß es seit letztem Jahr Pläne gebe, in Feuerland und
Zentralargentinien Militärbasen der USA einzurichten und dafür
auch schon Land gekauft wurde. Argentinien war einst der
wichtigste Verbündete der USA in Lateinamerika.
Bis zum 19. Dezember war die öffentliche Wahrnehmung die, daß
die engen Beziehungen zu den USA Vorteile hätten. Die Mittelklasse
konnte nach Miami reisen, Argentinien bekam Unterstützung von den
USA usw. Das hat sich nun vollkommen verändert. Die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung ist heute gegen jede Art von
militärischen Plänen oder jene »Sicherheit«, wie die USA sie
versteht. Bei den sonntäglichen Zusammenkünften der Asambleas der
Stadt Buenos Aires kann man heute nichts mehr gegen Kuba oder
etwas zugunsten der USA sagen. Das deutet an, welche Stimmung
herrscht.
Das Interview erschien zuerst in der Nr. 260 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.
https://sopos.org/aufsaetze/3c9b7fb208601/1.html